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Ende der Merkel-Zeit

Sollte sie sich vom Hof jagen lassen oder selbst gehen? Dies nur den Zeitläufen zu überlassen, ist nicht der Stil von Angela Merkel. Spontaneität oder Panikreaktionen waren ihr stets fremd. Ihre Entscheidung, den CDU-Vorsitz abzugeben und auch nicht wieder für das Amt der Bundeskanzlerin zu kandidieren, ist für sie aus nachvollziehbaren Gründen alternativlos. Eine Vorsitzende, die als Kanzlerin mehr und mehr als Gefährdung für Direktmandate, Listenplätze und Posten in der Staatsführung empfunden wird, kann sich in der Union selbst mit Verweis auf frühere Verdienste nicht mehr lange halten. Schon immer hat sich die Union als die deutsche Mehrheitspartei verstanden, prädestiniert zur Machtverwaltung in Staat und Gesellschaft. Solange Angela Merkel dabei erfolgreich war – immerhin länger als ihr Vorgänger Helmut Kohl –, wurden in den eigenen Reihen die Männerfäuste nur in den Taschen geballt. Schluss mit der Heiligsprechung des dreifach gespaltenen Schulsystems? Egal. Keine Wehrpflicht mehr? Ja, weil sie es so wollte. Und der SPD ließ sie auch den Mindestlohn und die frühere Rente ohne Abschläge durchgehen. Schließlich dann noch die »Hochzeit für alle«, auch wenn sie letztendlich doch dagegen stimmte. Alles hat die Partei ihrer Mehrheitsbeschafferin zuliebe geschluckt und nur marginal aufgemuckt. Doch seit ihrem mutigen Einschreiten im Spätsommer 2015 unter dem Druck der Flüchtlingsströme an der deutschen Südgrenze ist alles anders geworden. Die »Mutti der Nation« hatte erstmals eine risikoreiche Entscheidung getroffen und nicht erst wochenlang sondiert, ob ihr daraus ein Schaden erwachsen könnte. »Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« So mag es der Pfarrerstochter und Vorsitzenden einer christlichen Partei in den Sinn gekommen sein. Wie konnte sie wissen, dass die christdemokratische und christsoziale Parteigemeinde das nicht solidarisch mittragen würde. Sicherlich, heute in der Nachbetrachtung sind nahezu alle Analytiker klüger als Angela Merkel es damals war. Eine Notmaßnahme taugt nicht als Dauerlösung. Dass aus der damaligen Not keine Katastrophe erwuchs, dafür sorgten Tausende spontan Helfende im Zusammenspiel mit den professionellen Hilfsorganisationen und den zuständigen Behörden. Eine Sternstunde der deutschen Geschichte wie die Paulskirchenbewegung von 1848, der Kieler Matrosenaufstand 1918, der Widerstand gegen Hitler, der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und die friedliche Revolution von 1989, die zur deutschen Einheit führte. Schändlich, dass ein Mob die Kanzlerin dafür an den Galgen wünscht. Trotz aller sonstigen Verdienste sind ihre Wähler nach 13 Jahren Merkel-Kanzlerschaft und damit auch die eigene Partei nach 18 Jahren Vorsitz erschöpft und erwarten von ihr keine neuen Großtaten mehr. Gleichwohl fühlt sich die Mehrheit der Deutschen immer noch von ihr gut regiert und international würdig repräsentiert.

Es fing alles so verheißungsvoll an. »Kohls Mädchen« hatte sich im neuen Amt als Vorsitzende rasch von ihren Förderern emanzipiert, die Widersacher und Querulanten nach und nach auf Abstellgleise geschoben.

Hätten Gerhard Schröder und Franz Müntefering im Mai 2005 nach einer Serie von Niederlagen bei Wahlen in den Bundesländern und nach der erneuten Schlappe bei der Landtagswahl in NRW nicht die Nerven verloren und hätte Gerhard Schröder am Abend der vorgezogenen Bundestagswahl im September 2005 in der Politikerrunde des Fernsehens die Contenance behalten, vielleicht wäre Angela Merkel ein Jahr später gar nicht mehr als seine Herausforderin nominiert worden oder hätte die Rechnung für die unerwartete Wahlniederlage der Union (– 3,3 %) zahlen müssen. Die arg enttäusche Herrenriege in der eigenen Partei hatte sich ja schon auf eine Abrechnung eingestellt. Mit Neoliberalismus pur sind keine Wahlen zu gewinnen. Diese Lektion von 2005 hatte Merkel verstanden.

