Als ich im Jahr 1969 zum ersten Mal – damals mit den Jusos in Hessen-Süd – Wahlkampf für die SPD machte, lautete unser zentrales Motto: »Die Politik nicht den Politikern überlassen!« Wir waren überzeugt, dass Politik in einer Demokratie mehr sein müsse, als periodische Wahlen und Regierungs- bzw. Verwaltungshandeln. Ohne eine lebendige Zivilgesellschaft, ohne kritische Intervention von der Basis der Gesellschaft her, so unsere Überzeugung, falle jede Demokratie notwendig hinter ihre emanzipatorischen Möglichkeiten zurück, was im besten Fall in einem miefigen Paternalismus, schlimmstenfalls aber in offener Unterdrückung enden müsse. Als dann Willy Brandt wenige Jahre später mit dem Slogan »Mehr Demokratie wagen« für die Sozialdemokratie einen epochalen Sieg errang und Bundeskanzler wurde, hoffte ich wie viele meiner Altersgenossen, dass nun endlich der dumpfe Autoritarismus, die Buckelei gegenüber der Obrigkeit und die folgenlose Nörgelei und Ohne-mich-Mentalität verschwinden würden und ein neuer Geist des gesellschaftlichen Engagements die den Deutschen von den westlichen Alliierten geschenkte Demokratie beleben würde.
Für einen kurzen historischen Moment war die SPD eine wirklich lebendige, heftig um die richtigen politischen Lösungen streitende, für manche ihrer Amts- und Mandatsinhaber unbequeme, aber bei Wahlen erfolgreiche Partei. Die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen, die Friedens-, die Umwelt-, die Frauen- und die Alternativbewegung, traten auf den Plan und befeuerten die Debatten in den SPD-Ortsvereinen, in den damals noch aktiven Arbeitsgemeinschaften der Partei und auf Parteitagen. Günter Grass gründete unter dem von Walt Whitman entlehnten Motto »Dich singe ich, Demokratie!« mit anderen eine Wählerinitiative, die sich mit eigenen Veranstaltungsformen und eigenen Themenschwerpunkten in die Wahlkämpfe der SPD einmischte.
Die Grundwertekommission erarbeitete Papiere, die die neuen Impulse aus der Zivilgesellschaft aufgriffen und Konsequenzen für die Programmatik der Partei formulierten. Sie tat dies seit den 70er Jahren mit ausführlichen Stellungnahmen zu den Anliegen der Neuen Sozialen Bewegungen, sie tut dies bis heute mit Veröffentlichungen wie »Aktivierung der Bürgergesellschaft« (2001), »An den Grenzen des Wachstums – neuer Fortschritt ist möglich« und »Die Zukunft der SPD als Volkspartei« (beide 2010) oder »Grundlagen einer humanen Ökonomie« (2013), »TTIP und die sozialdemokratischen Grundwerte« (2015) und »Ein neues Jahrhundert sozialer Demokratie« (2017) (nachzulesen auf der Webseite: grundwertekommission.spd.de).
Vieles von dem hier Aufgeschriebenen floss in die Grundsatzprogramme der SPD ein. Sogar das, was die Jungsozialisten seinerzeit – vielleicht nicht eben glücklich – »Doppelstrategie« nannten, fand sich unter dem Namen »Vertrauensarbeit der Partei« in dem ansonsten ziemlich technokratischen »SPD-Orientierungsrahmen '85« für die Jahre 1975–1985 wieder. Aber die innere Erstarrung und die zunehmende »Verzwergung« der SPD (Heribert Prantl) konnten all diese Bemühungen letztlich nicht verhindern. Als die Schockwellen der Jahre nach 1968 verebbten, als der große Elan der »neuen Ost- und Entspannungspolitik« im Triumph der deutschen Einheit und in der ihm folgenden Ernüchterung angesichts der ausbleibenden »blühenden Landschaften« endete, schloss auch die SPD allmählich wieder ihre Poren. In den Untergliederungen der Partei und erst recht an ihrer Spitze wurden die Impulse aus den Zivilgesellschaften in Ost und West und die Diskussionsangebote der Grundwertekommission zumeist kaum zur Kenntnis genommen, blieben auch die in aufwendigen Prozessen er- und umgearbeiteten Grundsatzprogramme der Partei weitgehend unbekannt oder zumindest einflusslos.
In den Gemeinden, in den Ländern, im Bund und in der EU machten Sozialdemokraten oft weiterhin respektable Politik, was ihnen aber öffentlich kaum gutgeschrieben wurde, weil sie es immer weniger schafften, die unvermeidliche Professionalisierung der Parteiarbeit dauerhaft mit der Öffnung zur Zivilgesellschaft und zu ihrer eigenen Partei- und Wählerbasis zu verbinden. Und manche wollten dies wohl auch gar nicht, weil sie in demokratischer Mitwirkung der Basis eher eine störende Einmischung denn nützliche Kooperation sahen. Die Jugend und die gebildete Mittelschicht wandten sich den Grünen zu. Der neoliberale Sündenfall unter Gerhard Schröder, die Nachahmung der blairschen Politik der Demontage des Sozialstaats und die angeblich alternativlose Ausrichtung des politischen Handelns an den Vorgaben der internationalen Geldmärkte verprellte einen Großteil der vormals sogenannten »Stammwähler« im Arbeiter- und Angestelltenmilieu. An die Stelle des offenen argumentativ geführten innerparteilichen Streits traten Kungelei und inhaltlose Machtspiele oben und beleidigtes Mosern unten. Die unteren Parteigliederungen verloren rapide an Bedeutung, die Politik der SPD wurde wieder fast ausschließlich in den Parlamenten, in den Amtsstuben und in elitären Zirkeln gemacht. Der Kontakt der Macher zur Parteibasis und zur Zivilgesellschaft schmolz auf ein Minimum zusammen. Dafür schwoll das Heer großzügig bezahlter Berater und Lobbyisten an.
Es gibt ein Gedicht von Bertolt Brecht, das ich neulich in einem vergilbten Reclam-Bändchen wieder entdeckte:
Wer aber ist die Partei? / Sitzt sie in einem Haus mit Telefonen? / Sind ihre Gedanken geheim, ihre Entschlüsse unbekannt? / Wer ist sie?
Brechts Fragen galten einer stalinistischen Parteiführung, die das praktizierte, was die Kommunisten »demokratischen Zentralismus« nannten, was aber mit Demokratie nichts zu tun hatte. Dennoch sind sie auch für Sozialdemokraten interessant, und seine Antworten erst recht:
Wir sind sie. / Du und ich und wir – wir alle. / In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf.
Weit über 400.000 Mitglieder zählt die SPD, mehr als jede andere Partei in Deutschland. Immer noch. Wenn diese vielen Menschen sich klarmachten, dass es auch und vor allem an ihnen liegt, ob die zahlreichen Probleme, vor denen wir stehen, bewältigt werden, dass es von ihrem Engagement abhängt, ob das eigene Land, ob Europa, ob die Weltgemeinschaft in Zukunft in gesichertem Frieden leben kann, dann wäre schon viel gewonnen. Wenn sie, statt nur zu mosern, ihre Kritik laut und deutlich einbrächten, wenn sie die eigenen Handlungsmöglichkeiten ausschöpften und die Politik nicht den Berufspolitikern allein überließen, wäre mir um die Zukunft der Sozialdemokratie nicht bange. Die Debatte um die Erneuerung der SPD ist eröffnet, sie verbindet sich zurzeit mit dem aufwendigen Prozess einer Neubesetzung der Parteiführung. Das ist unvermeidlich und vielleicht sogar eine Chance. Zugleich hat der Generalsekretär der Partei die organisatorische Neuordnung der Parteiarbeit zum Thema gemacht. Die Jusos haben unter Kevin Kühnert zu neuer Sichtbarkeit gefunden. Zusammen mit einer neubelebten Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) und Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) könnten sie dazu beitragen, die Gelenkfunktion zur Zivilgesellschaft zu stärken.
Dennoch: Eine gründliche Erneuerung der SPD kann nur von unten gelingen, und das heißt vor allem auf der Ebene der kommunalen Politik, in den Städten und Gemeinden. Aber genau hier fehlt es zurzeit überall im Land an Menschen, die Verantwortung übernehmen wollen. Vor allem in den kleineren Gemeinden fehlen Bewerber für die zumeist ehrenamtlichen Bürgermeisterstellen. Hier könnten Sozialdemokraten zeigen, wie sie zusammen mit den Menschen Probleme lösen. Sie könnten neue Ideen aufgreifen, mit verschiedenen Formen von Beteiligung und Selbstverwaltung experimentieren und so ihre Partei zu einem Labor gesellschaftlicher Erneuerung machen. Mancherorts geschieht dies schon heute, was eine Öffentlichkeit, auch eine innerparteiliche, die nur nach Berlin und Brüssel blickt, oft gar nicht wahrnimmt. Nötig wäre aber, dass die Parteiführung dieses gesellschaftliche Engagement zu einem zentralen Schwerpunkt der Parteiarbeit erklärt, die Schulung von Bürgermeisterkandidaten fördert und Mitglieder, die in den Kommunen sich ehrenamtlich engagieren, nach Kräften unterstützt.
Natürlich, es ist und bleibt wichtig, welche Politik auf der Bundesebene und in der EU gemacht wird, welche Rolle Deutschland in der Weltpolitik spielt, und natürlich müssen die großen Weichenstellungen in der Ökologie- und in der Sozialpolitik auf den oberen Ebenen erfolgen, und auch hier muss die SPD ihr Profil deutlich schärfen. Aber auf der kommunalen Ebene kann es am ehesten gelingen, die sich seit vielen Jahren gefährlich weitende Kluft zwischen den Machern der Politik und den von ihr Betroffenen zu überbrücken. Geschieht das nicht, werden wir in Zukunft immer häufiger erleben, dass Rechtsradikale, wie dies im hessischen Altenstadt kürzlich schon geschehen ist, die Lücke besetzen, die die Demokraten gelassen haben.
Damit die vielen guten Ansätze, die es überall im Land gibt, nicht wieder verdorren, ist es dringend nötig, dass auf den übergeordneten politischen Ebenen der rechtliche und finanzielle Rahmen für die Kommunalpolitik verbessert wird.
Man lese das soeben erschienene Buch des Bürgermeisters der sächsischen Kleinstadt Augustusburg Dirk Neubauer (Das Problem sind wir. Ein Bürgermeister in Sachsen kämpft für die Demokratie), in dem er anschaulich zeigt, was unter schwierigsten Bedingungen in einem stark von der AfD geprägten Milieu trotz allem möglich ist – und was alles möglich wäre, wenn den Ermöglichern an der Basis unbürokratisch geholfen würde, statt sie mit unsinnigen Auflagen zur Verzweiflung zu bringen. Statt sich weiterhin in den sinnlosen Streit über Fortsetzung oder Aufkündigung der Groko zu verbeißen, sollte die SPD lieber überall, wo sie Einfluss hat, von den Landkreisen über die Länderregierungen bis zum Bund und zur EU dafür sorgen, dass die rechtlichen und finanziellen Bedingungen für die gemeindliche Selbstverwaltung entschlossen verbessert werden.
»Über Jahre hinweg«, so Neubauer, »wurde Mangel verwaltet. Und weiterentwickelt. Immer größere Einheiten wurden gebildet, um Kosten zu sparen. Riesige Landkreise entstanden. Gemeinden wurden zusammengelegt. Das Schulsystem wurde ausgedünnt, und auch eine Polizeistreife hat inzwischen in manchen Gegenden auf dem Land den Seltenheitswert eines australischen Schnabeltiers.« Für viele Gemeinden auf dem Land ist die Lage inzwischen katastrophal. Kein Wunder, dass sich viele Menschen von der Demokratie abwenden. Auch darum muss ein politischer Sinneswandel, muss eine entschiedene Reform zugunsten der kommunalen Selbstverwaltung oberste Priorität erhalten. Grundsatz dabei sollte sein, dass bei der finanziellen Förderung und behördlichen Planung und Genehmigung von Projekten der »finale« Regelungstyp vor dem »konditionalen« Vorrang erhält. Das heißt, die übergeordneten Stellen sollten darüber wachen, dass das Ziel der geförderten Maßnahme in einem angemessenen Zeitraum und in rechtlich korrekten Verfahren erreicht wird, aber die Mittel, mit denen dieses Ziel angestrebt wird, weitgehend offen lassen, damit je nach lokal oder regional vorhandenen materiellen und intellektuellen Ressourcen unterschiedliche Wege zur Erreichung des vorgegebenen Ziels eingeschlagen werden können.
Die Wahlerfolge der AfD und die damit verbundene Gefahr für die Demokratie haben sicher viele Gründe. Ein entscheidender aber ist die weit verbreitete Meinung, »die da oben« in der Regierung und in den Zentralen der »Altparteien« kümmerten sich nicht um die Belange der Bürger, schwebten längst in Sphären, die einen ernsthaften Dialog mit ihnen unmöglich machten. Diesem sich ständig weiter ausbreitenden Verdacht kann man am besten dort entgegenwirken, wo Politik vor den Augen und zusammen mit den Bürgern gemacht wird oder zumindest gemacht werden kann: in den Kommunen. Auch darum muss die SPD, wenn sie nun mit der Erneuerung der Partei und der Reorganisation der Parteiarbeit beginnt, ihr Augenmerk vor allem auf die Kommunalpolitik richten.
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