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Die Rückkehr des Materiellen und die anhaltende Notwendigkeit des Postmaterialismus Ende der Normalitätsillusion

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat den Aggregatzustand des Politischen in Deutschland und Europa radikal verändert. Mit einem Schlag sind die fundamentalen, über Jahrtausende entscheidenden Fragen wieder auf der Tagesordnung, die für Westeuropa – und speziell für die Bundesrepublik – eigentlich seit dem Wirtschaftswunder final beantwortet schienen: Ist die Ernährung der Bevölkerung gesichert? Funktioniert die nationale Energieversorgung? Ist das Überleben der systemrelevanten Industrien garantiert?

Was wir heute somit erleben, ist die brutale Rückkehr des Materiellen auf der politischen Agenda und die Infragestellung des Postmateriellen.

Der Begriff des Postmaterialismus hat verschiedene Dimensionen oder genauer: Das ominöse »Post« kann in diesem Zusammenhang höchst Unterschiedliches bedeuten. Erstens steht es – als historische Zeitform und entsprechend der klassischen Definition – für den Abschluss der Ära des Materialismus, also für die Ablösung materieller Bedürfnisse durch postmaterielle auf der Wichtigkeitsskala der Menschen. Das war die große Hoffnung der 80er Jahre, als mit der sogenannten silent revolution (Ronald Inglehart) plötzlich postmaterielle Werte wie Umweltschutz, aber auch Selbstverwirklichung einen ganz anderen Stellenwert erlangten. Und zugleich war dies die Phase, in der sich die Grünen mit der Jahrhundertfrage nach der Rettung des Planeten als erste neue Formation nach 1945 einen festen Platz im westlichen Parteienspektrum erobern konnten.

Aber, so wird man heute kritisch feststellen müssen, dies fand immer auf der Basis eines bereits vorhandenen, absolut gesicherten materiellen Sockels statt. Jetzt erleben wir hingegen das glatte Gegenteil, dass genau diese für so selbstverständlich gehaltene materielle Basis zu bröckeln beginnt. Damit tritt das Materielle, nämlich die Versorgung mit Energie oder auch mit dem Allernotwendigsten, nämlich mit Lebensmitteln, in den Mittelpunkt staatlichen Handelns. Statt auf individuelle Selbstverwirklichung kommt es primär wieder auf gesellschaftliche Selbsterhaltung an.

Das ist aber nur die eine Seite des Postmaterialismus. Man kann darunter zweitens auch eine, im engeren Sinne, stärker ökonomische Tendenz verstehen, die die letzten Jahrzehnte entscheidend geprägt hat. Demnach war nicht die materielle Produktion von Lebensmitteln oder auch von Energie das wertvollste Gut der Ökonomie, sondern in erster Linie spielten immaterielle Daten, ihre Produktion und Verwertung, die entscheidende Rolle in der Weltwirtschaft von heute. Vor diesem Hintergrund wurden die Big Five, die großen Tech-Konzerne des Silicon Valley, zu den entscheidenden Playern und wertvollsten Firmen der Welt. Mit dem Beginn des Ukraine-Krieges ist nun plötzlich wieder ein fossilistischer Oldtimer, nämlich der Ölriese Saudi Aramco, zum wertvollsten Unternehmen der Welt avanciert, während die Tech-Firmen erheblich an Wert verlieren.

Damit zeigt sich in durchaus positiver Weise, wie wichtig, ja existenziell die basalen Rohstoffe unvermindert sind – nämlich Kohle, Öl und Gas gegen die Kälte, Weizen, Mais und Gerste gegen den Hunger – und das es sowohl ökonomisch als auch ökologisch weit mehr darauf ankommt, in dieser Hinsicht wieder in stärker materiellen als bloß immateriellen Dimensionen zu denken.

Was aber folgt politisch, und durchaus auch parteipolitisch, aus dieser Diagnose eines zumindest vorläufigen »Endes des Postmaterialismus«? In gewisser Weise eröffnet die neue Lage durchaus die Option, genauer sogar die Notwendigkeit zu einem großen politischen Sprung nach vorne, speziell um uns aus unserer energetischen Abhängigkeit von Russland zu befreien.

