Im progressiven Lager tobt ein Familienstreit um die Identitätspolitik. Die einen klagen, durch die übermäßige Fokussierung auf Gender und Race habe man die Klassenfrage vergessen. Wütend hallt es zurück, wer so rede, wolle doch nur, dass Frauen, queere Menschen und nicht-weiße Minderheiten aus dem öffentlichen Raum verschwinden.
In diesem Streit geht so einiges durcheinander. Das hat zunächst mit dem problematischen Begriff der Identitätspolitik zu tun, unter dem sich jeder etwas anderes vorstellt. Das Verlangen nach Anerkennung für die eigene Identität umfasst neben den emanzipatorischen Kämpfen sexueller, ethnischer oder religiöser Minderheiten eben auch das rechtsidentitäre Ringen um die Homogenisierung der Gesellschaft. Und selbst im linksidentitären Lager ist man sich uneins, ob Identitätspolitik Unterschiede unsichtbar machen oder Besonderheiten als Ideal der Diversität hervorheben soll. Als soziale Wesen organisieren Menschen über die Konstruktion ihrer Identität genauso Solidarität und Zusammenhalt wie Ausschluss und Gewalt. Wo Menschen sind, ist Identitätspolitik. Der Ruf danach, Schluss mit Identitätspolitik zu machen, geht also ins Leere.
Aber welchen Stellenwert sollten Identitätsthemen auf der progressiven Agenda haben? Treibt die Überbetonung der Identität nicht-weißer Minderheiten die weiße Arbeiterklasse in die Arme der Rechtspopulisten? Wird gar durch die Mobilisierung des zahlenmäßig größten, »weißen« Stammes eine reaktionäre Politik ermöglicht, die die Erfolge bei der Emanzipation der Minderheiten gezielt zurückdreht?
Diese Gefahren sind nicht von der Hand zu weisen, können aber nicht bedeuten, deswegen den Kampf um die Anerkennung von Minderheitenrechten hintanzustellen. Die Gleichheit aller Bürger ist Verfassungsauftrag. Exklusion und Diskriminierung aufgrund von Klasse, Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung sind aber untrennbar miteinander verwoben. Der Ruf danach, kulturelle Identitätsthemen zugunsten materieller Verteilungsfragen hintan zu stellen, ist also ebenso verfehlt.
Wer aber aus ideologischen Gründen potenzielle Verbündete verprellt oder durch autoritäre Methoden eine Phalanx an Gegnern mobilisiert, gefährdet den Erfolg der Kämpfe um Gleichstellung ausgerechnet in dem Moment, in dem breite gesellschaftliche Allianzen zur Beseitigung der strukturellen Ursachen von Exklusion und Diskriminierung zum Greifen nahe sind. Und tatsächlich haben sich im linksidentitären Lager einige Fundamentalismen eingeschlichen, die zu Konflikten innerhalb der Linken führen, und die Gegner auf der Rechten stärken.
Ohne jeden Zweifel ist der Rassismus ein Übel, das es zu bekämpfen gilt. Wie das am besten gelingen kann, hängt allerdings davon ab, wie man das Phänomen des Rassismus erklärt. Während die amerikanische Bürgerrechtsbewegung rassistische Diskriminierung als spezifische Ausdrucksform sozialer Ungleichheit verstand, versteht die heute prominente Kritische Race Theory Rassismus als systemische Machtasymmetrie zwischen Weißen und People of Color. Dementsprechend ging es der Bürgerrechtsbewegung nicht um den Systemwechsel, sondern darum, die Minderheiten genauso zu behandeln wie die Mehrheit. Im Verständnis der Critical Race Theory kann der Rassismus dagegen nur überwunden werden, wenn die Institutionen, die ihn hervorbringen, reformiert oder abgeschafft werden. Verfassungsgrundsätze wie die Rechtsstaatlichkeit, Philosophien wie der aufgeklärte Rationalismus, und Institutionen wie Justiz oder Universität, die systematisch Weiße privilegieren, müssen daher kritisch hinterfragt werden. Martin Luther King träumte von einer farbenblinden Gesellschaft. Die Critical Race Theory teilt die Gesellschaft in Weiße und People of Color. Um die antirassistische Gesellschaft zu schaffen, wollen die kritischen Antirassisten die Privilegien der Weißen (#WhitePrivilegePeople) abbauen, und People of Color sichtbarer machen.
Noch weiter geht die White-Fragility-Vordenkerin Robin DiAngelo, für die eine weiße Person immer rassistisch ist, selbst wenn sie sich als Alliierte antirassistischer Kämpfe versteht. White Privilege Persons haben ihr zufolge in der antirassistischen Minderheitenallianz keinen Platz. In Portland wurden daher die MOMs, eine Gruppe weißer Frauen, die sich bei den Black-Lives-Matter-Demonstrationen schützend zwischen die Protestierenden und die Polizei stellten, wegen ihres »inhärenten Rassismus« ausgeschlossen. Diese Logik der Abgrenzung konterkariert jedoch die Strategie der Intersektionalität, also die Verbindung aller emanzipatorischen Kämpfe, in deren Namen der Antirassismus zu handeln vorgibt.
Der libanesische Aktivist Dyab Abou Jahjah kritisiert die pauschale Unterstellung, Rassismus, Gewalt und Ausbeutung seien quintessenzielle Charakteristika des »Weißseins«. Schon das Konzept des weißen Privilegs sei verfehlt. Denn nicht diskriminiert zu werden sei kein Privileg, sondern sollte der Normalfall sein, in dessen Genuss alle Menschen kommen sollten. Wer weiße, heterosexuelle Männer pauschal als problematisch, unterdrückerisch oder bösartig zeichne, bekämpfe nicht mehr Strukturen, sondern Menschen. Mehr noch, wer seine natürlichen Verbündeten einzuschüchtern versuche, treibe sie direkt in die Arme der Rassisten und Sexisten. Die Folge sei unweigerlich die Radikalisierung der Mehrheit. Für Dyab Abou Jahjah endet der Zusammenstoß zwischen Identitätsgruppen immer in einem Nullsummenspiel.
Richtig ist, dass Menschen von bestimmten Problemen unterschiedlich betroffen sind. Weiße erleben keinen alltäglichen Rassismus, Männer werden selten sexistisch beleidigt, Heterosexuelle müssen sich nicht für ihre Lebensweise rechtfertigen. Mit Politiken, die alle Menschen gleichbehandeln, lassen sich die spezifischen Probleme von Minderheiten nicht lösen. Es ist jedoch etwas anderes, die Notwendigkeit zur Differenzierung als Ausnahme zur Regel der Gleichheit zu betonen, oder die Besonderheit zum Ideal zu erklären.
Die universalistische Tradition der Aufklärung strebt nach gleichen Rechten für alle Menschen, egal welcher Hautfarbe, Herkunft oder Bekenntnis. Auch im universalistischen Paradigma muss den strukturellen Ursachen der Ungleichheit gezielt entgegengewirkt werden. Das Ziel der Instrumente, von der positiven Diskriminierung zur Förderung gleicher Bildungschancen bis zur Quote zur besseren Repräsentierung gesellschaftlicher Vielfalt, ist jedoch die Gesellschaft der Gleichen.
Viele Linksidentitäre verstehen diesen Ruf nach Gleichheit aber als Aufruf zur Assimilierung an eine weiße, männliche, heteronormative Gesellschaftsordnung. Statt sie gleichzumachen, sollen die Minderheiten in ihrer Andersartigkeit anerkannt werden. Statt für Freiheit streiten die fundamentalistischen Linksidentitären für Diversität, statt nach Gleichheit streben sie nach Differenz.
In ihrer extremsten Form schlägt die Skepsis am »eurozentristischen Universalismus« in einen partikularistischen Kulturrelativismus um. Der »Respekt vor den Kulturen« wird dann über die universellen Menschenrechte gestellt. Ehrenmorde und Genitalverstümmelungen sollen also nicht etwa nach den Normen der Allgemeinheit, sondern nur gemessen an den Werten und Traditionen der Gruppe bewertet werden, zu der sich die Täter zugehörig fühlen. Aus Furcht, dem antimuslimischen Rassismus Vorschub zu leisten, schweigen linksidentitäre Kulturrelativisten daher oft »unangenehm auffällig« bei islamistischen Terroranschlägen. »Will die politische Linke den Kampf gegen den Islamismus also nicht länger Rassisten und halbseidenen Hobbyislamforschern überlassen«, argumentiert Kevin Kühnert, »dann muss sie sich endlich gründlich mit dieser Ideologie als ihrem wohl blindesten Fleck beschäftigen«.
Problematisch wird es, wenn das Paradigma der Differenz über den privaten Bereich der Lebensstile hinaus zum Organisationsmaßstab der politischen Kultur gestellt werden soll. So soll etwa das Recht, über gruppenspezifische Betroffenheit zu sprechen, exklusiv nur den Mitgliedern dieser Gruppe zustehen. Weil Weiße aufgrund ihrer Privilegien nicht verstehen können, was Rassismus bedeutet, sollen sie daher solidarisch schweigen, wenn sich eine Person of Color äußert (»Shut up and listen«). Männern gehe die Erfahrung ab, als Frau in dieser Gesellschaft zu leben, und sie hätten daher ihr Recht, sich in Geschlechterangelegenheiten zu äußern, verwirkt. Das Eintreten für die Meinungsfreiheit, einer der Grundpfeiler der deliberativen Demokratie, wird dann schnell als verdächtiges, weil potenziell rechtes Narrativ abgelehnt.
Um die »rassistischen, sexistischen, antisemitischen, fremdenfeindlichen, islamophoben und homophoben Strukturen der Gesellschaft« zu bekämpfen, geht ein kleines Häuflein von Extremisten noch einen Schritt weiter. Vertretern unliebsamer Meinungen soll die Salonfähigkeit verwehrt werden (deplatforming). Abweichungen von der reinen Lehre werden an den Pranger der sozialen Medien gestellt (call out and shame). Hat jemand etwas Falsches gesagt, hat diese Person damit ihre wahre Gesinnung gezeigt, und muss aus der Gesellschaft der Anständigen ausgeschlossen werden. Diese Strategie, die bürgerlichen und beruflichen Existenzen ihrer Gegner zu zerstören (canceln), wurde auch hierzulande als Cancel Culture Gegenstand kontroverser Debatten.
Nun machen ein paar Umerziehungsseminare noch keinen Gulag, Suspendierungen und Entlassungen noch keine stalinistische Säuberungswelle, Selbstbezichtungsrituale noch keine Bekenntnisversammlungen, ein paar Twitter-Trolle noch keine Roten Garden, und Bilderstürme noch keinen revolutionären Tugendterror. Dennoch sind die Wurzeln des gegenwärtigen kulturrevolutionären Furors im westlichen Maoismus nicht zu übersehen. Wie ihre historischen Vorläufer vermuten auch die Neo-Maoisten die Quellen von Rassismus und Patriarchat weniger in den wirtschaftlichen Ausbeutungsverhältnissen als in den ideologischen Staatsapparaten. Der Kampf gegen den »Muff von tausend Jahren« soll auch heute durch die politisch-moralische Aufklärung der Bevölkerung geführt werden. Damals wie heute misstrauen die Bürgerkinder der weißen Arbeiterschaft, und schlagen sich auf die Seite von Jugend, Frauen und Minderheiten. Auch die Neo-Maoisten haben ihre soziale Basis an den Universitäten; der Schulterschluss mit den Subalternen, um deren Sichtbarkeit die Akademiker kämpfen, gelingt jedoch auch heute nicht. Damals wie heute handelt es sich um den zahlenmäßig winzigen Rand einer breiten sozialen Bewegung, der durch die Schrillheit seiner Aktionen übermäßige Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Aber kann die Strategie der Cancel Culture überhaupt funktionieren? Der Soziologieprofessor und Mitbegründer der Gruppe »Kanak Attack« Vassilis Tsianos kritisiert die Theorie des Wandels der Cancel Culture als neo-protestantische Selbstdisziplinierung. »Die Organisationsfrage wird nicht gestellt, die Eigentumsverhältnisse werden nicht angetastet«, bringt Tsianos die Blindheit für die politische Ökonomie, die Exklusion und Ungleichheit erst produziert, auf den Punkt.
Zu gewinnen gibt es in diesen Kulturkämpfen wenig. Um an der Wahlurne bestehen zu können, muss es dem progressiven Lager gelingen, eine Plattform zu entwickeln, auf der sich die weiße und die bunte Arbeiterschaft gemeinsam mit der alten und der neuen Mittelklasse versammeln können. Weder die »materiell statt kulturell«-Formel der Postmarxisten, noch die »wer nicht für uns ist, ist gegen uns«-Kampfansage der Neo-Maoisten führen hier weiter. Um den Familienstreit innerhalb des progressiven Lagers zu beenden, muss eine klare Grenze gezogen werden zwischen legitimen emanzipatorischen Kämpfen für universelle Rechte und dem neo-maoistischen Tugendterror der Cancel Culture. Statt materielle Verteilung und kulturelle Anerkennung als vermeintliche Gegensätze zu postulieren, braucht es eine Formel, die die Gemeinsamkeiten der materiellen Klassenlage betont, ohne das Verlangen nach identitärer Besonderheit zu verleugnen.
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