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Entsorgung von Geschichte im Stadtbild

Im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung sind in den vergangenen Monaten in den USA und im Vereinigten Königreich vermehrt Denkmäler historischer Akteure vom Sockel gestürzt, enthauptet oder auf den Kopf gestellt worden. Dabei handelt es sich vorrangig um Personen, die mit der Ausrottung, Unterdrückung und Versklavung nichtweißer Ethnien belastet sind, so etwa die berühmten Generäle der Südstaatenarmee im Amerikanischen Bürgerkrieg von 1861–65. Kompliziert wird die Sache dadurch, dass nicht wenige der symbolisch Attackierten oder Exekutierten ganz unterschiedliche Eigenschaften verkörpern. Etliche der Gründerväter der USA, des ersten modernen Verfassungsstaates, waren zwar sklavenhaltende Agrarier, so etwa der hauptsächliche Verfasser der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und dritte Präsident der Union, Thomas Jefferson. Dieser war aber gleichzeitig auch ein Aufklärer und Universalgelehrter. Obwohl kein rigoroser Verteidiger der Sklaverei, hielt er die Schwarzen, anders als die amerikanischen Ureinwohner, für minderwertige Menschen.

Stürzen würden aufgebrachte Militante, wenn dieses nicht sicher bewacht würde, auch das Standbild Andrew Jacksons, eines ehemaligen Kriegshelden, vor dem Capitol in Washington. Es steht außer Frage, dass gerade unter Jackson die Vertreibung der amerikanischen Ureinwohner aus dem Land östlich des Mississippi brutal betrieben wurde. Damit begann der Genozid in großem Maßstab. Jacksons Präsidentschaft (1829–37) steht aber auch für einen nachhaltigen politischen Demokratisierungsschub, wenngleich dieser nur den weißen US-Amerikanern zugutekam. Sind nun die hier erwähnten persönlich zurechenbaren Fortschritte für die USA wie für die Menschheitsentwicklung wegen offenkundiger Zwiespälte im Denken und Handeln, unter Umständen sogar eindeutig schwerer Missetaten der Beteiligten obsolet? Natürlich nicht, denn die Prinzipien des Konstitutionalismus, der Menschen- und Bürgerrechte sowie der Demokratie wurden später vielmehr auch zur geistigen Waffe im Kampf gegen Sklaverei und Unterdrückung.

Hierzulande geht es bislang noch hauptsächlich um die Umbenennung von Straßen. Doch auch bei uns geht es letztlich um die Frage, wo die Grenze des noch zu Tolerierenden verläuft. Man findet nämlich fast immer etwas aus heutiger Sicht Problematisches, auch bei den am meisten bewunderten Menschen wie etwa Mahatma Gandhi und Nelson Mandela.

Immer mehr der herausragenden, auf Denkmälern oder durch Straßennamen geehrten Vorväter geraten in den Verdacht, den Kriterien des Abstands zu Nationalsozialismus und Faschismus bzw. Militarismus, Rassismus und Antisemitismus nicht zu genügen. Bislang fast uneingeschränkt akzeptierte positive Bezugnahmen, so auf Martin Luther oder auf Otto von Bismarck, werden infrage gestellt. Insbesondere Luthers Judenfeindschaft und seine hetzerische Schrift gegen die aufständischen Bauern sind seit langem Gegenstand kritischer Debatten, ebenso das von Bismarck 1878 eingebrachte Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie, der von ihm in Gang gesetzte Kulturkampf gegen die Katholiken, auch seine Einigungskriege zwischen 1864 und 1871 und anderes mehr. Dennoch hätte ihm bis vor Kurzem kaum jemand – über fast das ganze politisch-weltanschauliche Spektrum hinweg – die Bedeutung eines ungewöhnlich fähigen, »großen« Staatsmannes, einer Zentralfigur der modernen deutschen Geschichte – wenn auch für viele ambivalent zu beurteilen – abgesprochen, ebenso wenig Luther seine historischen Verdienste als Reformator des Christentums, Befreier des individuellen Gewissens und Pioniergestalter unserer hochdeutschen Sprache. Auch von katholischer Seite hat man das seit langem toleriert.

Und wenn man beim kritischen Blick zurück schon ins frühe 16. Jahrhundert vorgestoßen ist, warum – so könnte man ironisch fragen – dann nicht auch die diversen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fürsten unter die Lupe nehmen? Nach den heute vielfach angelegten Maßstäben waren sie fast durchweg Halunken, schon durch die unzähligen Kriege, die sie führten. Der Krieg war indessen bis ins 20. Jahrhundert nicht grundsätzlich geächtet, auch nicht aufseiten der Republikaner und Sozialisten.

Nehmen wir uns kurz den brandenburgischen Markgrafen Friedrich II. vor, genannt »der Eiserne« oder »Eisenzahn«; er regierte von 1440 bis 1470. Eine Straße in Berlin-Wilmersdorf zwischen Hohenzollerndamm und Kurfürstendamm erinnert an ihn. Sein Spitzname rührt daher, dass er mit harter Hand gegen die adelig dominierten Landstände, aber auch gegen das Autonomiebestreben der Städte vorging, so Berlins, wo er in einem mehrjährigen Machtkampf gegen den starken »Unwillen« der Bewohner das Berliner Stadtschloss errichten ließ.

Nicht ganz außer Acht lassen sollte man auch die Dynamik, die entstehen könnte, wenn Rechtsgerichtete, Liberal-Konservative oder Sonstige, wie vereinzelt schon geschehen, ihrerseits anfingen, ihnen unsympathische, von Linken verschiedener Couleur indessen geschätzte Straßennamen ändern zu wollen. Man hat zwar nach 1989/90 in der Ex-DDR reichlich Umbenennungen vorgenommen, teilweise nur deshalb, weil bestimmte Personen vordem geehrt und geachtet worden waren, doch blieben die zahlreichen Karl-Marx- und sogar Ernst-Thälmann-Straßen meist unangetastet. Die Neuköllner, also Westberliner Karl-Marx-Straße existiert unter diesem Namen seit 1946. Im vergangenen Herbst forderte nun die Monatszeitung Jüdische Rundschau, Gegengründung zu der vom Zentralrat der Juden in Deutschland herausgegebenen Jüdischen Allgemeinen, in einem Offenen Brief an die Berliner Verkehrsbetriebe, den U-Bahnhof Karl-Marx-Straße wegen »Antisemitismus« des jüdischen Deutschen Marx (»übelster Rassist, Antisemit und Menschenfeind Deutschlands«) umzubenennen. In der Tat hatte dieser keine freundliche Einstellung zum spezifisch Jüdischen, aber »Antisemitismus« trifft die Sache kaum.

Wir bleiben bei Beispielen aus der Hauptstadt. Die Fraktion der Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg strebt die Umbenennung von Straßennamen mit militärischen Bezugspersonen an, so in dem in Charlottenburg mit der Tauentzienstraße beginnenden »Generalszug« bis zur Gneisenaustraße in Kreuzberg und einschließlich der U-Bahnhöfe Wittenbergplatz und Nollendorfplatz, benannt nach Schlachten des Jahres 1813. In diesem Fall scheint es keine Rolle zu spielen, dass hier speziell leitende Offiziere der antinapoleonischen Befreiungskriege von 1813/14 und 1815 sowie der neben Scharnhorst bedeutendste Militärreformer Preußens und einer der entschiedensten Reformer überhaupt nach 1806 geehrt worden sind – Anfang der 1860er Jahre zweifellos in der Absicht, sie in eine militaristische und antidemokratische Traditionslinie einzureihen. Doch solchen Vereinnahmungsversuchen widersprachen Liberale und dann auch Sozialdemokraten – und am entschiedensten später die SED und die DDR, für die die preußische Reformära und die folgenden Unabhängigkeitskriege zum emanzipatorischen Erbe gehörten.

Eine frühere Entscheidung der Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg wirkt geradezu kurios: Der Moses-Mendelssohn-Platz vor dem Jüdischen Museum, benannt nach dem jüdisch-deutschen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, konnte so nicht bestehen bleiben, weil ein Grundsatzbeschluss des Bezirks verlangte, dass 50 % aller Straßen nach Frauen benannt werden müssten und, bis dieser Prozentsatz erreicht sei, Frauen stets der Vorzug zu geben sei. Da man davor zurückschreckte, den höchst ehrenwerten und allgemein anerkannten Namen Mendelssohn abzuschaffen, heißt der Platz seit acht Jahren Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz. Man hat die Gattin hinzugefügt, obwohl deren Bedeutung mit mehr als einem Fragezeichen zu versehen ist – aber immerhin eine Frau.

Müsste man nach dem Kriterium des Antisemitismus bzw. Antijudaismus nicht auch den Namen des grandiosen Komponisten Richard Wagner eliminieren, der ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit einschlägigen Äußerungen hervortrat, doch noch im Mai 1849 in Dresden für die fortschrittliche Paulskirchenverfassung auf den Barrikaden gestanden hatte? Was bedeuten reaktionäre und antihumane Auffassungen, zumal wenn sie öffentlich geäußert werden, in Abwägung zur Gesamtlebensleistung des oder der Betreffenden? Und wie muss man sie heute mit zeitlichem Abstand bewerten? Sicher eine nicht leicht zu beantwortende Frage.

Die Stadt Düsseldorf hat eine viel beachtete Entscheidung getroffen und 2018 eine Historikerkommission unter Vorsitz des Leiters der Mahn- und Gedenkstätte sowie des Leiters des Stadtarchivs berufen, deren Aufgabe darin bestand, sämtliche Straßennamen zu überprüfen und konkrete Empfehlungen abzugeben (entscheiden kann nur der Rat der Stadt), um neu aufkommenden Vorschlägen und Kontroversen zuvorzukommen. Überprüft worden sind nur die (im Hinblick auf die Untersuchungsschwerpunkte Kolonialismus, Militarismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus) nach 1870 gestorbenen Namensgeber; im Januar 2020 ist ein 300-seitiger Abschlussbericht mit 79 Einzelgutachten vorgelegt worden. Es werden letztlich nur zwölf Namen zur Umbenennung vorgeschlagen, so etwa die einem selbst nach 1945 antisemitisch hervorgetretenen Komponisten gewidmete Pfiznerstraße. Richard Wagner soll, wie andere ins Visier gelangte Berühmtheiten, nicht getilgt werden. 42 Straßennamen der Kategorie B (teilweise belastet/diskussionswürdig) sollen mit erklärenden Tafeln versehen werden. Allgemein wird betont, dass unbedingt der historische Kontext zu beachten sei. Eine selektive Bewertung oder eine solche nach ausschließlich gegenwärtigen Moralvorstellungen weist die Düsseldorfer Kommission zurück.

Selbstverständlich lässt sich über die Zuordnung einzelner Personen diskutieren. Ob nun beispielsweise Feldmarschall Erwin Rommel (wegen zeitweiliger Nähe zum anti-hitlerischen Widerstand) würdiger ist (Kategorie B) als Generalstabschef Alfred Graf von Schlieffen, der Verfasser des 1914 modifiziert angewandten deutschen Vormarschplans zur raschen Niederwerfung Frankreichs (Kategorie A), versteht sich jedenfalls nicht von selbst und macht deutlich, wie strittig in Abwägung die Würdigkeit der Namensgeber beurteilt werden wird, nachdem längst selbstverständlich die Gruppe der großen NS-Verbrecher und anderer Schlächterpotentaten, so der schon 1961 in der DDR eliminierte Name Stalins, verschwunden ist.

Die Mohrenstraße in Berlin-Mitte soll künftig den Namen Anton Wilhelm Amos tragen, des ersten afrikanischen Geisteswissenschaftlers an einer preußischen Universität im frühen 18. Jahrhundert. In dieser Sache hatte sich seit Jahren eine Initiative engagiert, die auf den abwertenden und rassistischen Beiklang des Wortes »Mohr« abhob und eine Änderung verlangte. Ob dieses wirklich so pejorativ besetzt war wie unterstellt, scheint nicht sicher. So war »Mohr« im 19. Jahrhundert z. B. der Spitzname von Karl Marx wegen dessen dunklen Teints. Allerdings war die Sprache und speziell die Begrifflichkeit in älteren Zeiten überall stärker klischeehaft.

Aber kann man das heutige Empfinden von sich betroffen Fühlenden zum ausschlaggebenden Kriterium machen, was immer von diesen vorgebracht wird? Kaum ein Angehöriger der »Mehrheitsgesellschaft« (die als »weiß« charakterisiert und zur Verantwortungsgemeinschaft erklärt wird), wird es ernst nehmen können, dass der Name »Mohr« in den Ohren einer gewissen Zahl von Mitbürgern angeblich so schrecklich klingt, dass man ihn nicht einmal als Eigennamen ausspricht und stattdessen M*straße schreibt und sagt, inzwischen sogar in amtlichen Verlautbarungen.

Das ebenso verpönte N-Wort galt bis vor einigen Jahrzehnten nicht als diskriminierend, anders als das aus den Südstaaten der USA kommende herablassende Wort »Nigger«. Das aus dem Spanischen stammende negro bedeutet ja nichts anderes als Schwarzer. Natürlich ist zu respektieren, wenn der von den so Bezeichneten, auch den emanzipierten und kämpferischen, lange selbst benutzte Ausdruck nicht gewünscht wird. Kolonialismus und Neokolonialismus werden aber durch eine Art Sprachpolizei kaum bewältigt werden.

Wir wissen aus den diskurstheoretischen und linguistischen Forschungen heute besser als vor einem halben Jahrhundert, dass und wie sehr Sprache das Denken vorformt, aber sprachliche Hürden durch strikte Benennungsregeln schaffen andererseits für die breiten Volksschichten faktisch Kommunikationssperren. Die meisten haben sich auch früher nicht unbedingt »politisch korrekt« ausgedrückt. Die heutzutage öfter zu hörende Klage, man dürfe ja nicht mehr alles sagen, stammt eben nicht nur aus den Ressentiment-Küchen der äußersten Rechten, sondern auch aus den Wahrnehmungen wenig reflektierter Normalos.

Nach den Maßstäben heutiger Antirassisten waren im 19. Jahrhundert selbst die entschiedensten Demokraten, die überzeugtesten Sozialisten »rassistisch« eingestellt – national überheblich und, um noch einen weiteren der inflationär benutzten »Blindbegriffe« (Reinhart Koselleck) aufzugreifen: »menschenverachtend«; man lese z. B. Friedrich Engels’ Auslassungen in einem Brief an August Bebel vom 17. November 1885 über »Serben, Bulgaren, Griechen und anderes Räubergesindel« nach, keineswegs eine vereinzelte Entgleisung.

Ein weiteres Beispiel: das Afrikanische Viertel im Berliner Wedding. Die Straßennamen dort sind geprägt durch die koloniale Vergangenheit Deutschlands von den 1880er Jahren bis zur Kriegsniederlage im Ersten Weltkrieg einschließlich einer teilweise äußerst blutigen, sogar genozidalen Realität. Dieser Aspekt deutscher Geschichte ist im Bewusstsein der Deutschen wie bis zu einem gewissen Grad der Bewohner der ehemaligen Kolonien zurückgetreten, weil eine britische oder französische Kolonialherrschaft folgte mit ebenfalls wenig erfreulichen Zügen.

Seit Jahren wird angestrebt, wenigstens die Namen der schlimmsten Repräsentanten des deutschen Kolonialismus aus dem Straßenbild des Viertels zu tilgen, in erster Linie den von Carl Peters (»Hänge-Peters«), dann auch den von Adolf Lüderitz und Gustav Nachtigal, letzterer meist eher als Naturforscher bekannt. Das Problem Peters hatte man vermeintlich schon 1986 durch Umwidmung auf einen ehrenwerten Lokalpolitiker namens Hans Peters gelöst, denn den Straßenschildern fehlte der Vorname. Sicherlich keine überzeugende Lösung, wenn eine noch so bescheidene politisch-pädagogische Aufklärungsabsicht hinter einer solchen Änderung stehen sollte. Anwohner und ansässige Geschäftsleute sind aus naheliegenden praktischen und Kostengründen, auch wegen gewohnheitsbedingter Identifikation mit dem Bekannten, meist skeptisch bis offen ablehnend eingestellt, und die SPD legt in der Regel mehr Wert darauf als die Initiativen und die Grünen die Menschen »mitzunehmen«. Eine Initiative »Pro Afrikanisches Viertel« will möglichst keine Umbenennungen, ist aber offen für das Anbringen von Tafeln, die das Wirken der Namensgeber in ihrer Zeit kritisch beleuchten.

Symbolkämpfe mögen in manchen historischen Situationen sinnvoll oder gar unvermeidlich sein wie in der Weimarer Republik der Streit zwischen den schwarz-rot-goldenen Farben der gesamtdeutschen Demokratie seit dem frühen 19. Jahrhundert und den aus dem Schwarz-Weiß Preußens und dem Rot-Weiß der Hansestädte traditionslos zusammengesetzten Schwarz-Weiß-Rot des Kaiserreichs, das dann aber von weiten Kreisen angenommen wurde. Auch wenn heutzutage in den hier beschriebenen Fällen oft nur kleine Minderheiten direkt involviert sind und die Mehrheit sich zunächst bestenfalls gleichgültig verhält, mag es in einzelnen Fällen erforderlich sein, nachdrücklich für die Änderung eines untragbaren Namens einzutreten.

Es ist aber auch kein Zufall, dass die hohe Konjunktur der Umbenennungen bei uns wie der Denkmalstürze in den USA und Großbritannien in eine historische Phase fällt, in der ein beträchtlicher Teil des linken Spektrums anstatt auf die soziale Frage und die gesamtgesellschaftliche Perspektive eher auf die Betonung von Gruppenidentitäten ethnischer und sexueller Art und deren Anerkennung im Gemeinwesen umgeschwenkt ist. Aus einer Unterschätzung ist in den hier gemeinten Kreisen eine Verabsolutierung geworden. Wer aber im großen Ganzen gestalten und verändern will, braucht Mehrheiten aus allen Schichten des Volkes.

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