Ihre erste große Koalition mit der SPD war wirklich noch eine. Man begegnete sich auf Augenhöhe, und das nicht nur aufgrund des nahezu ausgeglichenen Stimmengewichtes (35,2 % für die CDU/CSU gegenüber 34,2 % für die SPD). Mehr und mehr ließ sich die SPD dabei von Merkel narkotisieren. Zur SPD-Politik wurde, was als Regierungspolitik realisier- und verkaufbar schien. Dabei ist vieles liegen geblieben, blieb Stückwerk oder Spielball parteipolitischer Scharmützel. Das Regieren von SPD und Union geriet zum Jonglieren zwischen den Sozialdemokraten und den notorisch zankenden Parteischwestern CDU und CSU. Und die Linie der Kanzlerin? Sie verlief im Zickzack. Die Koalitionäre hatten sich wundgerieben zwischen dem Nötigen und Möglichen. Immerhin hatte es die Kanzlerin geschafft, sich im männerdominierten Haifischbecken der deutschen und internationalen Politik zu behaupten.

Der grundsolide Außenminister Frank-Walter Steinmeier wurde 2009 ihr neuer Herausforderer. In allen Feinschmeckerdebatten ließe sich leicht belegen, dass er auch eine wirkliche Alternative bot. Doch die Wählerschaft sah es anders (Verlusten von 1,4 % für die Union stand ein Minus von 11,2 % für die SPD gegenüber). Angela Merkel hatte mit ihrer unaufgeregten Regie die Gesellenprüfung bestanden und konnte ihrer Meisterprüfung entgegensehen. Die SPD hatte eine Quittung für Farblosigkeit in der Merkel-Koalition erhalten und übte sich nach dem ersten Wundenlecken vier Jahre lang in der Rolle als tapfere Oppositionspartei zu den schwarz-gelben Siegern. Nur Merkels Ehemann dürfte erfahren haben, was seine Frau wirklich über die Leichtgewichte an ihrer Seite dachte. »Gott habe die FDP vielleicht nur geschaffen, um uns zu prüfen.« So offenbarte sie sich ihrem Parteitag im Dezember 2012. Doch die schwarz-gelbe Amtszeit war nicht nur für sie eine Gottesprüfung. Die meisten Probleme des Landes blieben liegen, neue entstanden. Man denke nur an das Raus und wieder Rein bei der Atomenergie. Doch aus der Novizin an der Regierungsspitze war in ihrer zweiten Legislaturperiode längst eine erfahrene, uneitle Parteiführerin und Kanzlerin geworden. Der Wählerschaft gefällt so etwas. Abgestraft wurde wieder nur die Partei an ihrer Seite, diesmal die FDP.

Im Wettkampf um eine weitere Legislaturperiode konnte Angela Merkel es 2013 dabei belassen, mit »Sie kennen mich« zu werben. Ihren Herausforderer und früheren Finanzminister Peer Steinbrück wollten nur 25,7 % der Wählerschaft als Kanzler besser kennenlernen. Immerhin noch eine leichte Verbesserung um 2,7 % im Vergleich zum Abschneiden ihres früheren Außenministers 2009. Der SPD, in der neuen Koalition um einen Kopf kürzer als noch 2005, gewährte die Kanzlerin generös wieder eine Kooperation auf Augenhöhe. Unter der bewährten Dirigentin spielte die SPD gerne wieder die zweite Geige. Und das nicht so schlecht. Aber unverstanden blieb auch diesmal wieder: Ein gemeinsames Regieren mit der Merkel-Union ist keine Liebesheirat, sondern sollte besser als Vernunftehe eingegangen und geführt werden. Man trennt sich, sobald die gemeinsamen Kinder (Projekte) groß geworden sind. Bis zum neuerlichen Abzählen am Wahltag im September 2017 erschien kaum noch plausibel, warum man die international geschätzte deutsche Kanzlerin mit der mehrfachen Auszeichnung »mächtigste Frau der Welt« gegen den Ex-Bürgermeister von Würselen austauschen sollte. Viele empörten sich, weil die Amtsinhaberin nicht durch die Reifen springen wollte, die man ihr so vergeblich hinhielt. »Ein Anschlag auf die Demokratie« (Martin Schulz) war das allerdings nie. Warum sollte Angela Merkel ohne Not die Hasen in die SPD-Küche treiben? So etwas erwartet man vielleicht nur von einem wie Friedrich Merz, selbst wenn man sich nicht sicher sein kann, ob die SPD das zu nutzen wüsste.

