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© picture alliance / Ikon Images | Gary Waters

Der Fortschritt ist eine Schnecke Es dauert

Eine Vorbemerkung: Ich benutze das generische Maskulinum und die Begriffe Ossis und Wessis. Nichts davon ist diskriminierend gemeint. Wer das dennoch so empfindet, hat Recht und es tut mir leid.

Mein Mann und ich leben seit 20 Jahren in Rostock, kommen beide aus dem Westen. Ich frage ihn, ob er noch einen Unterschied bemerkt, zwischen Ost und West: Nein, sagt er, in der Direktorenrunde (keine Frau dabei) heute jedenfalls nicht. Kurze Pause – dann: Aber die sind ja auch alle aus dem Westen. Naja, die meisten.

Die Berichte über einen Mangel an Führungskräften mit DDR-Biografie sind Legende und tragen zur Erzählung des Ostens bei: Abgehängt, vernachlässigt, Versprechen nicht eingelöst. Wie tief geht das? Tut sich denn gar nichts?

Spoiler: Nein, »die Ossis« haben sich immer noch nicht an unser System, unsere Lebensweise, unsere Kultur angepasst und ihre alte überwunden. Warum auch, es ist ja ihre. Wie vermessen Wessis an die Sache herangehen, zeigt sich hier. Blühende Landschaften sind ausgeblieben, das Lohngefälle ist eklatant, aber jetzt können die doch endlich mal langsam »so sein wie wir«. Nebenbei sind die Menschen im Westen unverblümt stolz auf ihre Traditionen, im Denken wie in der Kultur und im Leben, und sie ändern ihr Verhalten und ihre Einstellungen kein bisschen, auch wenn die »Hütte brennt«, soll heißen: der Klimawandel fortschreitet.

Gefühlte Vernachlässigung

Der Fortschritt ist eine Schnecke. In diesem Fall eine Nacktschnecke, die ihre Hässlichkeit nicht in einem Haus verbirgt. Der Schleim, das ist die gefühlte Vernachlässigung, die sogar ich nach 20 Jahren hier deutlich spüre. Im Osten, fragt sich mancher Wessi, war da noch was außer Rechtsradikalismus? Wer jetzt betroffen auf diese Zeilen schielt, ist wenigstens halbwegs ehrlich. Die Masse an West-Rentnern, die es an die Ostsee zieht (»Immobilienpreise wie in Düsseldorf!« »Naja, man muss Abstriche in der Gastronomie machen, aber sonst ist es hier wirklich schön!«), will oft bleiben, interessiert sich für die demokratische Gesellschaft aber auch meist nur am Rande. Mecklenburg-Vorpommern: das Altersheim am Meer, das Florida Deutschlands, naja.

Aber die Fortschrittsschnecke ist auch übel vernarbt. Und alle können sehen, was vorgeht, die Zahlen liegen auf dem Tisch: Gewalt gegen Kinder, gegen Frauen, in Familien ist seit ein paar Jahren ansteigend, Rückgang von Bildung und Kompetenzen, mehr Armut und mehr Segregation in den Städten.

Einstellungen werden über Generationen vererbt.

 

Die »Hinterlandgang« singt davon, zwei junge Männer mit wechselvoller suchender Vergangenheit. Sie schwimmen lieber in der Tollense als ans Mittelmeer oder an die Ostsee zu fahren, sie wollen bleiben, wo andere gehen. Ihr Vorpommern ist konservativ, heimattreu und auf sich selbst konzentriert. Und genau so sind sie auch. Wer sich die Songs anhört und die Interviews liest, versteht, wie das geht: das Vererben von Einstellungen über Generationen. Diese jungen Männer haben im Grunde nichts mit der DDR und dem Leben dort zu tun, aber sie knüpfen daran an, weil sie geprägt sind, durch ihre Eltern und Lehrer.

Eingeprägt haben sich das Schöne und der Schmerz, die Erinnerung an etwas, das sie nie erlebt haben, und die schlechte Erfahrung der Wendezeit, die noch etwas frischer im Gedächtnis der Elterngeneration ist. Die beiden Freunde sprechen sogar direkt von den Verletzungen der Alten, die sie nicht vergessen wollen (taz, 3. März 2024). Und darum ist das anders als der bloße Unterschied zwischen Stadt und Land im Westen.

Die Verschiedenheiten sind noch deutlich spürbar im Umgang miteinander, auch der Osten tradiert seine Kultur. Übrigens ist das oft gar nicht störend, sondern führt im Alltag immer wieder zu interessanten kleinen Erklärungen und Erinnerungen, die oft mit dem Satz beginnen »Das kennst Du als Wessi ja nicht« oder »Bei uns war das ja immer so«.

Aber es ist nicht nur der kulturelle Hintergrund, der durchscheint, es sind auch unterschiedliche Bildungshintergründe. An der Universität werden junge Menschen aus Ost und West zusammengewürfelt, um gemeinsam zu lernen. Spürt man hier noch einen Unterschied? Ich meine, ja. Und auch das ist kein großes Wunder, sondern eine Frage von Freiheit und Reichtum. Der alte Bildungskanon West und die Möglichkeiten, die westliche Jugendliche hatten und haben, um sich zu entfalten, um Dinge auszuprobieren, sind einfach anders, größer, umfangreicher.

 

»Nach den Renovierungs- und Neubauwellen 1990 und 2005 sieht es jetzt mancherorts schon wieder trübe aus.«

Wirtschaftskraft und Lohnniveau sind im Osten immer noch niedriger. Darum gehen immer noch viele weg. Der »demografische Schock«, das ist der Wegzug vieler nach 1990 und die Tatsache, dass in unsicheren Zeiten nach der Wende weniger Kinder in den Familien geboren wurden, entfaltet gerade seine Wirkung. Im Osten leben insgesamt weniger Menschen, weniger junge Menschen vor allem, und damit wächst auch die Wirtschaft langsamer. Investitionen in Wohnungsbau und Infrastruktur sind entsprechend langsam und zögerlich. Es wird interessant werden, wie die nächste Renovierungswelle aussehen wird. Denn nachdem 1990 und 2005 die Renovierungs- und Neubauwellen den Osten ordentlich aufgepeppt haben, sieht es jetzt mancherorts schon wieder trübe aus, besonders für Turnhallen, Sportplätze und Stadien, Verwaltungsgebäude, Straßen, Schulen und Kitas. Da aber die Prognosen für die nächsten Jahre keine großen Zuwächse an Kindern voraussagen, überlegt sich manch klamme Kommune sicherlich, wie sie vorgehen wird. Schulausbau steht nicht an erster Stelle.

Demokratische Kultur ist anders

Im Osten wird mehr demonstriert als im Westen. Früher durfte man nicht, heute nimmt man sich die Freiheit. Leider ist das (vor-)politische Engagement damit oft erschöpft. Der Gang zum Ortsbeirat wird höchstens angetreten, wenn man Angst um Parkplätze hat, die Parteien haben sehr wenige Mitglieder.

Auch das Vereinsleben blüht noch nicht so heftig wie im Westen, in dem zivilgesellschaftliche Strukturen tiefer sind und es mehr Organisationen gibt. Nachbarschaftliches Engagement fand früher und findet heute immer noch eher informell statt. Bei Krisenereignissen wie dem Oderhochwasser funktioniert das dann entsprechend schnell. Auch 2015 in der Zeit der großen Flüchtlingsbewegung lebten informelle Strukturen rasch auf und haben über einen recht langen Zeitraum hinweg gut funktioniert. Sie wurden allmählich von der staatlichen Struktur abgelöst und verschwanden wieder vollständig – heute, im Ukrainekrieg, wird geradezu erwartet, dass die staatlichen Stellen die Sache regeln, ein ehrenamtliches Engagement für die Kriegsflüchtlinge kommt außerhalb der migrantischen Vereine kaum zustande.

»Ein lang ersehntes neues Theater wird von großen Teilen der Bevölkerung erst einmal nicht geliebt, wenn eine Schwimmhalle fehlt.«

Armut ist ein großes Problem, auf dem Land und in den Städten. Kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe, die man sich leisten kann und bezahlbare Mobilität werden auch im kommenden Kommunalwahlkampf thematisiert werden, denn es sind konkrete Probleme, die die Menschen beschäftigen. Ein lang ersehntes neues Theater wird in der Stadt gebaut, aber geliebt wird es von großen Teilen der Bevölkerung erst einmal nicht, wenn eine Schwimmhalle fehlt oder der Bus nicht regelmäßig durch den ganzen Stadtteil fährt. Die gute Arbeit, die der Intendant leistet, die internationalen Kooperationen und Projekte werden von einem Teil der Bevölkerung hoch anerkannt. Wenn aber in Städten wie Rostock die Bevölkerungsgruppen nach Geldbeutel in die entsprechenden Stadtteile verteilt werden, dann stehen sich die Menschen und ihre Einstellungen scharf voneinander abgegrenzt gegenüber. Hier gibt es viel zu tun.

Denn die Enttäuschungen wirken additiv. Ein Beispiel: In den ländlichen Gebieten und vor allem in Ostdeutschland gibt es relativ viel Regionalverkehr, wenig Fernverkehr. Das neu eingeführte 49-Euro-Ticket wurde deshalb für viele Menschen zum Mobilitätsbooster, es wirkte wie eine Chance auf Urlaub – im eigenen Land zwar, aber viele sind plötzlich sehr günstig sehr mobil. Wenn am nächsten Tag die Nachricht kommt, dass das Ticket womöglich nicht dauerhaft gefördert wird, addiert sich die Enttäuschung zu den bisherigen dazu.

Und dann auch noch das Klimaproblem: eine Herausforderung, die zu groß zu sein scheint, als dass sie irgendwie gefasst werden könnte. Am besten, wir stecken gemeinsam den Kopf in den Ostseesand. Viele Kommunen mit ausgelaugten ehrenamtlichen Politikerinnen und Politikern sehen ihren ohnehin kleinen finanziellen Spielraum noch weiter schrumpfen und verzweifeln in einem Abwehrkampf gegen Hochwasser, Dürren und Hitzeprobleme. Man sieht ihnen an, dass es nicht besonders viel Spaß macht, sich da noch zu engagieren und das ist sicher keine gute Werbung für die Teilnahme an der Demokratie vor der eigenen Haustür. Mit der aktuellen Koalitionsregierung ist auch kein Blumentopf zu gewinnen. Das ist der Raum, in dem Rechtspopulisten ihre Anhänger gewinnen.

Themen für die Sozialdemokratie

Die SPD mit Generalsekretär Kevin Kühnert setzt den Kampf um die Demokratie und gegen Rechtsradikalismus an die oberste Stelle. Natürlich ist das auch richtig, aber wir vergessen, unsere wichtigen Themen sinnvoll mit diesem Kampf zu verknüpfen. Wenn keine Perspektiven für gute öffentliche Schulen, angemessen bezahlte Arbeitsplätze, ausreichend Wohnraum für Familien oder klimaverträgliche Mobilität in Aussicht stehen, werden Demokratie und Teilhabe nicht so wichtig genommen. Diese Themen gehören in den Vordergrund.

Wer Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus bekämpfen will, muss Kinderarmut beseitigen und sozialen Ausgleich schaffen. Löhne müssen steigen, wir müssen Jugend- und Begegnungszentren bauen und Bildung und Kompetenz fördern. Jugend im Osten braucht Perspektive. Was wir wegen des Klimawandels verändern müssen, sollte nach vorne weisen und nachhaltig sein. Der Verkehrswende sollen wir endlich das Bedrohliche nehmen, die Energiewende bezahlbar machen. Das sollen die Hauptthemen der Sozialdemokratie sein, die den Osten ganz besonders in den Blick nehmen muss.

»Entscheidend ist die Wertschätzung, die den Menschen entgegengebracht wird, unabhängig von ihrer Herkunft, dem Staat und der Gesellschaft in der sie aufgewachsen sind.«

Gibt es also noch Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen Ossis und Wessis? Ja, es gibt sie, genauso wie es ein Nord-Süd-Gefälle beim Bezug von Bürgergeld oder bei der Zahl von Patentanmeldungen gibt. Oder zwischen den Metropolen und ländlichen Regionen in ganz Deutschland. Entscheidend ist die Wertschätzung, die den Menschen entgegengebracht wird, unabhängig von ihrer Herkunft, dem Staat und der Gesellschaft in der sie aufgewachsen sind. Entscheidend ist, dass wir miteinander reden, lernen Konflikte auszutragen und gemeinsame Lösungen zu finden. Wo dies am besten gelingen kann? In der Kommunalpolitik.

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