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Nach den Spielen von Peking wird Paris 2024 zur letzten Hoffnung für die olympische Idee Erniedrigt und beraubt

Keine Eröffnung der Spiele ohne die Beschwörung der Olympischen Idee und ihrer Bedeutung für die Menschheit. Im Zentrum des Geschehens bei den Winterspielen 2022 ging es diesmal allerdings nicht wirklich um ideelle Werte, sondern um die Macht über die Olympischen Spiele. Wer diese Macht hat, bestimmt, welche Botschaft die Spiele haben, an wen sie adressiert ist und welche Freiheiten den Beteiligten zugestanden werden.

Das schien bisher unstrittig: Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat die Macht über das olympische Geschehen; Olympia ist ein universales Schauspiel; es ist der ganzen Menschheit gewidmet; alle Beteiligten haben die Gesetze des Gastgebers zu respektieren. Wie aber die Grundrechte Freiheit und Achtung der Menschenrechte, die die zentralen Voraussetzungen internationaler Sportwettkämpfe sind, in diesen Kontext eingepasst werden, stellt das IOC nicht zur Diskussion. Im Gegenteil, es untersagt während der Spiele eine Auseinandersetzung mit diesem Problem. In Einzelfällen überlässt es dem Gastgeber, wie er damit umgeht.

An dieser Stelle klafft im olympischen Reglement eine Lücke. Das wird sofort deutlich, wenn man fragt, wer »der Gastgeber« der Olympischen Spiele ist. Das IOC sagt seit Beginn des 20. Jahrhunderts, Gastgeber sei die Olympiastadt, obwohl bei fast allen Spielen die Olympiastadt bedeutende Mittel vom jeweiligen Staat erhalten hat. Dessen Aufgabe ist es auch, den Schutz der Freiheit der Beteiligten und die Beachtung der Menschenrechte in der Olympiastadt zu garantieren. Jedes Gastgeberland betrachtet dies als eine eminent politische Angelegenheit und steht dafür ein, die offen gebliebene Lücke mit seinen politischen Auffassungen, Gesetzen, Normen, seiner Polizei und Sicherheitsorganen (einschließlich der Geheimdienste) zu schließen.

Während der Vorbereitung und Durchführung der Spiele wird von seinen staatlichen Institutionen höchste Aktivität erwartet, um mögliche Gefahren vorherzusehen und zu verhindern. Olympische Spiele sind schon aufgrund ihrer internationalen Anziehungskraft politisch aufgeladen. In dieser Hinsicht ist es bedeutsam, welche Befugnisse die Polizei und der Sicherheitsapparat haben und dass deren Aktivitäten nicht die freie Meinungsäußerung von Sportlerinnen und Sportlern einschränken.

Mit seiner Verhinderung politischer Stellungnahmen bei den Spielen leugnet das IOC, dass es diese bedeutsame Lücke offengelassen und damit einen Ort potenzieller Politisierung geschaffen hat. Diese (vermutlich gewollte) Blindheit hat Folgen für das Verhältnis des IOC zum Staat des Gastlandes. Es ist zwar Inhaber aller Rechte an den Spielen, verfügt aber über keine eigenen Machtmittel außer den Sanktionsmöglichkeiten, die aber nur die sportlichen Wettkämpfe betreffen: Ein Sportler kann disqualifiziert werden, der Gastgeber jedoch nicht. Wenn das IOC den Austragungsort bestimmt und die Verträge mit ihm unterschrieben hat, ist es auf die Bereitschaft des jeweiligen Staates angewiesen, die Spiele nach seinen Wünschen auszurichten.

Tatsächlich haben sich fast alle gewählten Olympiastädte als »willige« Gastgeber gezeigt, die bestrebt waren, die Forderungen des IOC, soweit es ihnen ökonomisch und politisch möglich war, zu erfüllen. In der Regel haben sie darauf verzichtet, in die Durchführung der Spiele politisch einzugreifen. Teilnehmern und Zuschauern der Spiele stehen dieselben Rechte zu wie allen anderen Besuchern ihres Landes. Gemeinsam mit dem IOC halten sie den Glauben an den unpolitischen Charakter der Spiele aufrecht und überlassen diesem die Macht über die Spiele. Mit diesem Verständnis wurden bisher die meisten Olympischen Spiele in demokratisch verfassten Staaten organisiert, zuletzt in Sidney 2000, Athen 2004, London 2012, Rio de Janeiro 2016.

Hier konnte das IOC als starke Institution gegenüber einem Staat auftreten, der bereitwillig auf die Demonstration eigener Stärke verzichtete oder der – wie Griechenland und Brasilien – politisch und ökonomisch schwach war, und der sich allen Anforderungen des IOC widerstandslos beugte. Seit der Präsidentschaft von Juan Antonio Samaranch hat das IOC seine Position der Stärke gegenüber willigen Gastgeberländern ohne große Rücksichtnahme ausgespielt. Dies ist einer der Gründe, warum sich die Bevölkerung deutscher Kandidatenstädte, obwohl in Deutschland ein großes Interesse an den Spielen besteht, mehrheitlich gegen eine offizielle Bewerbung aussprach (München, Berlin, Hamburg).

Neues Kräfteverhältnis zwischen IOC und Gastgeber

Es gibt aber auch die andere Möglichkeit, dass der Gastgeber gegenüber dem IOC eine Position der Stärke einnimmt, dass er die Macht über die Spiele an sich reißt und versucht, seine Vorstellungen gegen das Olympische Komitee durchzusetzen. Bisher ist dies nur Russland bei den Winterspielen 2014 gelungen. In Peking 2022 traf das IOC erneut, wie in Sotschi, auf einen starken Gastgeber, der die Macht über die Spiele und ihre Bedeutung mit seiner Wahl als Austragungsort resolut ergriffen und seine Bedingungen durchgesetzt hat. Anders als der russische Veranstalter hat sich die Organisation in Peking (nach jetzigem Kenntnisstand) allerdings nicht durch skandalöse Betrügereien disqualifiziert.

Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren mehrere Gründe. 2017, zum Zeitpunkt der Vergabe der Winterspiele für 2022 standen nicht mehr als zwei Bewerber zur Auswahl: Almaty und Peking. Alle anderen Kandidaten hatten ihre Bewerbung zurückgezogen, weil sie den Widerstand der Bevölkerung gegen die Spiele befürchteten.

Die Winterspiele waren zu groß, zu teuer, zu riskant geworden; zudem hatte sich das IOC mit seinem herrischen Auftreten gerade in jenen Regionen unbeliebt gemacht, in denen Wintersport betrieben wird. Peking gehörte nicht dazu. Aber das IOC war bereit, dem Versprechen der chinesischen Führung zu glauben, dass sie innerhalb kürzester Zeit ihr Land in eine Wintersportnation verwandeln könnte. Schon 2017 war absehbar, dass China mit einer fulminanten ökonomischen Entwicklung auf dem Weg zu einer Großmacht war. Dies war der zweite Grund für die Wahl Pekings.

Heute ist China eine der beiden Supermächte, ein Rivale der USA, der ein anderes Verständnis von Herrschaft, von staatlicher Führung, von Freiheit und Menschenrechten, von ökonomischer Entwicklung und Frieden hat, das den westlichen Werten in vielen Punkten widerspricht. Es spricht einiges dafür, dass das IOC darin einen weiteren Vorteil Pekings sieht.

Bei der Eröffnungszeremonie von Peking deutete sich das neue Kräfteverhältnis zwischen IOC und Gastgeber China symbolisch an. Es wurde geradezu körperlich sichtbar, wie sich der IOC-Präsident Thomas Bach gegenüber dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (so der offizielle Titel Xi Yinpings) klein machte. In seiner Begrüßungsrede übernahm er, wie Friederike Böge in der FAZ bemerkte, streckenweise geradezu mimetisch dessen Rhetorik.

Er signalisierte wohlwollende Zustimmung gegenüber Chinas Politik und unterließ artig jede Bemerkung, die den Herrn des Festes verstimmt hätte. Freiheit und Menschenrechte waren, da politische Begriffe, aus dem Diskurs ausgeschlossen. Souverän ist, wer darüber entscheiden kann, was politisch ist. Hilfsbereit bot er sich der chinesischen Führung an, die mysteriöse Affäre um die Tennisspielerin Peng Shuai mit dem Videoclip eines scheinbar trauten Gesprächs zu entschärfen

Olympische Spiele dienten bisher dem Veranstalterland zur Selbstdarstellung vor der Weltöffentlichkeit und lässt seine Einwohner, seine Kultur und historische Größe in strahlendem Licht erscheinen. Bei den Sommerspielen in Peking 2008 geschah dies in der Fernsehübertragung der Eröffnungszeremonie mit eindrucksvollen Effekten. Im Vergleich mit jenem Feuerwerk an Kreativität blieben die Feiern in Peking 2022 deutlich zurück. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es dem Veranstalter 14 Jahre später nicht mehr auf das Urteil der Zuschauer von außen ankommt. Bei den Übertragungen der Wettkämpfe fehlten Bilder von ausländischen Gästen fast völlig. Man braucht sie nicht als Zeugen der äußeren Welt; es genügt, dass sie beeindruckt sind.

Führung und Kontrolle

Die Bilder der Zeremonien und Wettbewerbe richteten sich deutlich nach innen. Man hatte den Eindruck, China würde die Spiele für sich selbst veranstalten. Nicht zur Freude, nicht einmal zur Unterhaltung der Chinesen, sondern als Demonstration ihrer Fähigkeit, Ereignisse und Menschen zu beherrschen. Herrschaft hat dabei nicht den Charakter eines von außen auferlegten Zwangs, sondern den einer inneren Form der Beteiligten: Die chinesische Führung hat alles im Griff; was Ausländer darüber denken, interessiert nicht. Der Generalsekretär Xi schließt sich mit seinem Volk zusammen; Das »Reich der Mitte« ist jetzt die Mitte der Weltpolitik.

Ein Grund für den ständig präsenten Eindruck von Führung und Kontrolle ist gewiss die Pandemie: China will der Welt zeigen, dass das Krankheitsgeschehen keine Chance gegen das entschiedene Durchgreifen seiner Führung hat. Der tiefere Grund für die Rigidität der Selbstdarstellung scheint ein politisches Kalkül zu sein: Die Führung demonstriert der Welt, dass China die Regeln setzt bei den Maßnahmen gegen die Verbreitung sowohl des Virus als auch anderer »Übel«. Dieser Akt geschieht kraft der Autorität der chinesischen Führung; er bedarf keiner Rechtfertigung; gegen ihn gibt es kein Widerspruchsrecht. China zeigt der Welt, wie man Macht einsetzt, wenn man sie, und sei es nur für zwei Wochen, dem bisherigen Inhaber aller Rechte an Olympia abgenommen hat.

Die Athletinnen und Athleten sind zwar die Akteure der Olympischen Spiele, die eigentlich ihnen zu Ehren stattfinden sollten – es geht aber nicht um sie. In der Vergangenheit repräsentierten sie die Völker der Welt – Pierre de Coubertin dachte an Jugend, an Kraft und an Schönheit. Es wäre falsch und unfair, wenn man sagte, davon sei in Peking wenig zu sehen gewesen. Der Gedanke an die »Menschheit« im aufklärerischen Verständnis, der die modernen Olympischen Spiele nach dem Willen seines Gründers gewidmet wurden, kam einem in Peking jedoch nicht in den Sinn.

Als Olympiagastgeber zeigte China, wie es Menschen disziplinierte, um sie zu schützen. In den zwei Wochen der Winterspiele vergilbte das Menschenbild, das der olympischen Idee zugrunde liegt. Anstelle des heroischen Menschen, den Coubertin in der Moderne schaffen wollte, präsentierten sich die Teilnehmer als vom Virus bedrohte schutzbedürftige »Mängelwesen«, die der fürsorglichen Überwachung durch einen starken Staat bedurften. Unter Führung des Generalsekretärs Xi Yinping wurden die Winterspiele mit freundlicher Zustimmung des IOC von allem »bereinigt«, was einmal die olympische Idee ausmachte: von Freiheit und Frieden, von der Berufung auf die Menschrechte und von der Achtung vor den Athletinnen und Athleten (wozu auch der Schutz vor Doping gehört).

Wer den Spielen diese Werte raubt, erniedrigt sie zu einer gemeinen Jagd auf die oberen Ränge in der Medaillenwertung – und steigert so ihren Verkaufswert. Die letzte Hoffnung, die wertlos gewordenen Spiele noch zu retten, ruhen auf Paris 2024. In Frankreich hat man bis heute ein Verständnis für die universalen Werte bewahrt, für deren Verbreitung der Franzose Coubertin die Olympischen Spiele in der Pariser Sorbonne ins Leben gerufen hatte. Wird es ihnen gelingen, dem modernen Olympia seine symbolische Bedeutung zurückzugeben?

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