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Zur Verbindung von Kanon- und Gegenwartsreflexionen Einladung zum Dialog

An den regen Feierlichkeiten rund um Immanuel Kants 300. Geburtstag und Franz Kafkas 100. Todestag lässt sich aktuell gut verfolgen, wie das Konzept Kanon funktioniert. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – über rassistische Formulierungen und Inhalte im Werk des deutschen Idealisten diskutiert und gestritten wurde, wird intensiv über das Potenzial von Kants Philosophie für die Gegenwart des Jahres 2024 sowie über den Universalismus als Denktradition reflektiert.

Mit Blick auf den um einiges jüngeren, im Bereich der deutschsprachigen Literatur zum Klassiker arrivierten Kafka zeigt sich eine Tendenz in der Rezeption seiner Texte, komische und heitere Seiten herauszustreichen, um sie den verstörenden Aspekten seiner Prosa entgegenzuhalten und – so sei gemutmaßt – populäre Leseerwartungen wie Unterhaltsamkeit oder Ermutigung zu bedienen. Der Umgang mit kanonischen Autoren (und hoffentlich bald ebenso sehr mit Autorinnen beziehungsweise Autor:innen) und Texten sagt mindestens ebenso viel über unser Selbst- und Kulturverständnis aus wie der Kanon der deutschen Philosophie oder derjenige der deutschsprachigen Literatur selbst.

Im Rahmen des Formats Mein Kafka lädt Deutschlandfunk Kultur im Jubiläumsjahr Gegenwartsautor:innen wie Katja Lange-Müller oder Jan Faktor dazu ein, ihr Verhältnis zu Kafkas Œuvre zu beschreiben. Der Name ist Programm: Das Possessivpronomen markiert die Subjektivität der Perspektive, betont einen persönlichen Bezug und insinuiert die Nahbarkeit des Klassikers, was entfernt an emotionsbasierte persönliche, unter #BookTok gebündelte Literaturempfehlungen auf der Social-Media-Plattform TikTok denken lässt.

Da die eingeladenen Schriftsteller:innen vor allem die Wirkung von Kafkas Literatur auf ihr eigenes Schreiben und Leben artikulieren, entsteht eine Art Dialog, der auch die Zuhörer:innen einbezieht, die ausgehend vom Präsentierten über ihr eigenes Kafka-Verständnis nachdenken können. Auf diese Weise gelangt neben dem materialen Kanon (in diesem Fall Kafkas literarischen Texten) auch der damit verbundene Deutungskanon, also die Deutungstradition von Kafkas (Leben und) Schreiben in den Blick.

Während Kafka fraglos zum Kanon deutschsprachiger Literatur des 20. Jahrhunderts gehört, ist die Frage der »Kanonabilität« etwa von Schriftsteller:innen, die angesichts des Jubiläums explizit auf Kafka referierende Bücher beziehungsweise Kunstwerke veröffentlichen, (noch) nicht beantwortbar. Interessanter ist in diesem Fall der Blick auf die Vielfalt der gegenwärtigen Kafka-Repliken. Das Gattungsspektrum reicht von Kinderbüchern, Graphic Novels im Bereich der Literatur bis hin zur von zwei Gegenwartsautoren produzierten TV-Serie, einem Kinofilm über Kafkas letzte Lebensphase und einem vom Goethe-Institut Tschechien mitentwickelten Videospiel. Da man mit Kafka(-Referenzen) auf der sicheren Seite, also im Zentrum sowohl des bildungsbürgerlichen und des Fach- als auch des Schulkanons steht, ziehen auch im Kontext der sogenannten Hochliteratur marginalisierte Formate die Aufmerksamkeit einer literaturaffinen Öffentlichkeit auf sich.

»Nicht nur das Kanonkonzept, sondern auch die Kanonisierungsforschung ist historisierbar.«

In der für Kafkas Werk (haupt)zuständigen Wissenschaft, der germanistischen Literaturwissenschaft, wurde in der Nachfolge der 68er-Bewegung das Konzept Kanon insbesondere hinsichtlich seiner Homogenitätsannahme kritisiert. Nicht nur das Kanonkonzept, sondern auch die Kanonisierungsforschung ist historisierbar. Simone Winko beschreibt einen Kanon als ein Korpus von Texten, das von einer Gruppe als wertvoll erachtet wird, die deshalb an der Überlieferung desselben interessiert ist.

Der Vorteil dieser praxeologisch grundierten Definition von Kanon liegt darin, dass sie sich nicht auf qualitative Kriterien wie Erstrangigkeit, Vorbildlichkeit oder Unsterblichkeit fokussiert. Sie legt das Augenmerk vielmehr auf kanonbezogene Aushandlungsprozesse und eine spezifische Form von Wertungshandlung(en). Untersuchungsgegenstand sind insbesondere Medien der Tradierung, wozu Literaturgeschichten, Literaturlexika und Werkausgaben, aber auch Leselisten oder Lehr- und Seminarpläne gehören.

Hierbei zeigt sich, dass sowohl die Produktion (Verlage, Autor:innen, Gattungen etc.) als auch die Rezeption von Literatur (unter anderem Literaturwissenschaft, Literaturkritik, Liebhaber:innenrezeption) in Kanonisierungsprozesse involviert beziehungsweise deren Trägerinstanzen sind. Es bietet sich deshalb nicht nur in literaturwissenschaftlichen Kontexten an, den Begriff Kanon in den Plural zu setzen und anhand von und mit Blick auf Spezialkanones unterschiedliche Wertungs- und Tradierungsprozesse zu beobachten.

»Die Verbindlichkeit des ›einen‹ Kanons kann infrage gestellt werden.«

Ausgehend von gruppenspezifischen Kanones kann, wie Andrea Geier in einer öffentlich zugänglichen Vorlesung über Kanon und Kanondebatten veranschaulicht hat, die Verbindlichkeit des einen Kanons infrage gestellt werden. Der bildungsbürgerliche Kanon ist aus dieser Perspektive betrachtet nur einer unter anderen, den man vergleichend und (möglichst) wertneutral untersuchen kann. Diesem kanonpluralistischen Ansatz ist auch das Projekt #breiterkanon verpflichtet, das Martina Wernli im Jahr 2020 gegründet hat (und bei dem Andrea Geier und die Verfasserin des Artikels beteiligt sind) und das »Kanondiskussionen in Literaturwissenschaft, Feuilleton und auf dem Buchmarkt« (breiterkanon.hypotheses.org) untersucht. Ein Teilprojekt bildet eine frei zugängliche Lückenliste, die das Format der klassischen Leseliste, wie man sie aus Universitäten und Schulen kennt oder kannte und wie sie zum Beispiel im Reclam Verlag in Buchform erschienen ist, aufgreift und variiert.

Signifikante Lücken im unter anderem auf Leselisten basierenden Kanon der (vorwiegend) deutschsprachigen Literatur bilden zum einen Impulse für Reflexionen über die in- und exkludierenden Funktionen von Kanon(es) und über Tradierungsstrukturen und -mechanismen. Zum anderen laden sie zur Partizipation in der Form von die Leerstellen flankierenden Literaturempfehlungen ein, die dem Netzwerk zugesandt werden können.

Geringe Sichtbarkeit von weiblicher Literatur

Anschließend an den Gründungsimpuls der Initiative #breiterkanon – die geringe(re) Sichtbarkeit von Literatur weiblicher Schreibender – seien hier zwei 2024 erschienene Publikationen genannt, die beide auf das Konzept des Kanons rekurrieren und davon ausgehend weibliches Schreiben fokussieren. Es handelt sich um das Sachbuch Einige Herren sagten etwas dazu. Die Autorinnen der Gruppe 47 von Nicole Seifert, ebenfalls Mitglied von #breiterkanon, und die von Anna Humbert und Linda Vogt herausgegebene Anthologie Unter Frauen. Geschichten vom Lesen und Verehren.

Beide Bücher stehen in der Tradition jüngerer Projekte wie der Initiative #frauenzählen, dem unter anderem von Sibylle Berg mitinitiierten Projekt Die Kanon oder die (gelöschte und wiederhergestellte) Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen auf Wikipedia, die Überlegungen von Annette Gilbert aufgreifend auch als Kanonisierungsinstanz verstanden werden kann.

Seifert setzt bei der kanonischen Gruppe 47 an und zeigt auf, dass zusätzlich zu den kanonischen Autoren und Autorinnen (Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger) weitere Schriftstellerinnen wesentlich am Erfolg dieses Netzwerkes mitgearbeitet haben und (mindestens ebenso wichtig) welche Strukturen und Mechanismen dazu beigetragen haben, dass Autorinnen wie Ruth Rehmann oder Ingrid Bachér – die ersten beiden Beispiele Seiferts – heute nicht zum Kanon der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zählen.

»Der Kanon als ein Korpus von Texten, die von einer Gruppe oder Gemeinschaft für wertvoll erachtet oder verehrt und geliebt werden.«

Der Band Unter Frauen, der die Tradition(en) weiblichen Schreibens feiert, wird auf der Verlagsseite als »kleiner Kanon von großen Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« angekündigt. Es liegt nicht nur eine affirmative Verwendung des Kanon-Begriffs vor, sondern die weiblichen Stimmen werden durch den Verzicht auf eine Markierung als weiblich als naturgemäß zum Kanon gehörend adressiert. Vom »Lesen und Verehren« von Büchern gelangt man nicht nur zu einer buchaffinen Community auf TikTok, sondern auch wieder zurück zur Definition von Kanon als ein Korpus von Texten, die von einer Gruppe oder Gemeinschaft für wertvoll erachtet oder etwas salopper formuliert: verehrt und geliebt werden. Universitäre und außeruniversitäre Perspektiven, die beide in Kanonisierungsprozesse involviert sind, liegen also näher beieinander als vermutet.

Von Kant über Kafka zu Kanonisierungsdebatten: Will man die Bedeutung des (philosophischen beziehungsweise literarischen) Wirkens von Kant und Kafka in der Gegenwart verstehen, empfiehlt sich nicht nur die (Re-)Lektüre ihrer Texte, sondern auch ein Blick auf die aktuelle Phase ihrer Kanonisierung. Auf diese Weise geraten nämlich auch die Debatten über die Rolle von Philosophie und Literatur in der Gegenwartsgesellschaft und insbesondere auch über blinde Flecke bezüglich in der Gegenwart wiederzuentdeckender mit Kant oder Kafka zeitgleich aktiver Philosoph:innen und Schriftsteller:innen in den Blick.

»Es geht um eine Sichtbarmachung von Kanonisierungsmechanismen.«

Die Beobachtung, dass seit jeher über Kanon(es) gestritten wird, sollte nicht als Aufforderung verstanden werden, Kanondebatten zu streichen oder zu meiden, sondern als Einladung zum Dialog darüber, warum diese Form der Aushandlung nicht nur für unser Verständnis von Literatur, sondern auch für unseren Gesellschaftsbegriff wichtig ist. Es geht um eine Sichtbarmachung von Kanonisierungsmechanismen, anhand derer über verwandte Wertungshandlungen und Werte in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen nachgedacht werden kann.

Reflexionen über unsere Lese- und Schreibsozialisation, aber auch über unser Selbstverständnis scheinen nicht zuletzt mit Blick auf Large Language Models wieChatGPT besonders dringlich zu sein, da aufgrund von Normierungstendenzen und Inputschleifen Kanones in diesem Kontext mutmaßlich nicht verbreitert, sondern »bereinigt« werden. Es geht in diesem Dialog folglich nicht nur um Kant, Kafka und die Widerstände gegen eine Tradition beziehungsweise Traditionen weiblichen Schreibens, sondern um unser gegenwärtiges Kultur- und Kunstverständnis.

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