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© Foto: picture alliance / photothek | Felix Zahn

Norbert Walter-Borjans »Es geht letztlich um das Gefühl, politisch gut aufgehoben zu sein«

 

NG|FH: Herr Walter-Borjans, was wird die Bundestagswahl entscheiden?

Norbert Walter-Borjans: Gewinnen wird, wer den Menschen das beste und glaubwürdigste Angebot macht, mit den Veränderungen umzugehen, die in der Luft liegen. Da geht es letztlich, wenn die Wahl immer näher rückt, um das Gefühl, politisch gut aufgehoben zu sein. Um das Vertrauen, dass nicht nur geredet, sondern auch gehandelt wird. Das ist der Grund, warum wir so zuversichtlich sind, mit Olaf Scholz ein überzeugendes Wahlergebnis zu erreichen.

NG|FH: Es gibt in der Gesellschaft ja zwei mögliche Wahrnehmungen: veränderungsoptimistisch – oder veränderungsängstlich. Wen muss man da wie ansprechen?

Walter-Borjans: Es war immer schwer, deutlich zu machen, dass Sicherheit nicht durch das Konservieren von Strukturen entsteht. Wir müssen unser altes Versprechen: »Sicherheit im Wandel« fortschreiben. Es geht um »Sicherheit durch Wandel«. In der Mitte der Gesellschaft sorgen sich die Menschen, ob sie ihren hart erarbeiteten bescheidenen Wohlstand für sich und ihre Kinder erhalten können. Sie merken zugleich, dass vieles nicht so weitergehen kann, wie es bisher vertraut war. Dann treten Leute auf den Plan, die ihnen zurufen: Wenn ihr uns wählt, sorgen wir dafür, dass alles so bleibt, wie es ist. Die meisten spüren zwar, dass das ein fataler Irrweg wäre, erwarten von der Politik aber einen Plan, wie wir in einer sich wandelnden Welt für Chancen und Sicherheit sorgen. Gut klingende Zukunftsmusik allein reicht da nicht. Das Vertrauen der Menschen gewinnt man nur, wenn man in der Gegenwart ansetzt und die Lebenswirklichkeit jeder und jedes Einzelnen nicht aus dem Blick verliert. Wir denken Gegenwart und Zukunft zusammen. Das fällt anderen erkennbar schwerer…

NG|FH: …Leute, denen der Wandel nicht schnell genug gehen kann?

Walter-Borjans: Leute, die uns erklären, was sich alles in zehn oder 20 Jahren radikal ändern muss, aber dabei nicht daran denken, dass das vielen schon heute Angst macht. Das zusammenzubringen, ist eine große Aufgabe der Sozialdemokratie…

NG|FH: …in der aber genauso beide Herzen schlagen: möglichst deutliche Veränderung, zumal nach 16 Jahren Angela Merkel, aber auch Sicherheitsdenken. Wie löst man das auf?

Walter-Borjans: Beides zusammenzubringen ist unser Markenkern als Volkspartei, aber auch eine immense Herausforderung. Klientelparteien, die sich parteipolitisch auf einzelne zivilgesellschaftliche Gruppen konzentrieren, tun sich erst mal leichter mit 100-%-Versprechungen auf ihrem Themengebiet. Das Ergebnis sieht man in den Niederlanden mit 17 Fraktionen im Parlament. Die müssen dann nachträglich den gesellschaftlichen Ausgleich hinbekommen – in quälenden Koalitionsverhandlungen und labilen Regierungsbündnissen. Das große Plus des deutschen Konzepts der Volksparteien bleibt es, Gegensätze von vornherein zusammenzubringen und dadurch für Stabilität zu sorgen.

NG|FH: Nun war Brücken bauen zuletzt nicht unbedingt populär.

Walter-Borjans: Klar, viele sind etwa beim Klimaschutz der Auffassung, dass die Politik sich viel zu lange vor Konsequenzen gedrückt hat und deshalb keine Zeit mehr für einen sanften Übergang bleibt. Da ist ja auch etwas dran. Man spürt so eine Stimmung besonders im Gespräch mit jüngeren Menschen. Aber dann beginnt ja erst die Diskussion: Was ist machbar? Wir wissen eigentlich: Alles und das sofort zu ändern, ist wirklichkeitsfremd. Sowohl technisch als auch, weil die Mehrheit dann nicht mehr mitgehen würde. Absolut kompromissloses Handeln klingt immer ganz toll. Es führt in der Regel nur nicht zu einem tragfähigen Ergebnis. Man darf seine Haltung nicht aufgeben, aber man muss mit dieser Haltung auch noch mit anderen zusammenkommen können.

