Menü

Wie sich die NATO für das 21. Jahrhundert rüsten muss Erfolgreich, aber auch alternativlos?

Die NATO ist die erfolgreichste Militärallianz der Geschichte – und im achten Jahrzehnt ihres Bestehens in unruhigem Fahrwasser. Für Europa und Deutschland bleibt sie alternativlos, doch ist trotzdem genau jetzt der Moment, über Alternativen nachzudenken.

Vor 71 Jahren, am 4. April 1949, kamen Vertreter Belgiens, Dänemarks, Frankreichs, Islands, Italiens, Kanadas, Luxemburgs, der Niederlande, Norwegens, Portugals, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs in Washington, D.C. zusammen, um den Nordatlantikvertrag zu unterzeichnen. Diese zwölf Staaten wurden damit zu den Gründungsmitgliedern der Organisation des Nordatlantikvertrags, der North Atlantic Treaty Organization (NATO). Keiner der Anwesenden hätte sich damals wohl vorstellen können, wie die Organisation sieben Jahrzehnte später aussehen würde, und so mancher hätte womöglich Zweifel gehabt, dass die NATO im Jahr 2020 noch existieren würde.

Heute hat die NATO 30 Mitglieder, darunter zehn Staaten, die früher Mitglieder des Warschauer Paktes oder der Sowjetunion waren. Die Allianz wächst weiterhin, das dreißigste Mitglied, die Republik Nordmazedonien, ist erst in diesem Jahr beigetreten. Gemeinsam haben die NATO-Staaten ein Verteidigungsbudget von 1,03 Billionen Dollar (Stand 2019). Durch die Corona-Pandemie ist eine Verringerung der Verteidigungsetats aller Mitgliedsstaaten zu erwarten. Die NATO führt Missionen in Afghanistan, dem Irak, Kosovo, im Mittelmeer und zur Unterstützung der Afrikanischen Union in Somalia durch. An der Ostflanke der NATO garantiert die Allianz die Luftverteidigung durch regelmäßige Flugpatrouillen. Im Rahmen der nuklearen Teilhabe sind etwa 180 atomare Sprengköpfe des US-Militärs in vier europäischen NATO-Staaten und der Türkei stationiert, die helfen, einen nuklearen Schutzschirm über der Allianz zu spannen. In ihrer 71-jährigen Geschichte musste das Bündnis erst ein einziges Mal die Beistandsklausel gemäß Artikel 5 des Nordatlantikvertrags ausrufen: nach den Terrorangriffen des 11. September 2001. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht übertrieben, die NATO als erfolgreichste Militärallianz der Geschichte zu bezeichnen.

Und doch waren die Feiern zum 70-jährigen Bestehen der Allianz im letzten Jahr in London mehr als gedämpft. Großbritannien hatte im Vorfeld angeboten, die Festivitäten auszurichten. Der Plan war, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: der Welt sowohl den Erfolg eines kürzlich aus der EU ausgetretenen Landes zu demonstrieren und das 70-jährige Bestehen der NATO feierlich zu zelebrieren. Stattdessen war der Brexit zu dem Zeitpunkt weiterhin unvollendet und innerhalb der NATO gab es so viel Uneinigkeit, dass die Organisatoren bemüht waren, möglichst wenig Zeit für Austausch zu lassen.

Denn Reibungspunkte gibt es viele. Da ist zum Beispiel die Türkei, die sich in den letzten Jahren als schwieriger Verbündeter zeigte. Demokratie und Pressefreiheit sind fragil und werden insbesondere seit dem Putschversuch 2016 zunehmend untergraben. Ein für die NATO drängenderes, weil militärisches Problem ergibt sich dadurch, dass sich die Türkei entschieden hat, das russische Boden-Luft-Raketen-System S‑400 zu kaufen. Kritiker befürchten, dass durch die S400 NATO Interoperabilität untergraben werden und Russland wichtige Informationen erhalten könnte, die die Luftabwehr der NATO unterminieren. In Syrien agiert das türkische Militär auf eine Art und Weise, wie es einem NATO-Mitglied nicht zu Gesicht steht. Auch dass Deutschland sich 2017 nach einem langwierigen Streit mit der Türkei gezwungen sah, seine Tornado-Aufklärungsflugzeuge mitsamt dazugehörigem Personal von der türkischen Luftwaffenbasis İncirlik abzuziehen und in das Nicht-NATO-Land Jordanien zu verlegen, spricht Bände.

Neue Bedrohungen

Doch das Verhalten der Türkei ist nur eines der Probleme, mit denen die NATO-Allianz derzeit zu kämpfen hat, und es ist nicht das existenziellste. Bei der 70-Jahrfeier in London richtete sich die Aufmerksamkeit besonders auf eine Auseinandersetzung zwischen US-Präsident Donald Trump und seinem französischen Counterpart Emmanuel Macron. Erstaunlicherweise war es hier Trump, der die NATO gegenüber Macron verteidigte. Der französische Staatschef hatte in einem Interview mit dem Magazin Economist das Bündnis als »hirntot« bezeichnet, bezugnehmend auf die fehlende Abstimmung innerhalb der Allianz zu den türkischen Operationen in Syrien. Trump nannte diese Aussagen »beleidigend« – eine erstaunliche Reaktion, da Trump seit Amtsantritt die NATO regelmäßig kritisiert hatte. So erklärte er bei früheren Anlässen, die NATO sei »obsolet«, und »so schlecht wie [das Freihandelsabkommen] NAFTA«. Laut New York Times zog Trump gar einen Austritt der USA in Erwägung.

Da ist sie, die existenzielle Bedrohung: Gehen die USA, ist die NATO am Ende. Denn sie mag eine Organisation mit 30 Mitgliedern sein. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie militärisch ein »Die USA plus alle anderen«-Club ist. Von den bereits genannten 1,03 Billionen Dollar Verteidigungsbudget aller NATO-Staaten kommen 730 Milliarden, also über zwei Drittel, aus den USA. Es sind amerikanische Atomwaffen, die den Nuklearschirm garantieren. Oder, wie es Macron gegenüber dem Economist formulierte: »Die NATO (…) funktioniert nur, wenn der Garant der letzten Instanz als solcher fungiert. Ich würde sagen, dass wir die Realität der NATO im Lichte des Engagements der Vereinigten Staaten neu bewerten sollten.«

Die Realität der NATO, die Macron anspricht, besteht in einem zunehmenden Zweifel an der amerikanischen Bereitschaft, den anderen Mitgliedern im Falle eines bewaffneten Angriffes beizustehen. Das hat viel mit Donald Trump zu tun, dessen regelmäßige Kritik an der NATO, und insbesondere an jenen Mitgliedern, deren Verteidigungsbudgets zu niedrig sind, im NATO-Hauptquartier in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten mit Sorge vernommen wird. Zwar gab es auch unter früheren US-Präsidenten Kritik an sogenannten »Trittbrettfahrern«. Doch ist Trumps Kritik fundamentaler; mit ihm haben die USA einen Präsidenten, der grundsätzlich den Nutzen von Verbündeten infrage stellt.

Allerdings darf Europa auf keinen Fall denken, dass es nur diesen US-Präsidenten aussitzen muss. Gerade in Deutschland scheint die Vorstellung zu herrschen, dass die USA Europas Sicherheit garantieren, weil sie Europa mögen, unsere Werte teilen, unsere Freunde sind. Dass diese gemeinsamen Werte und die Freundschaft bestehen, soll hier nicht bestritten werden, doch in der internationalen Politik geht es um Interessen. Die USA sind geopolitisch zunehmend auf China fokussiert. Russland und Europa verlieren an Bedeutung. Für den amerikanischen Schutz Europas gibt es keine Ewigkeitsgarantie. Wie sich die amerikanische Politik als Reaktion auf die Corona-Pandemie verändern wird, ist noch unklar, aber denkbar ist, dass isolationistische Tendenzen verstärkt werden. Vor diesem Hintergrund war Macrons Weckruf genau richtig.

Will Europa die Sicherheit seiner Bürger auch in den kommenden Jahrzehnten sichern, muss es sich erstens darum bemühen, die Amerikaner in der NATO zu halten. Zweitens müssen wir auf europäischer Ebene Fähigkeiten und Prozesse verbessern, um langfristig auch ohne eine derart dominante Rolle der Vereinigten Staaten auszukommen.

Deutschland und Europa müssen sich klar zur NATO bekennen. Eine stärkere Anstrengung, um die zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigungsausgaben zu erreichen, auf die sich die NATO-Mitglieder 2014 geeinigt haben, ist zentral. Hier war Europa, vor der Corona-Krise und aller Kritik Donald Trumps zum Trotz, auf einem guten Weg. Seit 2014 steigen die Verteidigungsetats der europäischen NATO-Staaten – doch bleiben mindestens 19 Staaten unter dem angestrebten Ziel, darunter auch Deutschland. Es ist wichtig zu betonen, dass die Erhöhung der Verteidigungsbudgets zwar auch dazu gedacht sind, den USA zu zeigen, dass Europa bereit ist, seinen Teil beizutragen. Doch geht dieses Geld ja nicht an die NATO, oder gar wie eine Art Schutzgeld an die USA. Stattdessen handelt es sich um Ausgaben für die eigenen Streitkräfte, für die eigene Verteidigung, und sollten daher im ureigensten Interesse der Europäer sein. Hier kommt gerade Deutschland eine Führungsrolle zu – solange Deutschland unter der Zielvorgabe bleibt, ist es auch für andere Länder einfach, sich dahinter zu verstecken.

Zweitens müssen die Anstrengungen verstärkt werden, auf europäischer Ebene Verteidigungs- und Kooperationsfähigkeiten aufzubauen. Wichtige Anlagen sind bereits da: Auch innerhalb der EU gibt es eine Beistandsklausel, die dem Artikel 5 des Nordatlantikvertrags ähnlich ist. In Artikel 42.7 des Lissabonner Vertrags sichern sich die EU-Mitglieder im Falle eines bewaffneten Angriffs »alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung« zu. Allerdings müssen tatsächliche militärische Fähigkeiten vorhanden sein, damit diese Hilfe auch wirken kann. Hier braucht es zum einen mehr Investitionen, zum anderen mehr Zusammenarbeit, um kostspielige Kleinstaaterei zu vermeiden. Zu viel Zeit und Anstrengung ist in den letzten Monaten aufgewendet worden, um Unterschiede in den Positionen in Europa, insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich zu suchen. Doch Deutschlands Ansatz, »transatlantisch [zu] bleiben und europäischer werden«, und Macrons Vorstoß, über eine Welt ohne die amerikanische Sicherheitsgarantie nachzudenken, sind nicht so unterschiedlich, wie viele behaupten.

Es wäre für Europa und Deutschland wünschenswert, wenn wir auch in 70 Jahren auf eine positive Entwicklung der NATO zurückblicken könnten. Die Allianz wird sich verändern müssen, um weiterzubestehen. Doch gerade darin war sie bisher sehr gut. Sowohl um die Lastenteilung innerhalb der NATO zu verbessern als auch für den Fall, dass das Bündnis an ein Ende kommt, und Europa seine Sicherheit alleine garantieren muss, müssen wir Europäer heute damit beginnen, unsere Verteidigungsfähigkeiten auszubauen.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben