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Bücher zur neuen Aufmerksamkeit für den Kolonialismus und den Holocaust Erinnerungskämpfe

»Aufbrechen einer dominie­renden eurozentristischen Geschichtsbetrachtung.«

Erinnerungspolitisch ist derzeit einiges in Bewegung. Das ist schon deshalb nötig und richtig, da die Gegenwart tatsächlich blinde Flecken aufweist. Ein Beleg dafür ist die Betrachtung der kolonialen Vergangenheit, die in Deutschland – wie in allen anderen westlichen Staaten auch – lange Zeit vernachlässigt wurde. Erst ab den 90er Jahren rückte die Geschichte des Kolonialismus und seiner Folgen in den wissenschaftlichen Fokus, zunächst an Universitäten und Forschungseinrichtungen in den Verei­nigten Staaten, dann auch in Europa. Im Zentrum stand dabei nicht die Sichtweise der ehemaligen Kolonialherren, sondern die Perspektive jener Menschen, die in den Kolonien lebten. Das Resultat war das Aufbrechen einer bis dato dominierenden eurozentristischen Geschichtsbetrachtung, das einherging mit einem verstärkt globalen Verständnis historischer Zusammenhänge. Wie stark das postkoloniale Denken mittlerweile auch hierzulande Fuß gefasst hat, lässt sich fächerübergreifend an der Vielzahl ihrer Vertreterinnen und Vertreter an deutschen Hochschulen ablesen; sowie daran, dass das Thema bei wichtigen Fachtagungen wie im September 2023 beim 54. Historikertag in Leipzig prominent auf der Agenda steht.

»Historikerstreit 2.0«

Wie in der Politik oder in Unternehmen führen auch in der Wissenschaft grundlegende Perspektivenwechsel nicht nur zu kontroversen inhaltlichen Debatten, sondern sie verfügen auch über eine handfeste machtpolitische Komponente; es geht dabei um Deutungshoheit und Aufmerksamkeit sowie nicht zuletzt um den Zugang zu beschränkten Ressourcen, sei es in Form von Fördermitteln oder Personalstellen.

Das gilt es zu berücksichtigen, führt man sich die (politische) Schärfe vor Augen, mit der die derzeitige Debatte um die Verortung des Holocaust in der deutschen Erinnerung, plakativ als »Historikerstreit 2.0« bezeichnet, ausgetragen wird. Dazu kommt, dass die Diskussion mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, sowie der darauffolgenden militärischen Operation Israels in Gaza, die auch von Israel wohlmeinenden Beobachtern im Westen, Deutschland eingeschlossen, als zu hart und opferreich erachtet wird, massiv an tagespolitischer Brisanz zugelegt hat. Das verdeutlichen die Proteste und gewalttätigen Ausschreitungen von sich selbst als links definierenden Studierenden und Lehrenden an zahlreichen europäischen und amerikanischen Hochschulen.

Sie wollen ihre Solidarität mit den Palästinensern zum Ausdruck bringen, übertreten dabei jedoch in ihrer rigorosen Ablehnung der israelischen Position immer wieder auch die Grenze zum Antisemitismus. Etwa, wenn zum Boykott israelischer Waren aufgerufen wird und jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom universitären Diskurs ausgeschlossen werden sollen, oder wenn die israelische Demokratie historisch undifferenziert in eine Reihe mit autoritären oder totalitären Unrechtsregimen gestellt wird.

Der Begriff »Historikerstreit 2.0« ist eine Anlehnung an den Historikerstreit Mitte der 80er Jahre, in dem es – verkürzt dargestellt – um die Frage der Vergleichbarkeit des Holocaust mit den Verbrechen Stalins ging. Konkret entfachte sich der Disput an einer These Ernst Noltes, der den millionenfachen nationalsozialistischen Mord an den europäischen Juden primär als eine Reaktion auf vorangegangene Gräuel des Bolschewismus wertete – und somit letztlich als einen Akt der Verteidigung. Dem widersprach Jürgen Habermas energisch. Er betonte den singulären Charakter des Holocaust und unterstellte Nolte, den Genozid an den europäischen Juden zugunsten eines nationalkonservativen Geschichtsbildes relativieren zu wollen. Die Perspektive von Habermas hat sich in den Folgejahren weitgehend durchgesetzt, sowohl unter den Fachhistorikern als auch im gesellschaftspolitischen Diskurs in Deutschland.

Um die vermeintliche Singularität des Holocaust geht es auch jetzt wieder. Losgetreten wurde die Diskussion 2021 von dem australischen Historiker A. Dirk Moses, der in dem schweizerischen Online-Portal »Geschichte der Gegenwart« einen Beitrag mit dem auf den Holocaust gemünzten Titel Der Katechismus der Deutschen« publizierte. Darin bescheinigt er den Deutschen einen quasireligiösen Umgang mit dem Holocaust, was unter anderem dazu führe, dass eine vernunftgesteuerte Bewertung der Politik des Staates Israel nicht möglich sei. Eine ausführliche Darlegung hat Moses jetzt in einem schmalen Band veröffentlicht, der auf Deutsch unter der Überschrift Nach dem Genozid bei Matthes & Seitz erschienen ist.

Die altbekannte Relativierung

Wie Nolte 1986 stellt auch Moses die Singularität des Holocaust infrage. Stattdessen verortet er den Mord an den Juden in einer Tradition westlicher kolonialer Verbrechen, die ebenfalls gekennzeichnet gewesen seien von der systematischen Unterdrückung, Vertreibung und letztlich Ermordung der Bevölkerungen. Weder vergleichend betrachtet (etwa mit Blick auf die Dimensionen anderer Völkermorde wie jenem an den Armeniern oder Verbrechen wie der Sklaverei) noch was seine historische Verortung anbelange, komme somit dem Holocaust der einzigartige Stellenwert zu, der ihm heute in der westlichen und allen voran deutschen Erinnerung eingeräumt werde – nämlich jener eines »Verbrechen[s] der Verbrechen«, das in einer Hierarchie der Gräueltaten für alle Zeiten über allen anderen Menschheitsverbrechen anzusiedeln sei.

Zur Unterfütterung dieser Position führt Moses das Prinzip der »dauerhaften Sicherung« ins Feld, welches er dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch entlehnt hat. Denn als ein besonders grausames und irrationales Element des Holocaust werde im Westen gerne genannt, dass er anlass- und bedingungslos erfolgt sei, mit der kategorischen Zielsetzung der vollständigen Vernichtung aller Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet. Für Moses ist dies jedoch ein westlicher Kniff, um sich selbst moralisch reinzuwaschen; schließlich seien die eigenen Verbrechen – so die westliche Argumentation – gerade nicht anlasslos verübt worden, sondern zur Sicherung der kolonialen Besitzungen, zur Abwehr aufständischer Einheimischer oder, wie in jüngster Vergangenheit, zur vermeintlichen Herstellung des Friedens. Wodurch sich sämtliche historischen und gegenwärtigen Untaten des Westens unter Verweis auf den Holocaust kleinreden ließen, wie jüngst im Irak, in Afghanistan oder generell beim Vorgehen Israels gegen die Palästinenser.

Nah bei Nolte

Anstatt es dabei zu belassen dem Westen das Messen mit zweierlei Maß zu attestieren – was sicherlich in dem einen oder anderen Fall zutrifft –, stellt Moses jedoch auch die Vernichtung der Juden in den Zusammenhang der »dauerhaften Sicherung«. Im »utopischen Streben [der Nationalsozialisten] nach Sicherheit« glaubt er die eigentliche Triebfeder für die Schoah zu erkennen. Sie wird zum »radikalsten Fall präemptiver Gegenwehr in der Weltgeschichte« erklärt, was sich argumentativ nahe an Noltes These von der Bolschewismus-Abwehr als ursächlich für den Holocaust bewegt. Dass die Nationalsozialisten selbst wenige Tage vor Kriegsende noch fanatisch an der Ermordung der Juden festhielten, zu einem Zeitpunkt also, als die Sicherheitsrisiken definitiv anderweitig verortet waren, ficht Moses nicht an.

Entsprechend scharf fällt die Kritik an seinen Darlegungen aus. Der Verlag C.H.Beck hat dazu ein schmales Bändchen veröffentlicht, dessen Beiträge bereits vor der deutschen Ausgabe des Moses-Buches erschienen sind, sich jedoch explizit auf die zuvor bereits andernorts publizierten Thesen beziehen.

»An der grundsätzlichen Diagnose der strukturellen Präzedenzlosigkeit des Holocaust ändert sich nichts.«

Natürlich lasse sich der Holocaust in eine globale Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts einbinden, konstatiert die Direktorin des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts, Sybille Steinbacher; auch sei es bereits seit den 60er Jahren wissenschaftlicher Konsens, dass die Expansionspolitik des Nationalsozialismus im Osten kolonialistische Züge aufgewiesen habe. Daher liefere die neuerliche Debatte um die Verknüpfung von Kolonialismus und Holocaust zwar durchaus einige erhellende Momente, etwa wenn es um personelle Kontinuitäten und generationelle Bezüge gehe, die jedoch, auch das habe die Forschung ergeben, nicht sehr ausgeprägt gewesen seien; gleichwohl ändere sich dadurch nichts an der grundsätzlichen Diagnose der strukturellen Präzedenzlosigkeit des Holocaust.

Den entscheidenden Unterschied zwischen Holocaust und Kolonialverbrechen sieht der israelische Historiker Saul Friedländer im »historischen Kontext des jeweiligen Genozids«. Während die postkoloniale Theorie darzulegen versuche, der Vernichtung der europäischen Juden seien primär praktische Erwägungen wie Sicherheitsinteressen und Ausbeutung zugrunde gelegen, negiere dies den wahren Kern des Verbrechens: die paranoide NS-Ideologie mitsamt ihrer »obsessiven Purifizierungspraktiken«. Dem pflichtet Jürgen Habermas bei, der in der Wendung gegen den »inneren Feind, der getötet werden muss« das entscheidende Distinktionsmerkmal zwischen Holocaust und kolonialen Unterdrückungs- und Ausbeutungspraktiken erkennt.

Einen umfassenden Blick auf die derzeitigen geschichtspolitischen »Erinnerungskämpfe« liefert der gleichnamige Sammelband, den der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer bei Reclam herausgegeben hat. Das Holocaustgedenken ist dabei lediglich ein Aspekt unter mehreren. Der in Schottland lehrende Historiker Thomas Weber liefert einen lesenswerten Beitrag zur Verantwortung der Hohenzollern bei Hitlers Machteroberung – und was das für etwaige Restitutionsansprüche nach 1990 bedeutet. Christoph Nonn (Düsseldorf) rekapituliert differenziert die Kontroverse um den Bestand von Bismarck-Denkmälern in verschiedenen deutschen Städten, und zeigt dabei, dass die Diskussionen vor Ort meist sehr viel moderater und versöhnlicher verliefen als jene in den sozialen Medien und auch im akademischen Raum. Und Eckart Conze (Marburg) blickt noch einmal zurück auf die Kaiserreich-Debatte des Jahres 2021 und hinterfragt kritisch, wie »modern« und »fortschrittlich« der erste deutsche Nationalstaat 1871 tatsächlich war.

Deutlich mehr politischen Furor hingegen weisen auch hier die Texte zur Holocaust-Erinnerung auf. Für A. Dirk Moses, der in seinem Beitrag sehr viel polemischer argumentiert als in Nach dem Genozid, trägt das deutsche Erinnern an die Ermordung der Juden obsessive Züge mit der eindeutig politischen Stoßrichtung der bedingungslosen Unterstützung Israels (Stichwort »Staatsräson«). Kritische postkoloniale Stimmen hingegen würden als eine Gefahr für die vorherrschende »Leitkultur« systematisch mundtot gemacht. Professionelle »Obsessionsmanager« wie der Antisemitismus-Beauftrage der Bundesregierung, Felix Klein, oder der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, trügen zu einem Weltbild bei, in dem die Palästinenser als Feinde Israels zugleich als Feinde Deutschlands gälten. Mit dem Resultat der Stigmatisierung von Muslimen in Deutschland als »politische Hauptträger der Judenfeindschaft«.

Die Tatsache, dass Deutschland 2023/24 rund 125 Millionen Euro für die Zusammenarbeit mit palästinensischen Einrichtungen und Organisationen bereitgestellt hat, was nun aufgrund des Terrorangriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023 auf dem Prüfstand steht, erwähnt Moses nicht.

»Zutreffende Analyse mit politischem Aktivismus verknüpft nimmt mitunter groteske Züge an.«

Wie zutreffende Analyse mit politischem Aktivismus verknüpft mitunter groteske Züge annehmen kann, verdeutlicht der Beitrag von Jürgen Zimmerer. Ob die deutsche Vergangenheitsbewältigung nach 1945 tatsächlich so »erfolgreich« war, wie in der Rückschau gerne behauptet wird, ist in der Tat eine berechtigte Frage; sowohl die Befassung mit dem Holocaust als auch mit den Kolonialverbrechen setzte sehr spät ein. Die »Zementierung des Holocaust« als Kernelement der historischen Identität Deutschlands erachtet Zimmerer, wie auch Moses, als dezidiert politisch motiviert; er wittert sogar eine »klammheimliche« konservativ-revisionistische Agenda. Denn das »Performative des (kritischen) Bekenntnisses zur Geschichte des Drittens Reiches« kaschiere in Wahrheit die realpolitische Re-Nationalisierung des Identitätsdiskurses.

Sichtbar werde dies etwa im Berliner Stadtbild, wo es ohne das 2005 fertiggestellte Holocaustmahnmal keinen Wiederaufbau des Hohenzollern-Stadtschlosses gegeben hätte – für Zimmerer der prototypische Ausdruck einer großmannssüchtigen, antidemokratischen und imperialen deutschen Staatsarchitektur. So befördere eine ritualisierte und im Kern hohle Holocaust-Erinnerung Geschichtsrevisionismus, der sich in Gestalt des Humboldt-Forums als »steingewordener Schlussstrich« manifestiere.

»Bemerkenswert am ›Historikerstreit 2.0‹ ist nicht zuletzt die Verschiebung der politischen Kategorien.«

Bemerkenswert am »Historikerstreit 2.0« ist nicht zuletzt die Verschiebung der politischen Kategorien. Während sich im Historikerstreit 1986/87 die Verteidiger der Singularität des Holocaust als Bollwerk gegen nationalkonservative Tendenzen verstanden, denen der Mord an den europäischen Juden als ein reaktiver und letztlich defensiver Akt galt, haben wir es heute mit umgekehrten Vorzeichen zu tun: Vertreterinnen und Vertreter einer postkolonialen Perspektive erkennen im Festhalten an der Singularitätsthese ein reaktionäres Instrument der Status-quo-Bewahrung, womit Ansprüche anderer Opfergruppen abgewehrt beziehungsweise marginalisiert werden sollen. Dass dies in Zeiten ambitionierter und differenzierter Restitutionsdebatten über in Kolonialzeiten geraubte Kunstgegenstände allenfalls bedingt den politischen Wirklichkeiten entspricht, fällt in der ideologischen Hitze des Gefechts kaum ins Gewicht.

Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, äußert angesichts des diskursiven Eifers einiger postkolonialer Akteure daher den Verdacht, dass der historisch-wissenschaftlichen Fragestellung der Singularität des Holocaust im Kern wohl doch eher eine dezidiert politische und gegen den Staat Israel gerichtete Agenda innewohnt. Er räumt aber ein, dass die deutsche Positionierung zu Israel in der Tat nicht allein vom Holocaust abhängig sein dürfe, zumal dann, wenn in Israel eine rechtsextreme Regierung das Sagen habe. So wohltuend vernünftig derlei Differenzierung ist, bei A. Dirk Moses landet Mendel dennoch auf der Liste der deutschen »Obsessionsmanager«.

Saul Friedländer/Norbert Frei/Sybille Steinbacher/Dan Diner: Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust. C. H. Beck, München 2022, 91 S., 12 €.

A. Dirk Moses: Nach dem Genozid. Grundlage für eine neue Erinnerungskultur (Aus dem Englischen von David Frühauf). Matthes & Seitz, Berlin 2023, 159 S., 15 €.

Jürgen Zimmerer (Hg.): Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein. Reclam, Ditzingen 2023, 536 S., 25 €.

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