Menü

Installation »Sea of Mirrors« in Rio de Janeiro © picture alliance / REUTERS | Ricardo Moraes

Über die libertären Bedrohungen der demokratischen Ordnung Ertrage deinen Nächsten wie dich selbst!

Homo homini lupus, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, das war die Grundannahme, auf der der englische Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert seine Lehre vom autoritären Staat, dem Leviathan, gründete. Weil es in der Natur des Menschen liege, über seine Mitmenschen herzufallen, wenn er sich davon einen Vorteil verspreche, so Hobbes, müsse ein starker, mit monopolistischer Macht ausgestatteter Staat für inneren Frieden sorgen. Ein verbürgtes Mitspracherecht kleinerer Einheiten oder einzelner Bürger dürfe es nicht geben, da dies schnurstracks zu Chaos und Anarchie, zum Krieg aller gegen alle, führen müsse.

Bis in unsere Tage wird das pessimistische Menschenbild von Thomas Hobbes in der einen oder anderen Form zur Abwehr von Mitbestimmungsforderungen der Bürger und zur Rechtfertigung autoritärer Herrschaft bemüht. Aber auf Dauer haben die hobbesschen Ideen den Siegeszug der Demokratie seit dem 18. Jahrhundert, zumindest in Europa und in den USA, nicht verhindern können.

Freiheit und Selbstbestimmung stehen nach wie vor hoch im Kurs, nicht nur in Europa. Aber in letzter Zeit zeigt sich immer öfter, dass Angriffe auf die Demokratie auch im Namen der Freiheit geführt werden können. »Man wird doch wohl noch sagen dürfen« heißt es, um offenen Hass, Rassismus und Antisemitismus als Menschenrecht erscheinen zu lassen.

»Freie Fahrt für freie Bürger« lautet ein weit verbreiteter Slogan, mit dem der Widerstand gegen staatliche Maßnahmen gerechtfertigt wird, die die CO2-Belastung durch den Autoverkehr reduzieren und damit unsere gemeinsame Lebensbasis schützen sollen.

Und in den USA gelten alle Versuche politischer Instanzen, Kinder und Erwachsene vor schießwütigen Paranoikern zu schützen, indem man den Erwerb von Schusswaffen erschwert, vielen als Angriff auf ihre verfassungsmäßig verbriefte Freiheit. Freiheit ist offenbar heute für viele Menschen nicht ein gesellschaftlicher Zustand, sondern ein privater Besitz.

Es war diese Auffassung von Freiheit, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Anarchist Max Stirner in seinem Buch Der Einzige und sein Eigentum vertrat und die mehr als 100 Jahre später auch Robert Nozick in Anarchy, State, and Utopia zur Begründung seines Modells eines radikallibertären Minimalstaats diente.

In Deutschland, das nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft sich nach anfänglichen Schwierigkeiten alsbald als Musterschüler in Sachen westlicher Demokratie gerierte, sah es lange so aus, als seien die Bürger gegen die autoritäre, insbesondere auch gegen die libertär-anarchistische Versuchung gefeit. Aber in den letzten Jahren lässt sich auch hier beobachten, dass Demokratie und Rechts- und Sozialstaatlichkeit von vielen eher als Bürde und Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit angesehen werden.

Vor allem in Teilen der FDP und des begüterten und gebildeten Bürgertums trifft man heute vermehrt auf aggressiv vorgetragene Äußerungen, die in der Konsequenz darauf hinauslaufen würden, im Namen der Freiheit den Artikel 20 des Grundgesetzes abzuschaffen, um die Bundesrepublik in einen Minimalstaat nach dem Musters Nozicks zu verwandeln.

Was in solcher Polemik unter der Flagge der Freiheit ins Feld geführt wird, ist, genau besehen, nichts weiter als ein Plädoyer für rücksichtslosen Egoismus. Die Forderung nach Rücksicht auf Schwächere und Verständnis für andere Lebensentwürfe wird als Zumutung empfunden. Dass man gleichwohl sich die Anderen nicht ganz vom Hals halten kann, weil man halt in vieler Hinsicht auf sie angewiesen ist, ist eine nie versiegende Quelle der Kränkung. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben dieses Phänomen in ihrem Buch Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus so beschrieben: »An die Stelle der übermächtigen externen Instanz tritt hier das Selbst als autonomes Subjekt. Wir verstehen den libertären Autoritarismus als Symptom einer verdinglichten Freiheitsidee, mit der die Einsicht in soziale Abhängigkeiten abgewehrt werden soll. Freiheit ist in dieser Sichtweise kein geteilter gesellschaftlicher Zustand, sondern ein individueller Besitz.«

Keine Freiheit ohne verbindliche rechtliche Regelungen und deren institutionelle Verkörperung

Aber Freiheit kann in unserer modernen Welt nicht als individueller Besitz verstanden werden, wenn sie für alle Bürger gelten soll. Sie ist jenseits eines fiktiven Naturzustandsidylls notwendig an verbindliche rechtliche Regelungen und ihre institutionelle Verkörperung gebunden. In diesem Sinne heißt es bei Amlinger und Nachtwey: »Freiheit beruht auf einem Geflecht subjektiver Rechte und institutioneller Voraussetzungen. Ein Sozialstaat beispielsweise, der die Risiken des Lebens abfedert, ein Gesundheitssystem, das auf kommende Pandemien vorbereitet ist, ein Katastrophenschutz, der in der Lage ist, auf extreme Wetterereignisse zu reagieren (…) kann nur dann wirklich realisiert werden, wenn dies in Anerkennung wechselseitiger Abhängigkeit geschieht.«

In ähnlicher Weise argumentiert auch Sophie Schönberger, Professorin für öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht, in ihrem Buch Zumutung Demokratie. Gleich am Anfang ihres geistreichen Essays stellt sie kategorisch fest: »Demokratie ist kein Selbstverwirklichungsprojekt. Sie ist vielmehr darauf gerichtet, Gemeinschaft zu organisieren und das Zusammenleben zu ordnen.« Heute sei allerdings festzustellen »dass die Bereitschaft in der Gesellschaft sinkt, mit einer zentralen Herausforderung der Demokratie zu leben: der Notwendigkeit, sich gegenseitig auszuhalten«.

Diese Herausforderung anzunehmen, so scheint es, gilt heute vielen Bürgern als eine Leistung, die sie nicht oder nicht mehr zu bringen bereit sind. Warum das so ist, erklärt Schönberger so: »Die Freiheit des Einzelnen (oder, genauer gesagt, der eigenen Person) wird verabsolutiert und in einem weiten Sinne mit dem eigenen Interesse gleichgesetzt, das nun als universeller Wert zu respektieren sein soll. Auf diese Weise wird die Begrenzung der eigenen Freiheit durch die Freiheit der Anderen, also eine der Grundfesten der demokratischen Freiheitsidee, delegitimiert, weil ja schon in der eigenen Interessenausübung die universelle Freiheitsverwirklichung liegt.«

Schönberger sieht hier einen wesentlichen, wenn nicht den eigentlichen Grund für die gegenwärtige »Krise der demokratischen Gesellschaft«. Diese Sicht der Dinge mag verwundern, denn gewöhnlich blicken wir, wenn es um aktuelle Gefährdungen der Demokratie geht, vor allem oder ausschließlich auf die seit Jahren überall in Europa wieder wachsenden Strömungen der extremen Rechten und der Neonazis, die in der Tat eine ernste Gefahr darstellen.

Die falsche Freiheitsdefinition der Selbstbezogenen

Aber akut gefährlich für die europäische Demokratie werden diese heute vor allem dann, wenn und wo sie auf eine Gesellschaft treffen, in der immer mehr auf Selbstoptimierung gepolte Iche an ihrer eigenen Ichbezogenheit scheitern. »Denn«, so Schönberger, »wenn die Welt voller Möglichkeit der Selbstentfaltung und -verwirklichung scheint, wenn ein Großteil der Aufmerksamkeit darauf liegt, die bestmögliche Version von sich selbst zu schaffen, dann muss es den Einzelnen umso härter treffen, wenn die Realität sich nicht mit dieser Vorstellung eines optimierten Ich deckt«.

Ansätze zu einer destruktiven Kooperation verunsicherter Selbstoptimierer mit rechtsextremen Gruppen lassen sich denn auch in letzter Zeit bei den Demonstrationen sogenannten »Querdenker-« und bei Pegida-Aufläufen beobachten, wo sich nicht selten gekränkte Libertäre, sogenannte »Identitäre« und frustrierte Wutbürger mit Hardcore-Neonazis vermischen. In einer Gesellschaft, die vom Leitbild der Einzigartigkeit, der Authentizität des eigenen Lebens und der Pflicht zur Selbstoptimierung geprägt ist und in der die öffentliche Darstellung der eigenen Unvergleichlichkeit als Bestätigung des eigenen Status notwendig erscheint, liegt es heute für immer mehr Menschen offenbar nahe, sich aggressiv gegen den »Mainstream« zu wenden.

Der angeblich allgegenwärtigen Gleichmacherei der »Lügenpresse« muss die exklusive eigene »Wahrheit« von Verschwörungstheorien entgegengehalten werden. Und dann muss man sich auch mit Gruppen und Parteien zusammentun, die in Sprache und Gestik Empörung und Widerstand suggerieren und damit öffentliche Aufmerksamkeit garantieren, und zwar auch dann, wenn sie deren inhaltliche Konzepte nicht oder nur zum Teil akzeptieren.

Auch die Demokratie kommt nicht ohne gemeinschaftliche Erfahrungsräume aus.

Die amerikanisch-polnische Journalistin Anne Applebaum hat in ihrem Buch Die Verlockung des Autoritären bezogen auf die postsowjetischen Gesellschaften Osteuropas in Anlehnung an die amerikanische Verhaltensökonomin Karen Stenner geschrieben: »Autoritarismus spricht (…) Menschen an, die keine Komplexität aushalten: Diese Veranlagung ist weder links noch rechts, sondern grundsätzlich antipluralistisch.« Das ist zweifellos richtig. Die Vorstellung eines sich um einen autoritären Führer scharenden in allen wichtigen Aspekten homogenen Volkes gehörte zur Sowjetideologie wie zu der der Nazis, und gehört auch heute zu den Sehnsuchtsbildern, die von rechten Gruppen und Parteien als Lockmittel verbreitet werden. Das heißt aber keineswegs, dass die Demokratie, wenn sie nicht an Zustimmung verlieren soll, ganz ohne gemeinschaftliche Erfahrungsräume auskommen und gewissermaßen als radikale »Gesellschaft« im Sinne von Ferdinand Tönnies existieren kann.

Öffentliche Räume der Begegnung schaffen

Dies führt uns zu dem letzten Kapitel des Essays von Schönberger, das sich mit der Organisation von »Begegnungen« mit den Anderen und der Bedeutung der sogenannten »anthropologischen« oder »sozialen Orte« für die Demokratie befasst. »In einem weiten Verständnis«, so schreibt Schönberger, »sollen damit hier physische Orte gemeint sein, die niederschwellige, alltägliche soziale Begegnungen ermöglichen und dadurch einen Raum schaffen, in dem mit geringem persönlichen Einsatz eingeübt werden kann, den Anderen in der Demokratie auszuhalten.«

Die Autorin denkt dabei an Parks, öffentliche Plätze, Freibäder, Cafés und an die sich gegen geistlose Stadtplaner hartnäckig behauptende »Trinkhallenkultur des Ruhrgebiets«, aber auch an Bibliotheken, die sich heute schon an manchen Orten von reinen Lese- und Buchausleihorten zu veritablen Begegnungsstätten weiterentwickelt haben. Um das allmähliche Abgleiten der Demokratie in autoritäre Herrschaft verhindern zu können, so die Botschaft, bedarf es neben einer kritischen Öffentlichkeit und einer breiten kritischen Bildung auch einer Kommunalpolitik, die bewusst Begegnungsräume schafft, in denen die Menschen lernen den jeweils Anderen auszuhalten – vielleicht sogar sein Anderssein als Gewinn zu erleben.

Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp, Berlin 2022, 480 S., 28 €.

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Siedler, München 2021, 208 S., 22 €.

Sophie Schönberger: Zumutung Demokratie. C.H.Beck, München 2023, 189 S., 18 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben