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Auf den Lofoten, Norwegen © picture alliance / Westend61 | Kike Arnaiz

Rüdiger Safranskis Gedanken über Individualität Einzeln sein

Jede und jeder ist einzigartig. Jede kommt auf die Welt, ohne gefragt worden zu sein. Und jeder stirbt für sich allein. Das alles lässt sich lakonisch hinnehmen, weil es nun mal so ist. Oder als Aufgabe begreifen: Abstand halten zu den anderen, auf Zustimmung verzichten, für sich alleine stehen. Im alltäglichen Handeln wie auch im Denken.

Aus dieser Vorüberlegung hat Rüdiger Safranski mit scheinbar leichter Hand ein kurzweiliges Buch komponiert, mit 16 intellektuellen Porträts von Philosoph/innen, Schriftsteller/innen und Denker/innen, die sich dieser Aufgabe sehr unterschiedlich gestellt haben.

Individualisierung setzte Schubkräfte frei

Von Norbert Elias borgt sich Safranski die Einsicht, dass wir als Einzelne niemals der Gesellschaft einfach nur gegenüberstehen, sondern auch in ihr enthalten bleiben, wenn wir uns vermeintlich von ihr absetzen. Individualisierung selbst ist ein Prozess von gesellschaftlicher Differenzierung, der in der Renaissance erstaunliche Schubkräfte freisetzte. Maler begannen ihre Bilder zu signieren. Sie wollten sich abgrenzen von anderen Künstlern.

Luthers Suche nach einem gnädigen Gott führte ihn, schreibt Safranski, »auf den Weg der Verinnerlichung und Vereinzelung«. Bereits im Diesseits, so war er überzeugt, sei Erlösung zu finden. Aber nicht durch die Teilnahme an religiösen Ritualen, sondern nur nach existenziellem Ringen mit sich selbst und dem Leben. Was ihn nicht daran hinderte, sich auf die Seite der Herrschenden zu stellen, gegen die aufständischen Bauern, die für bessere Lebensbedingungen kämpften.

Mit Michel de Montaigne betrat dann ein Autor die Bühne, der seine Gefühle und Gedanken ohne jede programmatische Überhöhung oder literarische Fiktion der Öffentlichkeit präsentierte. Seine Essais waren in unerhörter Weise respektlos. Manche Tiere stünden an Klugheit, Liebesfähigkeit und Treue höher als Menschen, schrieb er. Und selbst auf dem höchsten Thron sitze man nur auf seinem Hintern. Sein Buch, das war ihm bewusst, war eine einzige Provokation.

Nach Rousseau, Diderot und Stendhal wendet sich Rüdiger Safranski dann Kierkegaard zu, der erstmals den Begriff des »inneren Handelns« entwickelte. Nach Kierkegaard kommt es nicht auf das »Was« an, sondern auf das »Wie«, auf die Intensität, die Leidenschaftlichkeit. In Entweder – Oder verteidigte er die Ehe als Verwirklichung einer wahrhaft ethischen Lebenseinstellung, die zur Verantwortung ruft, während er gleichzeitig vor seiner Verlobten Reißaus nahm.

Safranski beschreibt nicht nur Kierkegaards Dilemma in glänzenden Formulierungen: »Wir würden ja gern im Besitz aller Möglichkeiten bleiben. Optionen nennt man das heutzutage. Die Wirklichkeit erscheint demgegenüber als eine Verengung, denn sie reduziert die Möglichkeiten. Sie ist das, was übrigbleibt, wenn der Reichtum der Möglichkeiten durch das Nadelöhr der Entscheidung gezogen wird.«

Während im 19. Jahrhundert Fortschritt und Freiheit als neue Götter am Firmament erscheinen, zieht mit der industriellen Revolution bereits die Massenzivilisation herauf. Der Weltmarkt beginnt sein kreatives und zugleich zerstörerisches Werk. Heere von Soldaten und Arbeitern stehen bereit für nie gesehene Materialschlachten. Individualität ist da weniger gefragt.

In Henry David Thoreau findet Safranski vielleicht den Idealtyp des Einzelgängers, der sich in die Abgeschiedenheit des Waldensees zurückzog, um Muße zu haben für sich und seine Gedanken, der stundenlang Ameisen betrachtete, ohne dabei zum verschrobenen Außenseiter zu verkümmern. Thoreau gelang das seltene Kunststück, mit sich selbst verbunden zu bleiben und sich doch für seine Außenwelt zu interessieren. So weigerte er sich beispielsweise in Massachusetts Steuern zu zahlen, weil dorthin geflohene Sklaven an die Südstaaten ausgeliefert wurden. Verbrechen gegen die Menschlichkeit wollte Thoreau nicht unterstützen. Vielleicht wären solche Eigenwilligkeiten ein guter Maßstab für gelungenes Einzelgängertum.

Schieflage

Umso mehr verwundert es, dass der kluge und blendende Schriftsteller Safranski dann mit Martin Heidegger und Ernst Jünger zwei Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts als Einzelgänger vorstellt, obwohl beide sich als zeitweilige Parteigänger des Nationalsozialismus mit dem Massenwahn gemein machten.

Heidegger, der in SA-Uniform seine berühmt-berüchtigte Rektoratsrede an der Universität Freiburg hielt. Und Ernst Jünger, der in seinem Stahlgewitter die Menschenschlächtereien des Ersten Weltkriegs verherrlichte und als Freikorpsoffizier und nationalrevolutionärer Publizist zum Untergang der Weimarer Republik beitrug.

Man kann Safranski dabei zusehen, wie mühevoll es ist, Entlastungsmaterial für die beiden zusammenzutragen. Im Fall von Heidegger bemüht er den früheren Weggefährten Karl Jaspers als Kronzeugen, der Heidegger einmal eine »einzigartige Figur« genannt hatte. Dennoch lautet Safranskis Urteil abschließend: »Jaspers ist im empathischen Sinne ein Einzelner geblieben. Heidegger als Philosoph der Bewegung jedenfalls, eher nicht.«

Und Ernst Jünger? Safranski bezieht sich auf dessen Spätschrift Der Waldgang sowie auf ein Zitat von Golo Mann, der in einem Brief notiert hatte: »Ich mag ihn gern, obwohl ich weiß, dass er einmal ein großer Verbrecher war, auch jetzt von dem Hochmutsteufel nicht ganz lassen kann. In dem ›Waldgang‹ stehen doch auch ganz schöne Sachen, oder nicht?« Redlicherweise kommt Safranski auch in diesem Fall zu dem Schluss, dass bei dem späten (»milden«?) Ernst Jünger immer wieder mal der Stoßtruppführer durchbrach.

Warum also Jünger und Heidegger? Und warum nur zwei Frauen, Ricarda Huch und Hannah Arendt? Fast jeder Emigrant und jede Emigrantin wäre infrage gekommen. Lotte Goslar beispielsweise, die Kabarettistin und Tänzerin, oder die Malerin Lotte Laserstein. Nicht zu vergessen, dass mit Günther Anders und dessen Erkenntnis aus der Antiquiertheit des Menschen, wonach wir mehr herstellen können als wir uns vorstellen können, ein Denker ins Spiel käme, der anschlussfähig bleibt bis in unser digitales Jahrhundert.

Rüdiger Safranski: Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung. Hanser, München 2021, 288 S., 26 €.

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