Das Ende der Geschäftsgrundlage der Ampel

Fest steht bereits jetzt, gut ein halbes Jahr nach Beginn des Krieges: Er bedeutet verheerende Verluste für die Ukraine, mit unzähligen Toten und der völligen Zerstörung ganzer Städte, großer Teile der Infrastruktur und damit auch der Volkswirtschaft. Die Folgen eines möglicherweise lang andauernden Krieges werden massiv auch Deutschland treffen – und zwar über den von der EU zu leistenden Wiederaufbau der Ukraine hinaus. Der Internationale Währungsfonds hat jedenfalls seine Prognose für das Wachstum der Weltwirtschaft bereits deutlich gesenkt, ohne ein Ende des Krieges überhaupt absehen zu können.

Dadurch aber wird die bisherige Geschäftsgrundlage der Ampelkoalition förmlich in ihr Gegenteil verkehrt. Die Regierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz begann diese Legislaturperiode mit einem doppelten, durchaus widersprüchlichen Versprechen: erstens, dem einer dringend gebotenen ökologischen Transformation der Industriegesellschaft, und, zweitens, dem einer Fortschreibung der bisherigen Wohlstands- und Wachstumsgeschichte. »Mehr Fortschritt wagen« lautete die optimistische Botschaft des Koalitionsvertrags. Was zugleich immer auch bedeutete: Mehr Wachstum wagen. Die Devise war schlicht: Man wollte durch deutsche Ingenieurskunst in die soziale und ökologische Transformation hineinwachsen. Ohne jeden Abstrich an Wohlstand und Wachstum, aber auch ohne Belastung der besser Situierten, so das Petitum der FDP.

Doch mit dem 24. Februar ist dieser Vertrag in weiten Teilen zur Makulatur geworden. Bereits jetzt zeigen die zunehmende Inflation wie eine mögliche Stagflation infolge einer schwachen Weltwirtschaft, dass es zukünftig nicht um Wohlstandsgewinne, sondern um die gerechte Verteilung von Wohlstandseinbußen gehen dürfte.

Bisher ist diese neue Realität aber noch nicht in Gänze angekommen – weder bei der Politik noch bei der Bevölkerung. Was auch kein Wunder ist, denn seit dem Beginn der Republik sind die Erwartungen der Menschen an ihr eigenes Leben stetig gewachsen – und demzufolge auch die Erwartungen an die Politik. Es gilt die alte Devise: Es ist leichter, arm zu sein, als arm zu werden, wenn man sich erst einmal an einen sehr komfortablen Lebensstil gewöhnt hat.

Die Regierung Scholz steht daher vor einer doppelten Aufgabe: Erstens muss sie der Bevölkerung die fundamental neue außenpolitische Lage erklären, wie auch die daraus resultierenden Dilemmata. Und zweitens wird sie der Bevölkerung die innenpolitische Notwendigkeit eines nicht weiteren ökonomischen Aufstiegs, sondern eines teilweisen Abstiegs beibringen müssen.

Die Chance der SPD

Eigentlich könnte dies eine enorme Chance für die SPD sein, kommt damit doch auch die Verteilungsfrage voll zum Tragen. Die Kosten der Krise sollten dabei im Sinne eines Lastenausgleichs endlich vor allem jene tragen, die in den vergangenen Friedens- und Wohlstandsjahrzehnten starke finanzielle Polster aufgebaut haben.

Darüberhinaus wird es aber auch auf die gerechte Verteilung von Energie ankommen, also um Einsparungen etwa beim Heizen oder beim Benzinverbrauch. Wenn Deutschland nach Auffassung der Regierung schon nicht direkt aus den russischen Gasimporten aussteigen kann, dann sollten wir der russischen Kriegsmaschinerie wenigstens zu möglichst geringen Einnahmen verhelfen. Warum sollte es nicht wie in der Ölkrise der 70er Jahre heute, unter weit dramatischeren Vorzeichen, möglich sein, diverse Sonntage zu autofreien zu erklären? Oder wenigstens ein befristetes Tempolimit einzuführen?

