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© Anna/Unsplash

Steht die Türkei vor einer politischen Wende? Erschütterung einer Tradition

Die Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul am 23. Juni 2019 mündete in eine klare Niederlage für die AKP, die Partei des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Die von einem Bündnis aus AKP und rechtsnationalistischer MHP geweckten Erwartungen waren hoch. Durch schnelle Entscheidungen sollte binnen kurzer Zeit eine spürbare Verbesserung des alltäglichen Lebens eintreten. Das System würde freiheitlicher und auch demokratischer sein. Die Enttäuschung darüber, dass nichts davon eingetreten ist, hat der AKP herbe Verluste bei der Kommunalwahl eingebracht. Nun versucht sie, eine Systemdiskussion zu vermeiden.

Betrachtet man die Ergebnisse des türkischen Präsidialsystems, so fällt das Urteil wenig positiv aus. Im ersten Jahr des neuen Systems begann eine schwere Wirtschaftskrise und auch außenpolitisch steht das Land vor einem Scherbenhaufen. Zwar liegen die Wurzeln dafür überwiegend weit früher in der Regierungszeit der AKP, doch zeigen sich zunehmend auch funktionale Probleme eines Systems, in dem eine Person die letzte Entscheidungsinstanz ist. Mittels Präsidialverordnungen wurde die bisherige Struktur vieler Ministerien verändert und es gab weitreichende Umbesetzungen der Ressorts. Hatte bereits die Entlassungswelle nach dem gescheiterten Putschversuch von 2016 Kompetenzprobleme aufgeworfen, wurden diese durch die Versetzungen weiter verschärft. Ein Problem ist die unzulängliche Kommunikation zwischen Regierung und Parlament sowie zur Regierungspartei AKP.

Eine weitere Konsequenz des Präsidialsystems ist die Veränderung der politischen Strukturen. Gewählt wird der Präsident durch allgemeine Wahlen mit absoluter Mehrheit. Dazu mussten zwar keine Koalitionen, wohl aber Parteienbündnisse gebildet werden. Hier steht dem Regierungsbündnis ein Oppositionsbündnis zwischen der linken CHP und der Mitte-rechts-Partei İyi Parti gegenüber. Die links-kurdische HDP und die religiös-konservative Saadet Partei haben zuletzt bei der Bürgermeisterwahl dieses Bündnis erfolgreich unterstützt. Für die AKP bedeutet die Zusammenarbeit mit der MHP eine bedeutende Einschränkung ihres politischen Bewegungsspielraums. Erstere verfügt traditionell über eine bedeutende kurdische Wählerbasis, die durch die nationalistische Politik der MHP nur schwer zu halten ist. Doch der Regierungsblock beginnt zu bröckeln. Hatte die AKP mehrfach komfortable absolute Mehrheiten im Parlament, so erreichte sie bei der Parlaments- und Präsidentenwahl im Juni 2018 nur noch 42,6 %, die sie unterstützende Nationalkonservative Partei MHP 11,1 %, zusammen also 53,7 % der Stimmen. Bei der Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul kam das Regierungsbündnis aber nur noch auf 45 %.

Die AKP ist aus einer Abspaltung von der von Necmettin Erbakan geführten Wohlfahrtspartei hervorgegangen. Letztere erlebte ihren Aufschwung nach den Kommunalwahlen von 1994 insbesondere durch eine auf Entbürokratisierung und soziale Gerechtigkeit setzende Politik. Mit der Gründung der AKP im August 2001 gingen die meisten Kommunen, die zuvor von der inzwischen verbotenen Wohlfahrtspartei geführt wurden, an die AKP über. Es war nicht zuletzt die Leistung und das Auftreten der AKP in diesen Kommunen, die sie nach der Wirtschaftskrise von 2001 zur Regierungsalternative werden ließ. Seine Karriere in der Politik auf nationaler Ebene begann Erdoğan 1994 mit seiner erfolgreichen Wahl zum Bürgermeister von Istanbul.

Bei der Kommunalwahl im März 2019 verlor die AKP die meisten wichtigen Bürgermeisterposten. Mehr als die Hälfte der türkischen Bevölkerung lebt nun in Städten, die von der nationalen Opposition regiert werden.

Eine nicht unbedeutende Rolle für den Erfolg der Opposition bei der Wiederholung der Wahl des Bürgermeisters von Istanbul spielte ihr Kandidat Ekrem İmamoğlu. Bis zur Jahreswende war er ein wenig bekannter Bürgermeister des Istanbuler Stadtbezirks Beylikdüzü. Mit seiner Herkunft aus der Schwarzmeerregion und einem konservativen Elternhaus gelang es ihm geschickt, persönliche Religiosität mit laizistischen Grundsätzen zu verbinden. Mit dem Motto, er werde Bürgermeister aller Einwohner der Stadt sein, gelang es ihm auch, sich über die verhärteten Fronten, den der polarisierende Wahlkampf der AKP geprägt hatte, zu erheben. Er zeigte offen seine Sympathie für den inhaftierten früheren HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, ohne jedoch spezielle Wahlversprechen an die Kurden abzugeben. Besondere Sympathie hat ihm zudem seine Reaktion auf die Entscheidung des Hohen Wahlrates zur Wiederholung der Wahl eingebracht. Mit dem Leitslogan »Alles wird sehr gut« gelang es ihm, Mut zu machen. Dabei machte er zugleich die Ungerechtigkeit dieser Entscheidung deutlich und mobilisierte die Oppositionsparteien zu einem zweiten, kürzeren Wahlkampf.

Die neuen CHP-Bürgermeister in Istanbul und Ankara stehen vor der Herausforderung, dass die Stadtparlamente von AKP und MHP dominiert werden. Um einer Verweigerungsfront von AKP und MHP entgegenzuwirken, setzen sie auf Transparenz. Seit der Kommunalwahl werden die Sitzungen des Istanbuler Stadtparlaments live im Internet übertragen. Eine nur auf Störung gerichtete Politik der Ratsmehrheit würde damit für jeden sichtbar und vermutlich AKP und MHP weitere Sympathien kosten. Gleichwohl zeigt der Streit um die Besetzung der Vorstände der kommunalen Eigenbetriebe in Istanbul und Ankara, wie schwierig der Prozess ist. Bei der ersten Sitzung des Stadtparlaments von Ankara hatte die Mehrheit von AKP und MHP verlangt, dass künftig der Rat über die Vorstände zu entscheiden habe. Bürgermeister Mansur Yavaş wies dies mit Verweis auf das Kommunalgesetz zurück. Das Handelsministerium wies jedoch mit einem Rundschreiben die Handelsregister an, die Vorstände kommunaler Unternehmen nur dann einzutragen, wenn diese durch den Stadtrat bestätigt wurden. In Istanbul weigern sich die Vorstände der Eigenbetriebe, unverzüglich eine Gesellschafterversammlung zur Neubestimmung des Vorstands einzuberufen.

War die Politik des Regierungsbündnisses in der Abfolge von Wahlen und dramatischen Ereignissen wie dem Putschversuch von 2016 darauf gerichtet, die gesellschaftliche Spaltung in zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager zu vertiefen, setzte die Opposition auf Ausgleich und Dialog. Meinungsforscher gehen davon aus, dass die Bürger genug von den ständigen Anfeindungen hatten und angesichts der Einbußen durch die Wirtschaftskrise ihre alltäglichen Probleme als weit wichtiger einstuften.

Betrachtet man das Wählerverhalten bei der Kommunalwahl und bei der Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul, so ist erstmals seit Gründung der AKP festzustellen, dass sie ihre Wählerbasis nicht nur nicht mobilisieren konnte, sondern sogar Stimmen an die andere Seite verlor. Beim ersten Wahlgang waren viele AKP-Wähler nicht zur Wahl gegangen oder hatten ungültige Stimmen abgegeben. Beim zweiten Wahlgang erzielte Ekrem İmamoğlu auch absolute Mehrheiten in Stadtbezirken, die von der AKP regiert werden.

Dies hat beträchtliche innerparteiliche Diskussionen ausgelöst, bislang jedoch keine Bereitschaft der Parteiführung, das zunehmend nationalistische Politikprofil, das seit 2015 dominiert, infrage zu stellen. Parallel dazu haben frühere AKP-Spitzenpolitiker damit begonnen, eigene Parteien zu gründen. Dabei haben sich zwei Gruppen herausgebildet. Die eine wird vom früheren Vizepremier für Wirtschaftspolitik Ali Babacan, die andere vom früheren Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu geführt. Beide Gruppen stellen das neue Präsidialsystem infrage und fordern eine Sicherung der Gewaltenteilung.

Die Bürgermeisterwahl in Istanbul war weit mehr als eine lokale Angelegenheit. Staatspräsident Erdoğan hat in der Schlussphase selbst den Wahlkampf übernommen. Und somit war es seine erste persönliche Wahlniederlage. Zwar hat er seine Partei noch fest im Griff, doch wird mittlerweile parteiintern ungewohnt offen und öffentlich ein Wandel eingefordert. Und diese Forderung hat mit Blick auf die Wahlergebnisse durchaus eine gesellschaftliche Entsprechung. Es gibt eine Sehnsucht nach Ruhe und Verständigung. Die Zweifel am neuen Regierungssystem sind in einem Maße gewachsen, dass es kaum ohne grundlegende Veränderungen zu halten ist.

Laut Verfassung finden die nächsten Parlaments- und Präsidentenwahlen 2023 statt. AKP und MHP verfügen über eine stabile Parlamentsmehrheit. Auch wenn durch eine Parteigründung aus der AKP heraus damit gerechnet wird, dass einige Abgeordnete zur neuen Partei übertreten, ist nicht davon auszugehen, dass das Regierungsbündnis dadurch seine absolute Mehrheit verliert. Doch es ist eine Zweckgemeinschaft und der MHP-Vorsitzende hat in der Vergangenheit mehrfach für vorgezogene Wahlen gesorgt. Somit bleibt auch in der Zukunft die politische Lage in der Türkei fragil und turbulent.

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