Bis zum Jahresende 2017 ist es dann doch nichts geworden mit der vielfach herbeigesehnten Jamaika-Koalition. Angela Merkel schien davon nie sonderlich begeistert. Sie hatte einfach weiterregiert, während sich andere auf dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft in die Fernsehbilder drängten. Schließlich wollte sich die FDP offenbar nicht ein zweites Mal in einer Koalition mit der Merkel-Union und den regierungsgeilen Grünen im Nacken zu einem fünften Rad am Wagen machen lassen. Es gab für Merkel ja noch die ohnehin von ihr bevorzugte SPD. Schwer gebeutelt, denn nur noch von einem Fünftel der Wählerschaft unterstützt, war sie als letzte Koalitionsoption für die Merkel-Union übrig geblieben. Verständlich, dass die SPD damit bis heute hadert und sich mit der aktuell nicht mehr ganz so großen Koalition schwerer tut denn je. Auch in der kleinsten aller drei großen Koalitionen konnte sich die SPD von Angela Merkel pfleglich behandelt fühlen. Das vergrößerte aber offensichtlich eine ohnehin bereits stark ausgeprägte Beißhemmung. Wie ist es sonst zu erklären, dass Andrea Nahles in der denkwürdigen Beratung zum weiteren Umgang mit der Skandalnudel Hans-Georg Maaßen so peinlich versagte? Sie hätte spektakulär öffentlich anklagen können, Seehofer wolle diesen befördern statt feuern und die Kanzlerin mache dazu nur grimmige Miene zum bösen Spiel. Stattdessen ließ sie sich von beiden über den Tisch in eine Mitverantwortung ziehen. Aber trotzdem bleibt es dabei: Es steht immer noch eine Menge Sozialdemokratisches im Koalitionsvertrag. Vieles wurde auch schon auf den guten Weg gebracht. Angela Merkel muss das nicht fürchten. Selbst eindeutige SPD-Erfolge würden erfahrungsgemäß bei der anhaltend lausigen Öffentlichkeitsarbeit ihres Juniorpartners auch ihrem Konto gutgeschrieben. In ihrer Partei wird das mittlerweile aber nicht mehr goutiert, sondern eher als Makel empfunden. Nicht zuletzt deshalb erscheint ihr ein abermaliges Aussitzen eines Stimmungstiefs wohl nicht mehr geboten. Gut vorstellbar, dass sie ganz einfach keine Lust mehr hatte, in ihrer Partei wie eine Fußmatte behandelt zu werden. Dann: Chapeau! Bundeskanzlerin bleibt sie noch bis zum nächsten Wahltermin. Anders als bei vielen der zurückgetretenen oder abgewählten Politiker kann man sich nicht recht vorstellen, es könnte ihr schwerfallen, nach 18 Jahren Pflichterfüllung an der Spitze ihrer Partei ins Private zu wechseln. Vielmehr darf man vermuten, das Backen eines veritablen Apfelkuchens werde ihr künftig mehr Freude bereiten als das Rumgegockel auf CDU-Vorstandssitzungen, EU-Ratstreffen sowie G7- oder G20-Gipfeln. Was aber wird mit der CDU? Einer Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer stünden wohl die gleichen Koalitionsoptionen offen wie ihrer Vorgängerin. Aber wer – außer Christian Lindner – möchte schon Teil einer Regierung mit Friedrich Merz werden? Schon bevor Angela Merkel ihn abhalfterte – in den Vor-Lehman-Brothers-Tagen – wirkte er wie aus der Zeit gefallen. Und für die ganze Union ist die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl zu kurz, um sich alternativ die AfD schönzureden. Eine klug geführte SPD könnte das als Chance begreifen.

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