All das wird entscheidend davon abhängen, ob sich die Regierung weiter von der FDP als ihrem kleinsten Koalitionspartner am Nasenring durch die Manege ziehen lässt – wie in der Corona-Impfdebatte, wo sich letztlich das ur-neoliberale, anti-solidarische Prinzip »Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht« durchgesetzt hat, ungeachtet der verheerenden Folgen für die Gesamtgesellschaft.

Worum es letztlich geht, ist der Normalitätsillusion ein Ende zu bereiten, dass es in absehbarer Zeit wieder materiell so aufwärts gehen wird wie in den vergangenen Jahrzehnten. Oder anders ausgedrückt: Im Gegensatz zu früher ist der Postmaterialismus heute nicht mehr eine bloße Erweiterung, auf Basis eines massiven materiellen Verbrauchs, sondern er ist eine schiere Notwendigkeit.

Doch ganz offensichtlich sind Teile der Regierung, insbesondere die FDP, der neuen historischen Lage bisher in keiner Weise gewachsen. Anstatt die existenzielle Herausforderung wirklich ins Visier zu nehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen, etwa den Abschied vom Fetisch der schwarzen Null oder die Einführung eines Tempolimits von 130, setzt die FDP ganz auf ihre Klientelpolitik und die Profilierung in der Koalition als angebliche Sachwalterin der ökonomischen Vernunft.

Auf den Kanzler kommt es an

Umso mehr wird es angesichts der fehlenden Geschlossenheit der Regierung bei der Bewältigung dieser historisch beispiellosen Krise vor allem auf den Bundeskanzler ankommen. Doch offenbar ist auch Olaf Scholz bis heute nicht ganz in der – von ihm ja durchaus ausgerufenen – neuen Zeit angekommen. Seit der Kanzler am 27. Februar im Bundestag seine »Zeitenwende« verkündete – immerhin nur drei Tage nach dem von Putin befohlenen Überfall auf die Ukraine –, hat er es versäumt, zu erklären, was darunter auch innen- und wirtschaftspolitisch konkret zu verstehen ist.

Doch die Verkündung einer Zeitenwende ist das eine, ihre tatsächliche Umsetzung etwas völlig anderes. Scholz wird es sich schwerlich ein weiteres Mal leisten können, seine Regierungsparteien, aber auch die Bevökerung mit einem – unter normalen Umständen hochumstrittenen – 100-Milliarden-»Sondervermögen« (sprich: Schulden) vor vollendete Tatsachen zu stellen und damit regelrecht zu überrumpeln. Derartige einsame Entscheidungen, wie sie Adenauer direkt nach dem Zweiten Weltkrieg und in einer hochautoritären Gesellschaft noch unwidersprochen fällen konnte, sind in der heutigen liberalen, mitspracheorientierten Teilhabegesellschaft normalerweise gar nicht durchzusetzen.

Um die Mehrheit der Bevölkerung, aber auch die eigene Koalition mitzunehmen, wird es entscheidend auf die überzeugende Kommunikation der riesigen Probleme, insbesondere der erforderlichen Zumutungen, durch den Kanzler ankommen. Bisher kann davon noch nicht die Rede sein, im Gegenteil: Die vielleicht größte Schwäche von Scholz ist bisher seine gering ausgeprägte Kommunikationswillig- und -fähigkeit. »Never complain, never explain«, lautet, angelehnt an das Leitprinzip der Queen, die Devise des Kanzlers. Will heißen: Begründe nichts, erkläre nichts – sondern lasse allein die Fakten sprechen. Doch in einer beispiellosen Krise wie der jetzigen muss es zwar keine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede sein: Es gilt aber, die Menschen auf die radikal veränderten Zeiten einzustimmen. Dafür reicht es nicht allein, Durchhalteparolen vom Unterhaken und dem »You'll Never Walk Alone« zu propagieren. Es kommt zumindest darauf an, dem Land die ökonomische wie ökologische Komplexität der Lage zu erklären und dann daraus plausibel die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Unsere vierfache materielle Abhängigkeit

Denn hier liegt ja die eigentliche Ironie der Geschichte: Wir erleben gerade in aller Brutalität unsere vierfache materielle Abhängigkeit – energetisch von Russland, handelspolitisch von China, militärisch von den Vereinigten Staaten und ökologisch vom Anthropozän, also dem Backlash der »Natur«, die als Antwort auf ihre maximale Ausbeutung seit dem Beginn der industriellen Revolution nun mit einer enormen Brutalität in Form von Hitze, Dürre und Überflutungen auch gegen die vermeintliche »Krone der Schöpfung« zurückschlägt.

Dagegen kann die bloße Fortschreibung der materiellen Fortschrittsgeschichte nicht der Weisheit letzter Schluss sein.Vielmehr bleibt die Dematerialisierung, die Reduktion des fossilistischen Verbrauchs, bleibt also der Postmaterialismus die große Aufgabe der Gegenwart. Ohne eine große Wende zum Weniger, durchaus auch geistig-moralisch im Sinne einer kulturellen Revolution, werden wir die kommenden Katastrophen, die zunehmend auch kriegerisch ausgetragen werden könnten, nicht in den Griff bekommen.

Das wiederum bedeutet auf der anderen Seite, dass die Bundesregierung in der gegenwärtigen Situation aufgrund der Abhängigkeit von russischem Erdgas gezwungen ist, auch schmerzliche Kompromisse zu schließen, um die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen, vor allem im Bereich der Energie, zu garantieren. Der Einzige, der diese enormen Dilemmata in der Kriegs- wie auch in der Klimafrage bisher hinreichend zu erklären versucht, ist Wirtschaftsminister Robert Habeck. Die Bevölkerung dankt es ihm mit steigenden Zustimmungswerten – obwohl oder vielleicht sogar weil die Grünen inzwischen sogar bereit sind, einstige heilige Kühe wie den sofortigen Atomausstieg aus pragmatischen Gründen infrage zu stellen.

Mehr Begründung tut Not

Hier zeigt sich: Ohne die öffentliche Begründung, Diskussion und Verkörperung der Regierungspolitik – und zwar über einzelne Talkshow-Auftritte hinaus – sind die historischen Herausforderungen nicht zu bewältigen. Wie hatte der Kanzler noch während der Haushaltsdebatte am 23. März gesagt? Es mache ihm Mut, dass dieses Land in der Krise über sich hinauswachse. Ein Satz, der auch ihn selbst betrifft: Nur wenn Olaf Scholz in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren selbst kommunikativ über sich hinauswächst, wird er dem Land jenen Mut zur Veränderung geben können, den es zur Lösung der gewaltigen Probleme so dringend braucht. Immerhin bot sein erster Auftritt als Bundeskanzler in der Bundespressekonferenz am Ende der Sommerferien gewisse Anzeichen dafür, dass Olaf Scholz mit einem neuen, anpackenderen und diskursiveren Stil die gewaltige Aufgabe anzugehen bereit ist.

Vermutlich ist zu keinem Zeitpunkt in der bundesrepublikanischen Geschichte mehr Führungs- und Überzeugungsfähigkeit an der Spitze des Staates erforderlich gewesen. Das gilt umso mehr, als es heute darauf ankommt, den bisherigen primär materiellen Fortschrittspfad eines bloßen »immer mehr« zu verlassen, und stattdessen auf ein »weniger, aber dafür besser« (und ökologischer) umzustellen.

Hier im Geiste eines Erhard Eppler die Programmatik der SPD postmaterialistisch zu erweitern, ohne die jetzt wieder zentrale Gerechtigkeitsfrage zu vernachlässigen: Das könnte die entscheidende Voraussetzung dafür sein, aus den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts tatsächlich das von Olaf Scholz angekündigte sozialdemokratische Jahrzehnt zu machen. Gelingt der SPD dies nicht, dürften andere weiter aufsteigen – entweder die Grünen oder ein neuer schwarz-brauner Populismus, wie er sich gerade in Italien abzeichnet, der aber genau das brutale Gegenteil eines neuen Postmaterialismus und der erforderlichen Wende zum Weniger bedeuten würde.

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