Das Wahlergebnis vom 24. September war für Viele ein Schock. Eine völlige Überraschung konnte es allerdings nicht sein, unabhängig von den Voraussagen. Selbst wenn die SPD einige Prozentpunkte mehr erhalten hätte, wären grundsätzliche Überlegungen erforderlich gewesen. Die Chance liegt jetzt darin, dass wir davor nicht mehr die Augen verschließen können.
Viele Ursachen sind in den politischen und persönlichen Konstellationen der letzten Jahre in Deutschland begründet: In den eigentlich zwölf Jahren Große Koalition (trotz vier Jahren Opposition von 2009 bis 2013, in denen die SPD aber europapolitisch auch in Sachen europäische Wirschaftspolitik faktisch wie eine Großkoalitionärin gehandelt hat) hat die SPD für viele potenzielle Wählerinnen und Wähler ihre politische Eigenständigkeit verloren. Dazu trugen massive Enttäuschungen aufgrund der Agenda 2010 ebenso bei wie die »sozialdemokratisierende« Politik der Kanzlerin und die immer wieder massive Abgrenzung der SPD-Fraktion im Bundestag gegen DIE LINKE, was auf Länderebene anders war. De facto stellte sich die SPD damit öffentlich an die Seite der CDU – und wurde auch so wahrgenommen –, die aber als größere Partei mit der Kanzlerin die Meriten der Großen Koalitionen erntete. Der ständige Niedergang der SPD war deshalb logisch und erwartbar, und er bleibt es auch in der Opposition, wenn die SPD ihre Politik jetzt nicht grundlegend ändert, z. B. indem sie in der Auseinandersetzung mit der Linkspartei einfach Ruhe gibt und sich auf die Union als Gegnerin konzentriert.
Das Verhalten der SPD resultierte – und hier liegt auch der tiefere Grund für den Niedergang der gesamten europäischen Sozialdemokratie – aus einem Mangel an eigenständiger, theoretisch untermauerter Wirtschaftspolitik und, damit zusammenhängend, Europapolitik. Hier ist auch heute noch kein klares sozialdemokratisches Profil der SPD erkennbar, hinter dem die ganze Partei stünde. Deshalb ist es jetzt entscheidend, dieses Profil innerhalb der Partei so zu erarbeiten, dass die SPD wieder an einem Strang ziehen und die Wählerinnen und Wähler überzeugen kann. Dafür trägt sie, auch wegen ihres Gewichts, eine europäische Verantwortung, für Europa und die europäische Sozialdemokratie.
Der Rückgang der Zustimmung für die Sozialdemokratie in ganz Europa wird erst überwunden werden, wenn es ihr gelingt, auf die deregulierte, ökonomische Globalisierung eine politische, ökonomische, soziale und kulturelle Antwort zu finden, die sie als profilierte und aussichtsreiche, zugleich realistische politische Kraft mit überzeugenden Persönlichkeiten im Sinne ihrer Grundwerte öffentlich erkennbar macht.
Folgerungen für eine neue Politik
Grundlegend für eine solche Antwort ist die Vision von einem gelungenen Leben, das für alle Menschen auf der Welt sinnvoll und erreichbar sein muss. Über das eigene Leben frei entscheiden zu können, angesichts der gegenseitigen sozialen Abhängigkeiten auf einen gerechten Ausgleich zu achten und Solidarität zu praktizieren – dies sind sozialdemokratische Leitlinien für ein gelungenes Leben. Dafür wollen Sozialdemokraten überall auf der Welt, nicht nur in ihren Wahlkreisen, die Voraussetzungen schaffen helfen. Der Geist des historischen Internationalismus zeigt sich heute in der Grundhaltung, alle lokalen Herausforderungen in globalen Zusammenhängen zu sehen. Nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch aus wohlverstandenem eigenen Interesse. Abschottung steht in einem fundamentalen Gegensatz zur sozialdemokratischen Tradition und zu den Chancen erfolgreicher sozialdemokratischer Politik.
Entscheidende Instrumente sozialdemokratischer Politik waren immer demokratische Organisationen (Parteien, Gewerkschaften, »Vorfeld«-Vereine) und vor allem der demokratische (National-)Staat – nicht eine wirtschaftliche oder aus historischen Privilegien stammende Macht. Beide Instrumente bleiben wichtig, müssen aber erheblich ergänzt werden, weil sich die Welt verändert hat. Vor allem die politische Reichweite der Nationalstaaten ist deutlich kleiner, rechtlich sind die Staaten aber noch stark und vor allem kulturell für viele Menschen noch wesentlich.
Die transnationalen Herausforderungen müssen in der EU und global auch transnational angegangen werden. Zugleich müssen die Gemeinden, als Orte des täglichen Lebens, erheblicher Wirtschaftstätigkeit und konkreter institutionalisierter Bürgerbeteiligung gestärkt und durch beratende Bürgergremien – wie durch Zusammenschlüsse öffentlicher, zivilgesellschaftlicher und privater Akteure (sogenannte multistakeholder governance) oder konstituiert durch Losverfahren – ergänzt werden, um Partizipation zu erweitern und legale und faktische Legitimation in unserer Demokratie wieder besser zusammenzubringen.
In diese Richtung geht ein weltweiter Trend. Durch die Verbindung von globaler Orientierung und lokaler partizipatorischer Umsetzung kann die Identifikation mit demokratischer und mit sozialdemokratischer Politik erneuert werden.
Die entschiedene – auch finanzielle – Stärkung der Gemeinden (ebenso auf dem Land, das nicht abgehängt werden darf!) und der Städte liegt in der Tradition eines dezentralen Sozialismus. Sie kann mit der weiteren sozialistischen Tradition der Genossenschaften, die derzeit sehr im Aufwind sind (bei Wohnungen, aber auch bei Unternehmen), gut verbunden werden.
Ökologie und Gerechtigkeit gehören zusammen
Neben der Kombination von global und lokal muss die SPD inhaltlich vor allem auf eine enge Verknüpfung von Gerechtigkeitsfragen mit Klima-, Energie- und Umweltthemen zielen. Eine der wichtigen Implikationen dabei muss bewusst gemacht werden: Klimaschutz geht nur, wenn es zwischen Nord und Süd und innerhalb beider Sphären wieder gerechter wird. Radikale Veränderungen der Technologien und Wirtschaftsstrukturen provozieren Brüche, die durch Bildung und soziale Sicherung abgefedert werden müssen, um den sozialen Frieden in Gerechtigkeit zu erhalten. Ökologie und Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen. In dieser festen Verbindung unterscheidet sich die SPD von den GRÜNEN.
Klimaschutz geht nicht rein technologisch, sondern braucht Bürgerteilhabe. Seit der europäischen frühen Neuzeit gab es einen starken Trend, Wandel von oben durch steuernde politische Herrschaft, Technologie und Kontrolle zu bewirken. In Zukunft braucht Wandel – regulierte – freiwillige Kooperation und Vernetzung. Die SPD muss die Freiheits- und Partizipationspartei für einen gerechten und solidarischen Wandel sein, gegen die aktuelle Versuchung, Demokratie durch Technokratie zu ersetzen. Dazu muss sie auch eigene Gewohnheiten und Neigungen überwinden!
Das geht nur auf der Basis eines Menschenbildes, das den Bürgerinnen und Bürgern ein Grundvertrauen in ihre Fähigkeit zu demokratischer Kooperation entgegenbringt. Das steht dem autoritären Menschenbild der Konservativen und Rechten diametral entgegen. Jenes setzt nämlich auf Druck und Angst und ist auch einer Reihe von Sozialdemokraten bewusst oder unbewusst eigen. Darüber müssen sich Sozialdemokraten klar werden.
Entscheidend für einen neuen Erfolg ist unsere Antwort darauf, wie wir die ökonomische Globalisierung politisch – d. h. sozial gerecht und ökologisch – gestalten. Welche Instrumente, welche Verfahren, welche Akteure? Welche strategischen realistischen Antworten haben wir auf den von uns programmatisch kritisierten Neoliberalismus?
Die Zustimmung zur Markwirtschaft im Godesberger Programm muss um eine wirtschaftspolitische Strategie ergänzt werden, die den Kapitalismus über den Nationalstaat hinaus, der der sozialen Marktwirtschaft (dem »Rheinischen Kapitalismus«) theoretisch und faktisch zugrunde lag, transnational wieder zähmt, und zwar weltweit.
Das haben wir bisher nicht geschafft, und der Neoliberalismus hat es nicht gewollt. Das ist theoretisch schwer und verletzt mächtige Interessen. Aber dafür gibt es auch – über unsere engere Anhängerschaft hinaus – eine zunehmende Unterstützung unter den Bürgerinnen und Bürgern weltweit sowie theoretische wie praktische Ansätze. Ziel darf nicht eine bessere neoliberale Politik, sondern muss deren sozialdemokratische Ablösung sein.
Das traditionelle Mittel der Verstaatlichung, das gegenwärtig von Jeremy Corbyn propagiert wird und ihm viel Zustimmung bringt, erscheint dafür langfristig ungeeignet. Es wird in Teilen auch in Deutschland von der Linkspartei vertreten. Es schwächt die Initiativbereitschaft, übersieht das Bürokratie- und Korruptionsrisiko und konzentriert sich wieder auf den Nationalstaat, der es in der Globalisierung nicht schaffen kann.
Stattdessen sollten Transnationalität, Dezentralisierung, Teilhabe, Transparenz und kooperativ-solidarische Verfahren unsere Politik der Bändigung des globalen Kapitalismus leiten. Dabei haben wir die Chance, in der EU viele Anknüpfungspunkte zu finden, wenn wir deren Institutionen nicht neoliberal und nationalistisch handhaben. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron bietet hier eine wertvolle mögliche Partnerschaft an.
Bändigung des (digitalen) Kapitalismus
Bändigung des Kapitalismus, den manche aktuell als im Wesentlichen »digitalen Kapitalismus« bezeichnen, muss weiter ausbuchstabiert heißen: Arbeitslosigkeit überwinden zugunsten »guter« Arbeit, umweltverträgliche gemeinsame Investitionen tätigen, öffentliche Güter wie Bildung, Gesundheit, Wohnen, Absicherung von Lebensrisiken, Rechtsstaatlichkeit transnational organisieren, ohne zu uniformieren, kulturelle Bildung um ihrer selbst und um der sozialen und ökonomischen Innovationen willen fördern, Menschlichkeit, Vielfalt und Solidarität zwischen den Menschen im Sinne unserer Vision politisch und kulturell unterstützen.
Instrumente in der EU können sein: Angleichung der Unternehmenssteuern und Einführung der Transaktionssteuer in Europa; finanzielle Stärkung der Kommunen zur Umsetzung sozialökologischen Wandels und zugunsten von kommunaler, multistakeholder-basierter (nicht nur staatlicher!) Entwicklungszusammenarbeit; Förderung technologischer und sozialer Innovationen; finanzielle Unterstützung vor allem im personalen Bereich der Bildung.
Für eine klar profilierte, erkennbare und praktisch erfolgversprechende wirtschaftspolitische Alternative zum Neoliberalismus braucht die SPD jetzt dringend zum einen eine scharfsinnige theoretische und empirische Auseinandersetzung mit der sogenannten »Angebotstheorie« im Unterschied zur »Nachfragetheorie«, in der sie Einwände gegen ihre eigenen Positionen ernst nimmt. Hier ist auch die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften essenziell. Und zum zweiten muss sie sich mit den marktradikalen (Haushalts-)Gleichgewichtstheorien auseinandersetzen. Das ist auch deshalb dringend notwendig, um innerhalb der SPD zu einem einheitlichen Verständnis von Wirtschaftspolitik zu kommen.
Die Folgen der »Angebotstheorie«, die seit 30 Jahren verfolgt wird, sind die Unterminierung der Gewerkschaften, der sozialen Sicherung der Arbeitnehmer und der Verlässlichkeit von Arbeit; die Beförderung von Krisen durch die Zersetzung sozialer Stabilisatoren; eine enorme Steigerung der Ungleichheit, die flächendeckende Verunsicherung der Menschen, die Unterminierung ihres Selbstwertgefühls sowie die Förderung des Nationalismus und des menschenverachtenden Rechtsextremismus. Die Menschen geben die Verachtung an die Politik weiter, die sie in der wettbewerbsfixierten und unregulierten Gestalt der kapitalistischen Wirtschaft erfahren und beobachten, auch wenn sie selbst materiell noch gesichert sind. Ein Ziel könnte sein, die Theorien von John Maynard Keynes unter der Bedingung der Globalisierung weiterzuentwickeln. Die Gefahr von Verschuldung (moral hazard) und von Strohfeuer-Investitionen muss ernst genommen werden, aber darf nicht alles dominieren.
Eine Machtperspektive für die SPD, für eine wirklich sozialdemokratische, also nicht neoliberal verwaschene Regierungspolitik, gibt es m. E. nur mit der Linkspartei. Sie sollte inhaltlich herausgefordert, aber nicht emotional als Hauptfeind angegangen werden.
Die SPD hat jetzt keine Zeit zu verlieren. Sie muss sich schnell an ihre Erneuerung machen.
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