Menü

»Gegen das Vergessen« und der Ukraine-Krieg Erinnerung ist Kommunikation

»Was bedeutet ›Nie wieder‹ für die Deutschen, die diesen Satz jedes Jahr am Holocaust-Gedenktag aussprechen?« Diese Frage stellte Anna Strishkowa im Gespräch Ende Februar 2022 in Kiew. Russische Bomben hatten gerade Teile der Gedenkstätte Babyn Jar oberhalb der Stadt zerstört. Sechs Jahre zuvor standen dort, wo nun tiefe Krater im Boden klafften, ihr Bild und das 60 weiterer Holocaustüberlebender anlässlich der Erinnerung an eines der schlimmsten Verbrechen Nazideutschlands in der Ukraine.

Am 29. und 30. September 1941 hatte die SS in jener inzwischen zubetonierten Schlucht 33.000 Kiewer Jüdinnen und Juden ermordet. Das jüngste Opfer war erst zwei Tage alt. So alt könnte auch Anna zu dieser Zeit gewesen sein, mutmaßt der deutsch-italienische Fotograf Luigi Toscano, für den Anna Strishkowa die erste Auschwitzüberlebende war, die er bei seiner Reise nach Kiew fotogra­fierte.

Die ukrainische Regierung und die deutsche Botschaft hatten Toscanos Ausstellung »Gegen das Vergessen« anlässlich des 75. Jahrestages und einer Neugestaltung der Gedenkstätte im September 2016 nach Kiew geladen. In der NG/FH stellte ich Toscanos Projekt, das die Erinnerung an den Holocaust in überlebensgroßen Porträts in den öffentlichen Raum trägt und so persönliche Begegnungen mit den Opfern kreiert, bereits im Juni 2021 vor. Damals wurde er für sein Engagement zum »Artist for Peace« der UNESCO ausgezeichnet, kurze Zeit später erhielt er das Bundesverdienstkreuz.

Warum nun erneut daran erinnern?

Wäre jetzt Bundestagswahl, erreichte die AfD über 20 Prozent. Zustimmungsrekord für eine in Teilen rechtsextreme Partei, deren Mitglieder dafür plädieren, einen Schlussstrich unter die Erinnerung an den Holocaust zu ziehen. Nicht nur, weil wir in wenigen Jahren die letzten Zeitzeugen verlieren werden, sondern auch, weil uns Putins Angriff auf die Ukraine in die größte politische Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs gestürzt hat, gewinnen kreative Wege des Gedenkens im Zuge unserer demokratischen Bildung immer mehr an Brisanz.

»Die Folgen des russischen Angriffskriegs haben unsere Gesellschaft tief gespalten.«

Die Folgen des russischen Angriffskriegs – Inflation, sprunghafter Anstieg von Heizkosten und Lebensmittelpreisen – haben unsere Gesellschaft tief gespalten und die Grenze des Sagbaren gefährlich weit nach rechts verschoben. Die guten Kontakte der AfD-Spitze zur russischen Regierung sind ein offenes Geheimnis. Eine Regierung, die verkündet, den Faschismus in der Ukraine ausrotten zu müssen, dabei längst selbst viele Voraussetzungen einer faschistischen Diktatur erfüllt und unter dem Vorwand russische Minderheiten zu schützen die ukrainische Zivilbevölkerung bombardiert.

Anna Strishkowa, die nahe des Regierungsviertels in Kyiv lebt, leidet unmittelbar unter den russischen Angriffen. Als Toscano 2015 Strishkowas Geschichte hört, exakt am ersten Jahrestag des Maidan-Aufstandes, ist er wie gebannt. Denn Anna kennt weder ihren ursprüng-lichen Namen, noch weiß sie, wo sie geboren wurde. Die wenigen, scheinbar sicheren Fakten lauten wie folgt:

Im Dezember 1943 steht sie als Kleinkind an der Rampe von Auschwitz, ihre Eltern werden direkt nach der Selektion ermordet, sie selbst wird Versuchskind des berüchtigten Lagerarztes Mengele, der an ihr Experimente zur Blutforschung durchführt. Noch heute plagen sie Albträume von Spritzen und Menschen in weißen Kitteln. Nach ihrer Befreiung 1945 wird Anna von einem ukrainischen Paar adoptiert, die ihr ein Medizinstudium ermöglichen. Sie wird eine anerkannte Infektionsbiologin – und bekämpft so ihr frühkindliches Trauma wie sie heute sagt.

»Anna kennt weder ihren ursprünglichen Namen, noch ihren Geburtsort.«

Bereits bei diesem ersten Treffen erzählt Anna von ihren Bemühungen, etwas über ihre leiblichen Eltern zu erfahren. Eine Anfrage, die sie 1997 nach dem Tod des Adoptivvaters an das Archiv Yad Vashem stellte, verlief im Sand. Doch die große Leerstelle zu Beginn ihres Lebens lässt ihr keine Ruhe. Toscano will ihr bei der Suche nach weiteren Bruchstücken zur Entschlüsselung ihrer Identität helfen, sie bleiben in Kontakt.

Seitdem die ersten Bomben auf Kyiv fallen, schreiben sie sich täglich über einen Messenger-Dienst. Anna berichtet von ihrem Freund, dem Holocaustüberlebenden Borys Romanteschenko, der im russischen Bombenhagel in Charkiw stirbt, da er gehbehindert war. Sie schreibt, wie schwierig es inzwischen ist, Brot zu kaufen und von dringend benötigten Medikamenten. Toscano ist bewusst, die Zeit drängt. Anna selbst will Kyiv nicht verlassen: »Hitler hat mir meine Identität geraubt, von Putin lasse ich mir nicht meine Heimat stehlen.« schreibt sie.

Spurensuche einer Identität

Doch auch Toscanos Anfragen in den Gedenkstätten Auschwitz, Yad Vashem und an das Aolsen-Archiv zu Annas Häftlingstätowierung 69929 bleiben zunächst ergebnislos.

Als einzige Verbindung zu Annas Vergangenheit findet Toscano den Schnipsel eines russischen Propagandafilms, der Anna als kahlgeschorenes Kind kurz nach der Befreiung 1945 zeigt: Für wenige Sekunden hält sie ihren linken Unterarm in die Kamera, während eine Stimme aus dem Off die Ziffern einspricht. Immer wieder sichtet Toscano die Sequenz, bis er überzeugt ist, dass die eingesprochene Folge nicht mit der Nummer auf Annas Arm übereinstimmt. Unterstützung findet er in einer Mitarbeiterin der Deutschen Botschaft in Kyiv, Kateryna Iesikova, deren Mann dem Holocaustforscher Artjom Jeromenko und der Bildforensikerin Daniela Weiß aus Stuttgart, die schließlich den Verdacht bestätigt: Annas von Auschwitz beglaubigte Nummer gehört nicht zu ihr.

Toscano versucht nun, über die neu ermittelte Nummer 61929 Informationen zu bekommen, er reist erneut nach Auschwitz, doch im dortigen Archiv macht man ihm wenig Hoffnung. Per Zufall, in einer vergilbten Krankenakte entdeckt er schließlich die von der Forensikerin ermittelte Nummer: Sie ist einem Mädchen namens Anna Iwanowa, Jahrgang 1939 zugeordnet. Endlich ein Name, auch das Alter könnte stimmen. Weitere Puzzleteile fügen sich zu einem komplexen Bild, das Annas Weg rekonstruiert: Sie ist das Kind des Partisans Trofim Isakowytsch Iwanow aus dem Dorf Pronino in Belarus, der gegen Hitler kämpfte. Als Strafaktion deportierte die SS nahezu alle Kinder und Frauen Proninos nach Auschwitz. Dort blieb Anna jedoch nicht wie ursprünglich angenommen bis zum Ende des Krieges, sondern wurde bereits im November 1943 in das »Ostjugendbewahrlager« Potulice, 300 Kilometer nordwestlich von Warschau gebracht.

Dort nahm man ihr tatsächlich mehrfach wöchentlich Blut ab, um verwundete Wehrmachtssoldaten zu versorgen. Ein in der Holocaust-Forschung bislang wenig beachtetes Kapitel. Auch schwere Zwangsarbeit wurde den Kindern in Potulice zugemutet, es gab Folterungen und Tötungen. Auf dem zugehörigen Friedhof entdeckt Toscano das Grab eines Cousins von Anna, doch es fehlt die abschließende Verifizierung, dass es sich bei Anna Iwanowa tatsächlich um Anna Strishkowa handelt. Ein erster Schritt erfolgt, als es einer Forscherin in Yad Vashem gelingt, die Identität hinter Annas »urspünglicher« Nummer herauszufinden: Sie gehörte einer russischen Landarbeiterin, die bereits 56 Jahre alt war, als sie im Dezember 1943 Auschwitz erreichte. Warum wurde sie Anna zugeordnet? Ein Versehen, nachdem der Adoptivvater, ein KGB-Major, die Nummer entfernen ließ? Oder eine bewusste Aktion, um den »Makel« von Auschwitz zu tilgen, der auch unter Stalin galt? Fragen, die bislang unbeantwortet blieben.

