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Was uns Albert Camus gerade in Zeiten der Pandemie zu sagen hat Engagement im Horizont des Absurden

Die anhaltende Coronakrise mit ihren Hygienevorschriften, mit Quarantäne, Lockdown und Shutdown, mit den täglichen Meldungen über die Zahl der Ansteckungen und der Toten und den Bulletins von Politikern, Virologen und Epidemiologen hat auch einen schon weitgehend vergessenen, 1947 zuerst erschienenen Roman von Albert Camus wieder ins Gedächtnis gerufen: Die Pest. In diesem Buch lässt Camus den Arzt Bernard Rieux, der in der heimgesuchten Stadt einen einsamen Kampf gegen die Seuche führt, sagen: »Ich glaube, ich habe keinen Sinn für Heldentum und Heiligkeit. Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein.« Es ist dies so etwas wie das Lebensmotto des Autors, der sein soziales und politisches Engagement nach dem Zusammenbruch der großen sinnstiftenden Erzählungen allein aus seiner existenziellen Erfahrung zu begründen sucht. Ein Mensch zu sein, bedeutet für ihn zugleich, sich der unauflöslichen Schicksalsgemeinschaft mit allen Menschen bewusst zu sein, eine Einsicht, die angesichts von Hass und Gewalt, die überall auf der Welt auch heute wieder die Menschen gegeneinander treibt, inspirierend sein kann und Grund genug ist, sich mit dem Denken und Schreiben von Albert Camus ein wenig genauer zu befassen.

Im Vorwort zur Neuausgabe von Licht und Schatten, der Sammlung früher Essays, die zuerst 1937 erschien, schreibt Camus: »Ich weiß, dass meine Quelle sich in Licht und Schatten befindet, in jener Welt der Armut und des Lichtes, in der ich lange Jahre gelebt habe und die mich dank der Erinnerung heute noch vor zwei gegensätzlichen, jeden Künstler bedrohenden Gefahren bewahrt, nämlich dem Ressentiment und der Sattheit. Die Armut, um zuerst von ihr zu sprechen, habe ich nie als Unglück empfunden, denn das Licht breitete seine Schätze über sie aus. Selbst meine Auflehnung wurde davon erhellt. (…) Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.« Manchmal passiert es, dass man einen Text liest und sich plötzlich bewusst wird: Der betrifft ja mich, der handelt ja von mir. So ist es mir bei einigen Texten von Albert Camus gegangen. Zum Beispiel bei dem soeben zitierten oder bei dem 1951 veröffentlichten langen Essay Der Mensch in der Revolte. Das ist dann ein bisschen so, wie sich in der Antike ein griechischer Jüngling gefühlt haben mag, wenn im heiligen Hain ein plötzlicher Windstoß die Blätter der Bäume bewegt und er die Anwesenheit der Götter spürt.

Albert Camus wurde am 7. November 1913 in dem Dorf Saint-Paul bei Mondovi, einem unbedeutenden Nest im damals zu Frankreich gehörenden Algerien, geboren. Schon ein Jahr später stirbt sein Vater im Feldlazarett an einer Verwundung, die er in der ersten Marneschlacht davongetragen hat, und die Mutter zieht mit der vaterlosen Familie nach Algier, wo sie die nächsten Jahre in bitterer Armut verbringen. Auf das Gymnasium kommt der junge Albert nur, weil ein Lehrer seine besondere Begabung entdeckt und ihm ein Stipendium verschafft. Der Junge aus dem Armenviertel Belcourt gerät so in eine Welt, die seinesgleichen normalerweise versperrt war. Aber er ist kein Aufsteiger, der seine Herkunft vergisst oder verdrängt. Zeit seines Lebens, auch als er ein berühmter Autor geworden war, hat er sich den »kleinen Leuten« nahe gefühlt, hat gegen Elend und Ausbeutung gekämpft und sich für soziale Reformen eingesetzt. Und dennoch dieser Satz: »Die Armut (...) habe ich nie als Unglück empfunden.« Camus wendet sich gegen die gutgemeinte, sozialarbeiterliche Auffassung, dass, wer arm ist, nicht in Würde leben, nicht ein voll entfalteter Mensch sein, nicht in Maßen glücklich sein könne. Er hat es selbst in seiner Jugend erlebt, dieses Glück des Seins, das nicht von der Fülle des Habens abhängig ist. Die Erinnerung daran hat ihn nie verlassen. Deshalb vor allem war sein lebenslanger Kampf für die Rechte der Armen und Ausgebeuteten gleichermaßen frei von der subtilen Herablassung der Helfer wie vom Neid der Zukurzgekommenen.

Albert Camus war ein politischer Mensch, ein engagierter Sozialist, der sogar für ein paar Jahre der Kommunistischen Partei angehörte, diese aber bereits 1937 wieder verließ, weil er einen von Stalin befohlenen taktischen Schwenk nicht mitmachen wollte. Im von den Nazis besetzten Frankreich schloss er sich dem Widerstand an, im Algerienkrieg geriet er zwischen die politischen Fronten, mit Leidenschaft setzte er sich für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Ein engagierter Intellektueller, streitbar und umstritten, aber einer, der nie vergaß, dass es neben dem Sozialen und dem Politischen noch eine Sphäre des Existenziellen gibt, die ihr eigenes Recht und ihre eigene Würde hat. Dass heute in der Coronakrise hier und da auch in unseren Medien an Camus’ Roman Die Pest erinnert wird, ist naheliegend, weil der Text uns daran gemahnt, wie leicht eine umfassende tödliche Bedrohung den dünnen Firnis von Kultur und Menschlichkeit zerstören kann. Und doch glaube ich, dass Camus’ Der Mensch in der Revolte uns heute mehr zu sagen hätte. Der Geist der Revolte, so Camus in diesem langen, verwickelten Essay, hat nichts mit Ressentiment und mit kleinlichem Neid, mit Rach- und Ichsucht zu tun. Der Mensch in der Revolte ist nicht der Zukurzgekommene, der Übervorteilte, der die Stunde der Revanche gekommen glaubt, sondern ein entfremdeter, unterdrückter Mensch, der sich in einem existenziellen Akt der Rebellion seiner eigenen Würde und damit der Würde aller Menschen bewusst wird.

Gegenüber den utopischen Hoffnungen des Marxismus blieb Camus stets skeptisch, wie er auch die Tröstungen der Religion ablehnte. Er glaubte nicht daran, dass es im weiteren Fortgang der Geschichte oder an ihrem Ende den großen, alle gegenwärtigen Versäumnisse wettmachenden Ausgleich geben könne. Darum hat er auch die Entschuldigungen, mit denen viele seiner linken Freunde die Lügen und Verbrechen der Bolschewiki, selbst noch die Gräueltaten Stalins zu rechtfertigen trachteten, nie akzeptiert. Für ihn war die Berufung darauf, dass der Fortschritt sich seinen Weg durch die Geschichte nun einmal mit blutigen Stiefeln bahne, die Bagatellisierung des Terrors in der Wendung von den »Übergangsproblemen« nichts als dürre Scholastik, eine Flucht vor der Verantwortung, ein Versuch, sich mithilfe metaphysischer Konstruktionen herauszureden.

Was bewahrt uns davor, fragt Camus in Der Mensch in der Revolte, zu Massenmördern oder zu Komplizen von Massenmördern zu werden, nun, da die Glaubenssysteme, die Systeme der Moral unter dem Angriff der Kritik vollends zusammengebrochen sind? Während des Zweiten Weltkriegs hatte Camus der Résistance angehört, war Mitarbeiter des COMBAT, der illegalen Zeitung des Widerstands gewesen. In dieser Zeit wurde die Frage für ihn immer dringlicher, worauf er, der die Destruktion der Religion und des Humanismus durch Nietzsche für unwiderlegbar hielt, sich in seinem Kampf gegen die Nazis stützen konnte. Welche moralischen Ressourcen konnte man mobilisieren, um diesen Mördern mit dem schrecklich guten Gewissen entgegenzutreten?

Camus, der durch die Hölle des Nihilismus Nietzsches gegangen ist, kann nicht auf eine transzendente Moral, ein vom Individuum und seinem Erleben abgelöstes objektives Regel- oder Wertesystem zurückgreifen. Worauf kann sich sein Engagement, kann sich der Widerstand gegen die Barbarei, die er in dem Roman Die Pest allegorisch schildert, dann stützen? In den Briefen an einen deutschen Freund, geschrieben in den Jahren 1943 und 1944 und zum Teil noch in der Illegalität veröffentlicht, deutet sich die Antwort schon an, die er in dem Essay Der Mensch in der Revolte gibt. Gegen die Barbarei der Nazis, gegen die destruktive Logik des Krieges beschwört Camus in den Briefen »die Erinnerung an ein glückhaftes Meer, einen nie vergessenen Hügel, das Lächeln eines geliebten Gesichts«. Allein die Naturgebundenheit der menschlichen Existenz, die Camus paradigmatisch in der griechischen Antike verwirklicht sieht und deren Widerschein in der mediterranen Welt ihn sein Leben lang fasziniert, allein das durch die Natur uns vorgegebene Maß wappne uns zuverlässig gegen die Hybris. Wo alle Glaubenssätze und alle moralischen Prinzipien zu Bruch gegangen sind, bleibt für Camus nur das Leben als absoluter Wert.

Der berühmte Schriftsteller und engagierte Intellektuelle, der 1957 sogar den Nobelpreis bekam, war in den 50er Jahren politisch nicht zeitgemäß. Er war ein Linker, ein Sozialist, aber einer, der früher als die meisten im »linken Lager«, wie man damals sagte, die stalinistische Barbarei anprangerte. Während des Arbeiteraufstands 1953 in der DDR und während des Ungarnaufstands einige Jahre später hat er klar Position bezogen, sich nicht durch den Hinweis auf die große historische Auseinandersetzung zwischen den Blöcken vor der Parteinahme für die Opfer gedrückt. In der linken Intellektuellenkultur seines Landes, von der Camus sagte, sie habe »den Dialog durch das Kommuniqué ersetzt«, machte ihn das zum Außenseiter. Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Homme révolté kam es zum Bruch mit Jean-Paul Sartre. In den folgenden Jahren wuchs die Distanz. Für die dogmatische Linke war Camus hinfort ein Klassenverräter.

Das Problem, mit dem sich Camus in Der Mensch in der Revolte herumschlägt, ist hochaktuell: Wie kann man nach dem »Tod Gottes« und der kritischen Auflösung des Humanismus noch so etwas wie Moral und Menschlichkeit begründen? Welchen Weg kann es für den modernen Menschen geben, der ihn über das Ego hinaus zum anderen, zum Mitmenschen führt? Wie kann aus dem im Klima der Absurdität auf sich selbst zurückgeworfenen solitaire ein mitfühlendes Wesen, ein solidaire werden? Camus glaubt, in der Grundtatsache des sich seiner selbst bewusst werdenden Lebens schließlich einen Ausweg aus dem Dilemma finden zu können. In der Empörung, in der Revolte, im widerständigen Akt des auf sich gestellten Individuums glaubt er den Schlüssel zu einer lebensbejahenden Moral gefunden zu haben: »Ich empöre mich, also sind wir.« Descartes’ »cogito, ergo sum« begründet das Ich als solitaire, Camus’ »Ich empöre mich, also sind wir« bezeichnet dagegen die unmittelbar evidente Basis einer sozialen Existenz, einer Existenz des Ich, das sich im tiefsten Grund mit allen anderen solidarisch weiß. Daher auch der auf den ersten Blick seltsam anmutende Satz im Vorwort zur Neuausgabe von Zwischen Ja und Nein: »die Einsamkeit verbindet die Menschen, die die Gesellschaft trennt«.

