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Wie Malcolm Muggeridge vor 90 Jahren als erster den Holodomor beschrieb Er beschloss, Gerüchten nachzugehen

Er war einer der größten Journalisten des 20. Jahrhunderts. Geboren 1903 in Sanderstead bei London als dritter von fünf Söhnen eines bekannten Südlondoner Labourpolitikers, reiste er nach seinem Studium in Cambridge als Lehrer nach Indien, später nach Ägypten. Im Krieg arbeitete er für den Geheimdienst und geriet in Gefangenschaft. Er begann seine Schreibkarriere in Indien mit einem Briefwechsel über Krieg und Frieden mit Mahatma Gandhi, seine Artikel erschienen im lokalen Blatt Young India. Später machte er Mutter Teresa bekannt. Er interviewte sie 1968 zum ersten Mal in London; in der Folge drehte er eine TV-Dokumentation über sie und schrieb einen Bestseller über ihre Tätigkeit in Kalkutta. Wegen ihr konvertierte er zum Katholizismus, behielt aber seine kritische Einstellung (einer seiner Wahlsprüche lautete: »Vergiss nicht, dass nur tote Fische mit dem Strom schwimmen!«)

Erbe des Elternhauses: Ursprünglich fühlte er sich vom Kommunismus angezogen. Er reiste 1932 mit seiner Frau nach Moskau, dort sollte er in Vertretung William Henry Chamberlins, der gerade eine Auszeit nahm, für den Manchester Guardian tätig sein. Während seiner ersten Zeit in Moskau arbeitete er an einem Roman Picture Palace, der lose auf seinen Erfahrungen und Beobachtungen beim Manchester Guardian basierte. Der Text wurde im Januar 1933 fertig und den Verlegern vorgelegt, die aber hatten Bedenken wegen möglicher Verleumdungsklagen, und das Buch wurde nicht publiziert – heute existieren nur noch wenige Exemplare davon. Dieser Rückschlag verursachte beträchtliche finanzielle Schwierigkeiten für den jungen Autor, der nicht angestellt war und als Junior Correspondent nur für gedruckte Artikel bezahlt wurde.

Die Sympathie für den Sowjetkommunismus wurde ihm bald ausgetrieben. Seine politische Einstellung wandelte sich von einem unabhängigen sozialistischen Standpunkt zu einer konservativ-religiösen Haltung. Später erkannte er: »Ich schrieb in einer Stimmung des Zorns, die ich heute ziemlich absurd finde: nicht so sehr, weil der Zorn an sich ungerechtfertigt war, sondern weil es genauso lächerlich ist, sich über menschliche Angelegenheiten zu ärgern, wie die Beherrschung zu verlieren, wenn ein Flug Verspätung hat.«

Zunehmend desillusioniert durch genaue Beobachtung des real existierenden Kommunismus, beschloss er, Gerüchten über eine Hungersnot in der Ukraine nachzugehen, indem er entgegen einem Verbot der Behörden dorthin und in den Kaukasus reiste. Die aufklärenden Berichte über den mit zwei Missernten 1931 und 1932 beginnenden Holodomor, die er, um die Zensur zu umgehen, in Diplomatentaschen an den Manchester Guardian schickte, wurden nicht einmal vollständig gedruckt; und diejenigen, die publiziert wurden (am 25., 27. und 28. März 1933), wurden nicht unter seinem Namen veröffentlicht.

Stalin war es im ersten Fünfjahresplan der Sowjetunion ja um die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die Liquidierung der »Kulaken« gegangen. Exekutionen widerständiger Bauern, massenhafte Deportation in Gulags und entlegende, unfruchtbare Gebiete, millionenfacher Hungertod durch Getreideablieferungspflicht (um durch die Einnahmen auf dem Weltmarkt die Industrialisierung zu finanzieren) waren die schrecklichen Folgen. Die Hungersnot betraf im sowjetischen Vielvölkerstaat besonders die fruchtbaren ländlichen Gebiete wie Kasachstan und vor allem die Ukraine.

Stalin bestrafte die ukrainischen Bauern für ihren Widerstand gegen die Zwangskollektivierung. Im November 1932 beschloss das Politbüro der ukrainischen KP unter Stalins Bevollmächtigtem Molotow, dem späteren Außenminister, die Verhängung von »Naturalienstrafen« und Einführung von »Schwarzen Listen« gegen opponierende Bauern. Die Lebensmittelforderungen an die Bauern wurden drastisch erhöht. In den Dörfern wurde Seife oder Petroleum konfisziert. Bolschewistische Brigaden suchten nach versteckten Lebensmitteln. Viele Dörfer wurden richtiggehend ausgeplündert. Durch die Strafabgaben verloren viele Bauernfamilien ihr Hab und Gut. In der Bevölkerung kam es zu Kannibalismus.

Geplanter Massenmord

Die Kommunistische Partei unterband die Versorgung der Hungernden und die Ausreise aus den Hungergebieten. Die ukrainische Geheimpolizei ließ Hungerflüchtlinge erschießen, ihre Lebensmittel- und Viehbestände konfiszieren. Viele nennen den Holodomor heute einen Völkermord. Schätzungen zufolge starben zwischen 2,4 bis 7,5 Millionen Menschen. Inzwischen steht kaum mehr außer Zweifel, dass es sich beim Holodomor um einen geplanten Massenmord handelte, was viele Länder (bis auf die üblichen Verdächtigen) inzwischen auch anerkannt haben. Doch erst 2003 und 2006 erklärte das ukrainische Parlament den Holodomor offiziell zum Genozid am ukrainischen Volk.

Unterdessen veröffentlichte sein Kollege Gareth Jones, den er in Moskau getroffen hatte, 1933 in der New York Times und der Western Mail (Wales) eigene Berichte, die das Ausmaß der politischen Hungersnot in der Ukraine bestätigten. Dagegen bestritt Pulitzer-Preisträger Walter Duranty, Moskau-Korrespondent der New York Times, die Hungersnot. Großbritannien und die USA wollten zu dieser Zeit keine Negativ-Berichterstattung über Stalin; auch in Deutschland war sie verboten – es ging um diplomatische Beziehungen.

Jones, über dessen Erlebnisse in der Ukraine während des Holodomor 2019 ein Spielfilm (Gareth Jones und die Ukraine: Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins) gedreht wurde, schrieb dagegen Briefe an den Manchester Guardian zur Unterstützung der Artikel seines Freundes über die Hungersnot. Gemeinsam mit anderen Korrespondenten prangerten sie in einer vom damaligen deutschen Star-Korrespondenten und Chefredakteur des Berliner Tagblatt Paul Scheffer organisierten Pressekonferenz am 29.03.1933 in Berlin öffentlich den Holodomor an.

Nachdem Muggeridge mit der redaktionellen Politik der britischen Zeitungen, die Behörden in der Sowjetunion nicht zu provozieren, in Konflikt geraten war, wandte er sich wieder dem Romanschreiben zu. In Winter in Moskau (1934) beschrieb er die Zustände in der »sozialistischen Utopie« und persiflierte die unkritische Haltung westlicher Journalisten gegenüber dem Sowjetregime. Duranty, der übrigens seinen Pulitzerpreis behalten durfte, nannte er »den größten Lügner, der mir im Journalismus begegnet ist«. Später begann er eine Autorenpartnerschaft mit dem zu seinerzeit als Journalist und Schriftsteller sehr angesehenen Hugh Kingsmill, von 1942 bis 1944 Literaturredakteur des Punch (»es gibt keinen elenderen Job, als zu versuchen, die Engländer zum Lachen zu bringen«), dessen Herausgeber Muggeridge 1953–1957 war.

Freiheit ist umständlich, lästig, kostet Kraft und persönlichen Einsatz. Deshalb sagte er mit der Erfahrung des sowjetischen Totalitarismus irgendwann in den 70er Jahren: »Die Menschen im Westen sind ihrer Freiheit müde geworden. Sie hätten lieber statt ihrer ein wenig mehr Sicherheit.« Viele Ukrainer sehen das heute nicht so.

Zehn Tage nach seinem Tod am 14. November 1990 hob der konservative Kollege William F. Buckley Jr. in einem Nachruf auf ihn seine »vitale, bissige Hellsichtigkeit« hervor, die ihn »in den frühen 30er Jahren den Kommunismus durchschauen ließ und ihm als Journalist ein so hohes Ansehen einbrachte, wie es in diesem Jahrhundert noch niemand erreicht hat. Er war überall und tat alles, aber seine Odyssee war nicht ohne Ziel. Er wandte sich dem Christentum zu. Als er letzte Woche starb, zählten die Kommentatoren seine Zugehörigkeit zum Christentum so auf, als sei dies der nächste Posten nach dem des Herausgebers von ›Punch‹ gewesen. Sie schienen nicht zu wissen, dass er der bedeutendste Verkünder des Christentums in der englischen Sprache geworden war. Er hat gelitten, bis zum Schluss. Aber während seines ganzen Lebens linderte er das Leiden anderer, zunächst einfach durch seinen Witz und seine Intelligenz, schließlich durch seine eigene Gelassenheit, die denjenigen, die durch seine Anwesenheit beglückt wurden, heitere Momente bescherte.«

Der englische Journalist und Schriftsteller Malcolm Muggeridge wurde 2008 posthum mit dem »Ukrainischen Freiheitsorden« ausgezeichnet.

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