NG|FH: Welches Lebensgefühl, welche Stimmung muss mobilisiert werden, um dagegen anzukommen?

Walter-Borjans: Am wichtigsten sind überzeugende Angebote für die, die vom notwendigen Wandel am stärksten betroffen sind. Das regelt nicht der Markt. Das geht nur in einem großen gesellschaftlichen Miteinander. Mich hat Johannes Rau sehr geprägt. Der hat gesagt: »Die SPD muss die Partei derer sein, die Solidarität brauchen – aber auch derer, die Solidarität zu geben bereit sind.«

Es geht darum, das Mitverantwortungsbewusstsein bei den Gewinnern des Wandels zu stärken und um die Unterstützung derer zu werben, die das gesellschaftliche Klima prägen. Die SPD hätte nie Wahlen gewonnen, wenn sie nicht auch in die Kultur, in die Wissenschaft, in den Sport hinein Ausstrahlung gehabt hätte. In Richtung der Menschen, die den Sozialstaat vielleicht gar nicht so dringend brauchen wie andere, die aber wissen, wie wichtig er ist, damit die Gesellschaft zusammenhält.

NG|FH: Kann ein guter Wahlkampf helfen, da etwas zu verändern?

Walter-Borjans: Guter Wahlkampf geht am besten, wenn man auf solide Arbeitsergebnisse der letzten Jahre hinweisen und glaubhaft eine Vorstellung davon vermitteln kann, wie der Plan für die nächsten Jahre aussieht. Da haben wir mit einer erfolgreichen Regierungsarbeit unter erschwerten Koalitionsbedingungen, einem erfahrenen Vizekanzler und einem klaren Zukunftsprogramm das beste Angebot.

NG|FH: Beginnen wir mal mit der Qualität bei der Konkurrenz. Wie nagelt man einen Pudding an die Wand?

Walter-Borjans: Wenn Sie auf das Politikverständnis eines Armin Laschet anspielen, kann ich nur sagen: Wir haben oft genug erlebt, wie er mit Emotion und rhetorischem Geschick Inhaltsleere und Unvermögen überspielt hat. Ich kenne ihn aus siebenjähriger Zeit im Landtag. Ich habe da jetzt viele Déjà-vus. Um aber beim Pudding zu bleiben: Den kann man nicht nageln. Man muss den Leuten klarmachen, dass Pudding als Politikangebot nichts taugt. Im Augenblick erledigt der Kanzlerkandidat von CDU und CSU diese Aufgabe aber selbst.

NG|FH: Vielleicht war es einst mit Helmut Kohl nicht viel anders?

Walter-Borjans: Ich bin ganz sicher kein Kohl-Freund, aber er hatte einen ganz anderen Auftritt. Er hatte ein Gespür für Symbolik. Daran hat sich Armin Laschet zu orientieren versucht, ist aber gerade zuletzt grandios damit gescheitert. Laschet ist lange auf der Welle des netten Kerls von nebenan gesurft, dem man mangelnde Sachkenntnis nachsieht, weil er zur rechten Zeit an die richtigen Leute delegiert. Spätestens während der Flutkatastrophe, aber auch schon in der Corona-Krise ist deutlich geworden, dass er den Aufgaben eines Regierungschefs nicht gewachsen ist. Vertrauen entsteht aber nicht allein durch Erfahrung und Können. Die Leute wollen spüren, dass ein Kanzler ihre persönliche Lage im Blick hat. Olaf Scholz hat das, was ihn schon als Hamburger Bürgermeister ausgezeichnet hat, in den letzten Wochen noch einmal besonders unter Beweis gestellt. Laschet ist demgegenüber hinter der Fassade des sozialen Landesvaters schon immer bedenkenlos der Wirtschaftslobby hinterhergelaufen.

NG|FH: Die Grünen andererseits wurden seit Wahlkampfbeginn genagelt. War deren Entzauberung eigentlich absehbar?

Walter-Borjans: In der jetzigen Form vielleicht nicht, die Anlässe waren ja nicht vorhersehbar. Aber es war vorhersehbar, dass unter den Konservativen bei allem Flirten mit Schwarz-Grün niemals akzeptiert würde, dass es auch Grün-Schwarz werden könnte. Von daher war klar, dass sich die konservativen Meinungsbildner sehr darauf konzentrieren würden, die Grünen hinter die CDU zu drücken.

Dazu brauchte man emotionale Aufreger, die Grünen haben die Vorlagen dafür geliefert. Es begann ja schon, als Fraktionschef Hofreiter den Traum vom Eigenheim infrage stellte. Dann kamen die Fehltritte der Annalena Baerbock. Letztlich entstand der Eindruck, dass die Grünen glauben, mehr scheinen zu müssen als sie sind. Und der Eindruck von Hochstapelei ist nie hilfreich.

NG|FH: Gibt es bei den Grünen auch programmatisch so etwas wie systematische Hochstapelei – in dem Sinn, dass sie unrealistische Ziele vorgeben, die bis weit in die SPD hinein aber sympathisch gefunden werden?

Walter-Borjans: Das Gefühl, dass die Politik, besonders beim Klimaschutz, aber auch auf anderen Feldern, sofort und ohne Einschränkungen handeln müsste, haben viele, bis hin zu christlich orientierten Anhängern der CDU. Das ist ja auch nachvollziehbar, und das bedienen die Grünen. Gleichzeitig haben sie aber gelernt, dass alles, was mit Entbehrungen verbunden ist, in der heißen Auseinandersetzung schadet. Sie wollen diejenigen bedienen, die die Situation sehr dramatisch sehen – aber gleichzeitig auch die gewinnen, die gebraucht werden, um stark zu werden. Das geht nicht nur vor der Wahl zu Lasten der Kontur. Man blicke nur auf Baden-Württemberg und Hessen.

NG|FH: Dann reden wir mal über Geld und Steuern, wenn es Union und Grüne nicht tun. Über was ist die SPD da bereit zu sprechen?

Walter-Borjans: Am Anfang steht für uns nicht, wieviel Steuern und Kredite wünschenswert, sondern welche Ausgaben dringend nötig sind. Für Infrastruktur, Bildungssystem, Wohnen, Digitalisierung werden mindestens 500 Milliarden Euro zusätzlich im kommenden Jahrzehnt an Investitionen gebraucht. Das haben das gewerkschaftsnahe Wirtschaftsinstitut IMK und das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft gemeinsam festgestellt. Wer das umsetzen will, muss sagen, woher das Geld kommen soll. Wir finden da: Viel zu viele haben sich bisher einen schlanken Fuß machen können. Steueroasen, Gewinnverschiebung, Steuerhinterziehung sind die Stichworte. Olaf Scholz hat international die Mindestbesteuerung angestoßen, endlich kommt das voran. Außerdem ist es absolut vernünftig, Werte für die Zukunft zumindest teilweise mit Krediten zu finanzieren und damit auch einen Teil der Kosten an die Zukunft weiterzugeben. Das ist auch in der Wirtschaft gang und gäbe. Die Legende von der schwarzen Null als generationengerechte Form der Staatsfinanzierung hat sinnvolle Investitionen viel zu lange ausgebremst.

NG|FH: Das waren eher die einfachen Punkte: Höhere Ausgaben, Steuerregeln durchsetzen, mehr Flexibilität bei Krediten. Die heikleren Punkte haben mit der Verteilungsfrage zu tun…

Walter-Borjans: Wir sind die Steuersenkungspartei für die übergroße Mehrheit, für 95 % der Bevölkerung. Dafür muten wir den oberen 5 % – mit über 100.000 Euro Einkommen pro Single – etwas mehr zu. Und dem reichsten einen Prozent auch eine Vermögensteuer. Damit könnten wir die große Mehrheit entlasten.

Das wäre ein wichtiger Beitrag zum Zusammenrücken der Gesellschaft und zu besser verteilter Kaufkraft. Die Finanzierung für die dringend nötigen Investitionen muss aus den anderen genannten Feldern kommen – ganz besonders dem Schließen von Steuerschlupflöchern.

NG|FH: Nun gab es genau diese Debatte zuletzt aber in jedem Wahlkampf, entscheidend war sie nicht – außer die neoliberale Seite hat die Leute mit brachialen Unterstellungen verschreckt. Warum sollte diesmal ein sozialdemokratisches Steuerkonzept ziehen?

Walter-Borjans: In der Tat hat die SPD den stetig tiefer werdenden Graben zwischen Arm und Reich und die notwendigen Konsequenzen daraus immer wieder ein bis zwei Jahre vor Wahlen angesprochen und Lösungen propagiert. Im Verlauf der Wahlkämpfe wurde die Debatte dann aber immer leiser. Der Grund: Wir haben es mit Interessenvertretern der wenigen Privilegierten zu tun, die in der Lage sind, denen Angst vor Belastungen zu machen, die bessergestellt werden sollen. Bedauerlicherweise sind konsequente steuerpolitische Korrekturen in anschließenden Koalitionsverhandlungen am Widerstand des Koalitionspartners gescheitert. Der Glaubwürdigkeitsverlust blieb aber an der SPD kleben.

NG|FH: Warum wird das diesmal anders?

Walter-Borjans: Weil wir auf eine andere Mehrheit setzen und weil Olaf Scholz, Saskia Esken und ich diesem Thema auch in der Schlussphase des Wahlkampfes ein hohes Gewicht beimessen – auch und gerade vor dem Hintergrund der enormen finanziellen Lasten durch Corona, Klima und Flutkatastrophe. Ich wäre nicht Parteivorsitzender geworden, wenn Themen wie Steuergerechtigkeit und Bekämpfung von Steuerbetrug an unserer Parteibasis nicht für so zentral gehalten würden. Für mich ist das ein Politikfeld, in dem ich wieder für mehr Vertrauen in die SPD sorgen will.

NG|FH: Was hat die Neuaufstellung an der Parteispitze bisher mit Blick auf die Wahl gebracht?

Walter-Borjans: Sie hat die Partei wieder zusammengeführt. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten erleben heute ein deutlich konstruktiveres Zusammenspiel in den Führungsgremien und mit der Basis. Unser Zukunftsprogramm ist gemeinsam entstanden. Selbst erfahrene Beobachter vonseiten der Medien liegen mit ihren Vermutungen oft daneben, wer denn nun Urheber welchen Programmpunktes ist. Jetzt geht es darum, die SPD mit dieser Gemeinschaftsleistung wieder attraktiv zu machen. Es ist wahr, die Partei hat in den vergangenen Jahrzehnten einen Imageschaden erlitten. Viele wissen gar nicht mehr, was Auslöser und Inhalt der Agenda 2010 waren, aber fast alle glauben zu wissen, dass entweder alles falsch oder alles richtig war. Wir haben 2019 ein kluges Sozialstaatspapier beschlossen, das den Änderungsbedarf benennt und mit dem wir Hartz IV überwinden werden. Gerade aus den vergangenen Jahren können wir vieles anführen, wie viel Sozialdemokratie in wichtigen Entscheidungen der Bundesregierung steckt, die viel zur sozialen Stabilität in unserem Land beitragen: Grundrente, Mindestlohn, Kurzarbeitergeld und vieles mehr. Unser Kanzlerkandidat steht dafür, dass diese Linie auch in Zukunft gilt. Aber ich nehme aus vielen Gesprächen mit, dass wir noch deutlicher präzisieren müssen, was ein Kanzler Scholz konkret und sehr schnell nach der Wahl umsetzen würde.

NG|FH: Nun haben wir über Inhalte, Strategie und Wahlkampf geredet, aber das Wort Corona ist noch nicht gefallen. Wirft die Pandemie womöglich wieder alles über den Haufen?

Walter-Borjans: Die Pandemie hat viel verändert. Sie bedroht viele Existenzen und hat viele Opfer gekostet. Aber sie hat auch Einsichten geweckt. Die Konfrontation mit Corona hat den Koalitionspartner – wenn oft auch widerwillig – dazu gebracht, lange bestehenden Forderungen der SPD nachzugeben, etwa der Sicherung eines handlungsfähigen Gemeinwesens und massiver Investitionen in die öffentliche Infrastruktur. Die Pandemie bleibt natürlich die ganz große Unbekannte für die Stimmung bis unmittelbar vor der Wahl. Aber inzwischen wird doch auch deutlich, wie viel wir vor allem auf Betreiben der SPD während Corona richtig gemacht haben.

NG|FH: Ist das Virus eigentlich parteipolitisch ein Neutrum – oder gibt es da Kalküle?

Walter-Borjans: Die Rechtspopulisten, die im Abwärtstrend sind, glauben offenbar, mit der Leugnung von Corona Punkte machen zu können. Der Versuch des FDP-Vorsitzenden, die Pandemiepolitik auf Kosten des Gemeinwohls zum Freiheitsthema zu machen, ist sicher auch sehr kalkuliert. Ansonsten sehen vor allem viele ausländische Beobachter es als eine Stärke hierzulande an, dass wir dieser Jahrhundertbedrohung in einem Wahljahr nicht mit parteipolitischer Profilierung begegnet sind. Aber eines zeigt sich in solchen Krisensituationen doch: wer besonnen und verlässlich ist. Die Leute haben ein feines Gespür dafür, ob jemand einer so ernsthaften Herausforderung gewachsen ist.

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