Der moderne Mensch, so Camus mit Nietzsche, muss sich seine Welt mitsamt der ihn leitenden Werte selbst erschaffen. Aber diese Aufgabe lässt sich nicht auf die lange Bank der Geschichte oder der – menschenzüchterisch geförderten – Evolution schieben, sie gilt für jeden Moment des Hier und Jetzt. Wir sind nicht Vorläufer, nicht Menschenmaterial, aus dem über viele Stufen der Höherentwicklung sich der wahre, der Übermensch entwickelt. Wir selbst sind es, auf die es ankommt, jeder Einzelne von uns; in der Einmaligkeit unserer Existenz müssen wir uns hier und jetzt dieser Aufgabe stellen.

Das Modell einer solchen zugleich heroischen und schöpferischen Existenz ist für Camus der Künstler. »Der Künstler«, heißt es in Der Mensch in der Revolte, »erschafft die Welt auf eigene Rechnung neu«. Kunst ist für Camus in ihrem produktiven Kern Revolte; sie weist das Wirkliche zurück, um es aus eigenem Anspruch neu zu schaffen. Auch wenn Camus hier nicht so weit geht wie Tarrou, eine der Hauptfiguren aus dem Roman Die Pest, der es sich zur Aufgabe macht, »ein Heiliger ohne Gott« zu sein, wird doch das Anspruchsvolle, Strapaziöse, vielleicht auch Anmaßende des Camus›schen Lebensideals an dieser Stelle sehr deutlich. Immer wenn ich an diesen Punkt gelange, wachsen bei mir die Zweifel, ob wir als Menschen uns nicht überfordern, wenn wir versuchen, dieser heroischen Vorstellung von Existenz zu genügen.

Es scheint, dass Camus diese Gefahr gespürt hat. »Auf der Mittagshöhe des Denkens«, so heißt am Ende von Der Mensch in der Revolte, »lehnt der Revoltierende so die Göttlichkeit ab (…) Wir entscheiden uns für Ithaka, die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken, die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen. Im Lichte bleibt die Welt, unsere erste und letzte Liebe. Unsere Brüder atmen unter dem gleichen Himmel wie wir; die Gerechtigkeit lebt. Dann erwacht die sonderbare Freude, die zu leben und zu sterben hilft und die auf später zu verschieben, wir uns fortan weigern.«

Es ist derselbe bildhafte Gedanke einer verlässlich geerdeten Existenz, in dem am Ende doch so etwas wie die Utopie von Heimkehr und Versöhnung aufblitzt, den wir auch in dem Romanmanuskript finden, das Albert Camus bei sich trug als er am 4. Januar 1960 ums Leben kam. „(...) der kabylische Hirte auf seinem von der Sonne zerfressenen, öden Berg«, heißt es in Der erste Mensch, »schaut den vorbeiziehenden Störchen nach und träumt von jenem Norden, aus dem sie nach einer langen Reise kommen; er kann den ganzen Tag träumen – abends kehrt er auf das Plateau mit den Mastixbäumen zu der Familie in langen Gewändern und in die elende Lehmhütte zurück, wo seine Wurzeln sind«.

Camus starb wie er lebte – sein Tod durch Autounfall ist von banaler Absurdität, eine hochmoderne Weise zu sterben: James Dean war ihm darin um einige Jahre vorangegangen und bei Humphrey Bogart, der ihm in Aussehen und Ausstrahlung so ähnlich war, hätte ein solcher Tod nicht verwundert. Ein nüchterner Tod, kein Stoff für romantische Verklärungen wie beim Bayerischen Ludwig, der im Starnberger See ertrank, oder bei Lord Byron, der – so die bis heute verbreitete Mär – beim Durchschwimmen des Bosporus ertrunken sein soll. Auch in den Todesarten unterscheiden sie sich: das romantische Individuum und das Individuum im Horizont des Absurden, dessen Revolte, selbst dann, wenn sie historisch folgenlos bleibt, doch vom Größten kündet, das unter dem Himmel erreichbar ist: Menschlichkeit.

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