Drei Schwestern – drei Überlebenswege

Der ukrainische Holocaustforscher Artem Iomenko und die russische Forscherin Sima Velkovich in Yad Vashem entdecken weitere Familienangehörige: Annas Schwestern Alexandra und Galina. Beide überlebten den Krieg und gelangten wie Anna nach Kyiv. Doch während Anna adoptiert wurde, verblieben Galina und Alexandra bis ins junge Erwachsenenalter in einem Kyiver Waisenhaus. Von dort führten ihre Wege in unterschiedliche Ecken der Sowjetrepublik.

»Hitler hat mir meine Identität geraubt, von Putin lasse ich mir nicht meine Heimat stehlen.«

Die Ältere, Alexandra lebte in Kasachstan, wo sie als Landarbeiterin ein entbehrungsreiches Leben bestritt und in den 60er Jahren verstarb, die mittlere Schwester Galina wurde Schneiderin und arbeitete in Drohobytsch, wo sie auch zwei Töchter, Tetjana und Olena aufzog. Galina starb erst 2017. Ihre Töchter, die Toscano in Drohobytsch (Westukraine) und Unna (Westfalen) ausfindig macht, erbringen durch einen DNA-Test die letzte große Sicherheit für Annas Identität. Beide wuchsen mit dem Wissen um die im Holocaust verschollene jüngere Tante auf und berichteten, dass ihre Mutter ein Leben lang nach Anna gesucht habe. Bei einem kurzen ersten Videocall erkennen sie die Ähnlichkeit von Mutter und Tante: Anna würde sich die Brille wie ihre Mutter Galina auf die Nase schieben, auch Olga, Annas einzige Tochter ist bewegt. Sie habe sich immer eine Schwester gewünscht, jetzt hat sie plötzlich Cousinen, mit denen sie telefonieren kann und auf der leeren Seite ihres Stammbaums wachsen neue Zweige. Nur Anna bleibt still. Sie brauche Zeit, erklärt sie Toscano.

Durch Putins Angriff habe sie ihre Werte neu definiert. Allein im Mai gab es 17 schwere Bombardements auf Kyiv, vor kurzem wurden die schönsten Gebäude in Odessa zerstört, wo sie sich nach dem Krieg 1945 erholte. Plötzlich zu wissen, weißrussische Wurzeln zu haben, sei für sie schmerzhaft, sagt sie. Dafür sei das nagende Gefühl, nicht zu wissen, woher sie stammt, verschwunden. Mit anderen Holocaustüberlebenden strickt sie Tarnnetze und backt Kekse für die Soldaten an der Front. Dass Putin die Geschichte umdeuten wolle, die Ukrainer als Faschisten bezeichne, dabei selbst wie einer agiere, dagegen will sie mit ihrer bloßen Existenz protestieren: »Er darf und er wird nicht das letzte Wort behalten!«

Putin darf nicht das letzte Wort behalten!

Anna Strishkowa will die Ukraine trotz des Krieges nicht verlassen, 78 Jahre ihres Lebens hat sie dort verbracht. Ihre Geschichte ist eine von vielen in Toscanos Langzeitprojekt, das Erinnerung als kommunikativen Prozess versteht, als Chance, uns selbst und unsere demokratischen Möglichkeiten zu begreifen. Viele Schicksale in Auschwitz waren nicht jüdisch – und sind dennoch unweigerlich mit der Shoah, dem industriell geplanten Massenmord an den europäischen Juden verknüpft. Annas Geschichte lenkt unseren Blick über den Gedenktag am 27. Januar hinaus: Auf jene 345.0000 Menschen, die bei der deutschen Partisanenbekämpfung in Weißrussland getötet wurden, auf die vergessenen Kinder in Potulice, die die SS als lebendige Blutbanken für verwundete Wehrmachtssoldaten missbrauchte und schließlich auf alle (jüdischen und nicht jüdischen) Holocaustüberlebenden, die heute in Kyiv und anderen Städten der Ukraine leben.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben