Der Kapitalismus lag in der neueren Zeit bereits zweimal auf der Intensivstation. In der Finanzmarkt- und Coronakrise musste jeweils der Staat notoperieren. Die großen Krisen waren die Stunde der Regierung. Merkel, Scholz, Steinbrück, Heil & Co spannten Rettungsschirme, schnürten Konjunkturpakete, spendierten Überbrückungshilfen und ermöglichten millionenfache Kurzarbeit. Im Kampf gegen die Corona-Pandemie mobilisierte die Bundesregierung anderthalb Billionen Euro. Soviel wie noch nie zuvor in Friedenszeiten. Die Staatsquote – der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt – übertraf die 50-Prozent-Marke.
Dieser Anstieg war nicht allein das Ergebnis steigender Staatsausgaben, sondern auch Folge eines krisenbedingt schrumpfenden Bruttoinlandsprodukts. Die staatlichen Rettungseinsätze wurden jedenfalls auf Pump finanziert. Die Schuldenquote – der Anteil der Staatsschulden am Sozialprodukt – kletterte in der Finanzmarktkrise auf über 80 und in der Pandemie auf über 70 Prozent. Dafür warfen die Regierenden neoliberale finanzpolitische Prinzipien über Bord. In der Krise waren plötzlich alle Keynesianer.
Das Comeback des Staates beschränkte sich aber nicht nur auf unmittelbares Krisenmanagement. Nach der Finanzmarktkrise stärkte die Große Koalition zuletzt den Sozialstaat. Steigende Erwerbsarmut, drohende Altersarmut, ungleiche Bildungschancen und Wohnungsnot zwangen die Merkel-Regierung zum Handeln. Schwarz-Rot führte den gesetzlichen Mindestlohn ein, ermöglichte die Rente mit 63, stabilisierte das Rentenniveau bei 48 Prozent, baute mehr Kitas und Ganztagsschulen und versuchte den Mietwohnungsmarkt schärfer zu regulieren. Folglich stieg die Sozialleistungsquote – der Anteil der Sozialleistungen am Sozialprodukt – nach dem Bankencrash von 27 auf über 30 Prozent.
Die Bedeutung des Staates wächst auch in der Umwelt- und Klimapolitik. Der Klimawandel ist, dem Ökonomen Nicholas Stern folgend, das größte Marktversagen, das wir je gesehen haben. Der Staat muss die Natur vor der Dynamik der Kapitalverwertung schützen. Jetzt baut die Regierung erneuerbare Energien weiter aus, hilft der Industrie ihre Wertschöpfung klimaneutral zu organisieren und fördert die Elektromobilität. Doch die bisherigen politischen Maßnahmen reichen nicht aus, um die Klimaziele einzuhalten.
Das Comeback des Staates ist die politische Praxis im Ausnahmezustand. Die starken staatlichen Eingriffe umfassen alle wichtigen Politikfelder. Dieser neue »Interventionsstaat« (Klaus Dörre) kann sich, in Anbetracht der vielen Dauerkrisen, fest etablieren. Damit hat das Märchen vom ohnmächtigen Nationalstaat, der in Zeiten der Globalisierung seine Wohlfahrtsversprechen nicht mehr einlösen kann, endgültig ausgedient.
Mehr Staat bedeutet natürlich nicht automatisch mehr Fortschritt. Der Ausnahmestaat hat ein Janusgesicht. Einerseits konnte der freie Fall der Wirtschaft schnell gestoppt, Massenarbeitslosigkeit verhindert und die Einkommen der abhängig Beschäftigten stabilisiert werden. Andererseits mussten Kapitaleigner, deren Unternehmen mit Steuergeld gerettet wurden, kaum Verluste hinnehmen oder eigene Finanzmittel zuschießen. Umfangreiche Staatshilfen wurden nicht an harte soziale und ökologische Auflagen gebunden. In der Pandemie schütteten VW, BMW, Daimler & Co Dividenden aus, obwohl sie sich gleichzeitig Kurzarbeit und Absatzhilfen finanzieren ließen.
Die Gewinne von Amazon, Lidl, Aldi & Co explodierten ebenso wie die Aktienpakete der Vermögensbesitzer. Der Staat schöpfte diese Extraprofite aber nicht ab. Gleichzeitig fielen verwundbare Bevölkerungsgruppen – Soloselbstständige, Niedriglohnempfänger, Minijobber, Hartz-IV-Empfänger/innen und Alleinerziehende – durch das soziale Netz. Folglich wuchs in der Finanzmarktkrise und in der Pandemie die Ungleichheit.
Darüber hinaus ist die demokratische Legitimation des Ausnahmestaates umstritten. Die pandemiebedingten Grundrechtseingriffe und die Bankenrettung erfolgten ohne umfassende Parlamentsbeteiligung – von einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz der Maßnahmen ganz zu schweigen.
Staat und Markt sind zentrale Institutionen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Der Kapitalismus ist als reine Marktwirtschaft nicht lebensfähig. Ohne staatlich garantiertes Eigentumsrecht, ohne öffentliche Verkehrsinfrastruktur und Energieversorgung, ohne staatliches Bildungs- und Gesundheitswesen keine Kapitalakkumulation. Selbst im neoliberalen Zeitalter zog sich der Staat nie aus Wirtschaft und Gesellschaft zurück. Er veränderte lediglich seine Struktur und Funktion.
Klassenkampf von oben
Der neoliberale Staat war ein starker autoritärer Staat. Im Mittelpunkt seiner Aktivitäten stand stets die Optimierung der Kapitalverwertung, der demokratische Prozesse untergeordnet wurden. Bereits in den 80er Jahren drängten einzelne Kapitalgruppen darauf, den korporativen Sozialstaat zu einem nationalen Wettbewerbsstaat (Joachim Hirsch) umzubauen. Möglich machten dies veränderte gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Massenarbeitslosigkeit, eine wachsende Dienstleistungsökonomie und schrumpfende Industrie, die Globalisierung sowie die Vorherrschaft der Finanzmärkte hatten die gewerkschaftliche Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht empfindlich geschwächt. Dieser Klassenkampf von oben wurde der Bevölkerung als alternativlose Anpassung an ökonomische Sachzwänge verkauft.
In der Bonner und Berliner Republik krempelten die Kohl- und Schröder-Regierungen den alten Rheinischen Kapitalismus um. Sie entfesselten den Finanz- und Arbeitsmarkt, kürzten Sozialleistungen, pflügten die sozialen Sicherungssysteme um und verscherbelten öffentliches Eigentum. Folglich sanken die Staats- und Sozialleistungsquoten. Die Förderung prekärer Beschäftigung, der Ausbau des Niedriglohnsektors und Hartz IV schwächten die Verhandlungsposition der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften noch weiter.
Der Ab- und Umbau des Sozialstaats ging einher mit staatlicher Wirtschaftspflege. Großunternehmen freuten sich über üppige Subventionen und Steuergeschenke sowie gedeckelte Sozialabgaben. Die Macht heimischer Konzerne wurde geschützt, Hightech-Güter gefördert und die Erschließung von Exportmärkten außenpolitisch flankiert.
Diese Politik verschärfte letztendlich die soziale Spaltung. Heute erzielt das reichste Viertel ein siebenmal so hohes Markteinkommen wie das ärmste Viertel. Nach der deutschen Einheit war es noch das Dreifache. Ein geschwächter Sozialstaat konnte die wachsende Einkommenskluft immer weniger korrigieren. In den Nullerjahren drückten Steuergeschenke die reale Steuerlast der 450 reichsten Deutschen von 43 auf 31 Prozent. Das reichste Zehntel bekommt heute netto fast das Vierfache des ärmsten Zehntels. Vor 30 Jahren war es nur das Dreifache. Damit wuchs die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen hierzulande stärker als in den USA.
Noch ausgeprägter ist die Ungleichheit beim Vermögen. Seit 2000 verdoppelte sich das Privatvermögen auf rund 13 Billionen Euro. Das reichste eine Prozent hält rund ein Drittel des Vermögens und die Top 0,1 Prozent – 41.000 Haushalte – besitzen über 17 Prozent. Die unteren 40 Prozent der Bevölkerung gehen hingegen fast leer aus oder sind sogar verschuldet.
Die wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit verschlechterte auch die Bildungschancen und erhöhte die Gesundheitsrisiken. Von der Krippe bis zur Hochschule werden Kinder aus einkommensschwachen Familien systematisch benachteiligt. Die Lebenserwartung armer Männer ist zehn Jahre niedriger als die von wohlhabenden Männern.
Das Gift der Ungleichheit
Die Umverteilung von unten nach oben schadete auch der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Steuergeschenke stürzten den Steuerstaat in eine Krise: Die Steuerausfälle gegenüber dem Steuerrecht von 1998 belaufen sich heute noch auf jährlich 45 Milliarden Euro. Die Einnahmeausfälle vergrößerten den Schuldenberg. Der Wettbewerbsstaat hatte mit höheren Schulden noch nie ein Problem, sofern damit Steuersenkungen, Staatshilfen für Unternehmen oder Rüstungsausgaben finanziert wurden. Banken und Finanzinvestoren verdienten an den Staatsanleihen.
Darüber hinaus konnte die hohe Staatsverschuldung politisch instrumentalisiert werden, um mit Ausgabenkürzungen und strengen Schuldenregeln den Sozialstaat zu schrumpfen. Ein auf Zwangsdiät gesetzter Staat investierte aber anschließend nicht genug in die Zukunft. Folglich verfiel die öffentliche Infrastruktur. Allein der kommunale Investitionsstau beläuft sich hierzulande inzwischen auf 150 Milliarden Euro. Zudem vernachlässigte der Staat die öffentlichen und sozialen Dienstleistungen, weswegen in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Kitas und Schulen heute hunderttausende Fachkräfte fehlen.
Diese Erblast des neoliberalen Wettbewerbsstaates wiegt schwer. Denn das Gift der Ungleichheit wirkt in allen Poren unserer Gesellschaft. Gleichzeitig verfällt die physische und soziale Infrastruktur des Landes und unsere natürlichen Lebengrundlagen werden nicht ausreichend geschützt. Damit untergräbt der Wettbewerbsstaat die Grundlagen der Kapitalakkumulation, weswegen der Staat zuletzt immer stärker intervenieren musste. Deswegen fordern inzwischen auch arbeitgebernahe Ökonominnen und Ökonomen, öffentliche Investitionen von der Schuldenbremse auszunehmen.
Im Winter 2021 übernahm eine Ampelregierung die Staatsgeschäfte. Scholz, Habeck und Lindner wollen mehr sozialökologischen Fortschritt wagen. Der Interventionsstaat, der in der Krise gigantische Finanzmittel mobilisierte, kann – im Gegensatz zum Wettbewerbsstaat – milliardenschwere Investitionen in den klimafreundlichen Umbau der Industrie, in Bildung, in Gesundheit und Digitalisierung lenken. Oder in den Worten von Keynes: Alles was wir tatsächlich tun können, können wir uns auch leisten.
Der bürgerliche Teil der Ampel fremdelt aber noch mit dem »Staat der unbegrenzten Möglichkeiten«. Die FDP will schnellstmöglich zur Schuldenbremse zurück. Während bei der Finanzierung von Klima- und Infrastrukturinvestitionen noch kreative Kompromisse – Rücklagen, Klimafonds, öffentliche Investitionsgesellschaften – denkbar sind, sieht das beim Ausbau des Sozialstaates ganz anders aus. Die konservativ-liberale Oberschicht will nicht mehr öffentliches Geld in Pflege, Gesundheit und Rente stecken. Zudem müssten höhere Sozialausgaben über Steuern und Abgaben finanziert werden. Die Liberalen wehren sich aber dagegen, hohe Einkommen und Vermögen stärker zu besteuern. Folglich kann die Ampelkoalition nur mehr Geld für Personal und Soziales ausgeben, wenn die Wirtschaft kräftig wächst.
Damit nicht genug. Sozialer Fortschritt braucht mehr Gegenmacht der Beschäftigten. Die Ampel erhöht zwar den Mindestlohn und bastelt an einem Bundestariftreuegesetz, gleichzeitig sorgt die FDP aber für mehr Minijobs und blockiert eine erleichterte Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. So wird die Verhandlungsmacht der Beschäftigten nicht wirksam gestärkt.
In Klimafragen setzt die FDP auf grüne Märkte und Preise. Deren ökologische Lenkungswirkung ist aber beschränkt. Zudem müssen steigende Energie- und Nahrungsmittelpreise sozial abgefedert werden. Der ökologische Umbau ist nur dann gesellschaftlich mehrheitsfähig, wenn die Ungleichheit nicht weiter zunimmt. Für die ökologische Transformation ist der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Energienetze sowie des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs zentral. Hier müsste ein Interventionsstaat, gegen den Willen der FDP, investieren und regulieren.
Und klar ist: Grünes Wachstum allein schafft keine klimaneutrale Gesellschaft. Der Ressourcenverbrauch schrumpft nur, wenn die ökologisch blinden kapitalistischen Produktions- und Konsummuster verändert werden. Dafür müsste der öffentliche Sektor gestärkt und wirtschaftliche Macht demokratisiert werden. Eine stärkere Beteiligung der Zivilgesellschaft am ökologischen Umbau – zum Beispiel durch mehr Unternehmensmitbestimmung und Transformationsräte – ist aber mit Lindner, Wissing & Co unwahrscheinlich.
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