Menü

© picture alliance / Panama Pictures | Dwi Anoraganingrum

Ein Gespräch mit der Friedensforscherin Claudia Baumgart-Ochse über die Perspektive einer Zwei-Staaten-Lösung im Nahen Osten »Es geht nur über Wahlen«

NG/FH: Frau Baumgart-Ochse, alle Welt redet plötzlich wieder über eine Zwei-Staaten-Lösung für Nahost…

Claudia Baumgart-Ochse: …erstaunlich, nicht wahr?

Meinen dabei wirklich alle das Gleiche?

Tatsächlich eher nicht. Historisch gesehen ist ja schon 1937 erstmals eine Zwei-Staaten-Lösung vorgeschlagen worden. Damals hat die britische Mandatsmacht eine kleine Kommission ins Land geschickt, nachdem es erste gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Juden in Palästina gegeben hatte. Diese Kommission schlug vor, das Land zu teilen. Auf 85 Prozent der Fläche sollte danach ein arabischer Staat entstehen, auf dem relativ kleinen Rest ein Staat für die jüdischen Einwanderer. Der zweite historische Vorläufer war die UN-Resolution 181 mit dem sogenannten Teilungsplan von 1947, den allerdings die arabischen Staaten abgelehnt haben, während die jüdische Gemeinschaft zugestimmt hat. Daraus folgte die Staatsgründung Israels 1948. Am nächsten Tag schon überfielen die arabischen Staaten das Land, aber Israel hat diese erste militärische Auseinandersetzung gewonnen – mit 700.000 geflüchteten beziehungsweise vertriebenen Palästinensern.

Seit den Friedenskonferenzen von Oslo in den 90er Jahren ist der Begriff Zwei-Staaten-Lösung nun positiv besetzt?

Wenn man sich die Osloer Verträge genau anschaut, kommt das Wort Staat darin überhaupt nicht vor. Der Friedensprozess, der damals mit Geheimverhandlungen in Oslo begann und auf wechselseitigen Anerkennungen der Verhandlungspartner basierte, führte im Wesentlichen zu Abkommen über den Aufbau einer autonomen palästinensischen Selbstverwaltung im Gazastreifen und im Westjordanland. Wie gesagt: ohne das Wort Staat. Aber es stimmt, damit waren zwei Staaten wieder ein Perspektivthema.

Eine Utopie, mehr nicht?

Natürlich gibt es sehr viele Faktoren, die zwei Staaten als sehr unrealistisch erscheinen lassen. Ein wichtiger ist sicher, dass die Realitäten vor Ort sich ganz anders entwickelt haben, mit inzwischen 700.000 jüdischen Siedlerinnen und Siedlern im Westjordanland und in Ostjerusalem. Damit ist das besetzte Gebiet sehr zerfasert und zerteilt, es gibt für die palästinensische Bevölkerung dort keinen territorialen Zusammenhang mehr, und sie haben nicht die gleichen Rechte wie die Siedler. Ein zweiter Faktor sind die aktuellen Regierungen. Mit der Hamas kann im Augenblick niemand mehr über irgendwelche Perspektiven verhandeln, und die Autonomiebehörde hat ihre Legitimation auch bei den Palästinensern schon lange verloren. Israel hat die rechteste Regierung, die es dort jemals gab. Eine, die eine Zwei-Staaten-Lösung komplett verhindern will. Ihr nationalreligiöser Teil bereitet letztlich die faktische Annexion des Westjordanlandes vor und fantasiert davon, den Gazastreifen wieder zu besiedeln.

Gibt es ein Aber?

Aber die Ereignisse, die wir jetzt erleben, zeigen: Es ist für alle Seiten, auch für die israelische, untragbar, dass es bleibt, wie es ist. Der Krieg wird die Hamas vielleicht für eine gewisse Zeit militärisch unschädlich machen. Er wird aber die Ideologie der Hamas nicht unschädlich machen können. Wir dürfen nicht vergessen, dass es auch im Westjordanland und in Nachbarländern, in denen Palästinenser leben, Unterstützung für die Hamas gibt.

Die Hamas steht für die Vertreibung Israels…

Richtig – und für Gewalt. Rein militärisch lässt sich diese Ideologie aber nicht besiegen. Ideologien bekämpft man nur über längere Zeiträume, in denen man ein besseres Leben ermöglicht. Wer also langfristig etwas erreichen will, kann nur eine Zwei-Staaten-Lösung voranbringen. Die wird schmerzhafte Kompromisse für alle Seiten bedeuten. Es würden israelische Siedlungen geräumt werden müssen und über Grenzkorrekturen müssten größere Siedlungen Israel zugeschlagen werden, andere Gebiete den Palästinensern. Es müsste eine Lösung für Jerusalem geben. Die beste Idee dafür ist die einer mehrschichtigen Souveränität, auch für den Tempelberg. Dann: Die Nachkommen der einst vertriebenen 700.000 Palästinenser zählen heute fünf Millionen. Dass sie alle zurückkehren auf das heutige israelische Gebiet, ist nicht mehr vorstellbar. Es müsste auch dazu eine Einigung geben.

Wer soll jemals das alles verhandeln?

Es sind langfristig gedachte Themen. Kurzfristig müsste erst mal eine wie auch immer geartete Lösung für den Gazastreifen gefunden werden. Es müssten die arabischen Nachbarstaaten, aber auch die USA eine große Rolle spielen. Die Nachbarstaaten haben eine besonders große Verantwortung. Einige arabische Staaten hatten ja gerade Normalisierungsabkommen mit Israel abgeschlossen, hoffentlich halten die jetzt. Hoffentlich sehen diese Staaten, dass es ein großer Fehler war, die palästinensische Frage in diese Abkommen nicht stärker einzubinden.

Geht das auch ohne die schiitisch geprägten Staaten im Norden, insbesondere ohne Iran?

Auf kurze Sicht geht es nur ohne Iran.

Dann durch eine sunnitisch-arabische Friedenskonferenz unter Einbeziehung der USA?

Und weitere internationale Partner, aus Europa und anderen Regionen. Das wäre gut.

Haben Sie eine Idee für einen ersten Schritt?

Der erste Schritt müsste sein, dass es eine internationale Kontaktgruppe gibt, an der die arabischen Staaten beteiligt sind. Für eine gewisse Zeit wird Israel die Sicherheitskontrolle im Gazastreifen behalten wollen. Aber dann muss dort ja irgendwie regiert werden. Da brauchen wir ägyptische, saudi-arabische, katarische Unterstützung. Dann wird es eine Art von Übergangslösung geben müssen, bis – vielleicht – die palästinensische Autonomiebehörde wieder Verantwortung übernimmt. Es braucht also einen politischen Prozess, in dem auch Wahlen eine Rolle spielen müssen.

Das klingt nach einem international gesteuerten Verfahren, das Israel und Palästinenser maximal tolerieren würden. Wird Israel einer dauerhaften Verfestigung einer internationalen Mitverantwortung jemals zustimmen?

In Israel gab es vor dem 7. Oktober eine massive Protestbewegung für den Erhalt von Rechtsstaatlichkeit. Der rechten Regierung ging es ja um den Umbau der Justiz, um eine massive Beschneidung des Obersten Gerichtshofs, bei den Ultrarechten nicht zuletzt zur Vorbereitung einer Annexion des ganzen Westjordanlandes. Die Protestbewegung zeigte quer durch verschiedene Lager eine lebhafte, demokratisch gesonnene Zivilgesellschaft.

Es gibt jetzt nach dem grausamen Massaker auch eine große Frustration über die Sicherheitsbehörden. Ich kann mir deshalb vorstellen, dass es in Israel nach dem Krieg zu einer politischen Veränderung kommt und damit die Möglichkeit steigt, eine politische Lösung anzustreben. Dann wird die Erkenntnis wachsen, dass nur eine Zwei-Staaten-Lösung dauerhaft ein tragfähiges Fundament sein kann. Manchmal gibt es ja auch glückliche Fügungen, auf der palästinensischen Seite genauso: Die wirkliche Stimmung dort gegenüber der Hamas muss sich erst noch zeigen. Letztlich geht das nur über Wahlen.

In den USA gab es nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gerade keine Hinwendung zum Multilateralismus, sondern eine nationale Welle. Joe Biden sagt den Israelis heute, sie sollten die Fehler der USA von damals nicht wiederholen. Aber können die Israelis angesichts ihrer Bedrohungserfahrung ausgerechnet jetzt per demokratischer Mehrheit die Hand ausstrecken?

Kurzfristig nicht, dazu ist das Trauma zu groß. Das Bedrohungsgefühl ist unermesslich gestiegen – für den einzig als sicher wahrgenommenen Hafen der Jüdinnen und Juden weltweit. Es ist jetzt unglaublich schwierig. Aber in der Friedens- und Konfliktforschung gibt es das Konzept der »conflict ripeness«, also die Vorstellung, dass auch langwierige Konflikte unter bestimmten Bedingungen reif sind für eine Lösung – wenn die Konfliktparteien keine Möglichkeit mehr sehen, einseitig noch ein gutes Ergebnis für sich zu erzielen; und wenn sie sich in einem für beide Seiten schmerzhaften Patt befinden. Dann kann sich die Tür für eine alternative Lösung öffnen.

Mal aus Sicht der Bevölkerungen gedacht: Geht es um ein Miteinander oder nur um ein Nebeneinander?

Es geht um ein Nebeneinander. Das Miteinander ist erst einmal für längere Zeit ausgeschlossen. Wobei, wenn man auf die Lage innerhalb Israels blickt: Nach den Unruhen von 2021 ist es diesmal zwischen der palästinensischstämmigen und den anderen israelischen Staatsbürgern noch nicht zu massiven Auseinandersetzungen gekommen. Das ist ein Zeichen der Hoffnung. Aber es ist generell schwierig, Gefühle zu pauschalisieren. Gerade jetzt.

Kann es eine Zwei-Staaten-Lösung geben, wenn so viele sich dauerhaft im Krieg fühlen?

In den 90er Jahren, Stichwort Oslo, gab es erstmals das Gefühl: Es könnte klappen. Es ist also nicht unmöglich, dass sich so ein Gefühl irgendwann wieder einstellt.

Verknüpft mit starken Führungsfiguren wie Jitzchak Rabin oder Jassir Arafat, die es heute nicht gibt?

Auch verknüpft mit breiten zivilgesellschaftlichen Bewegungen, die es schaffen wollten. Dann aber kamen die Friedensstörer, die alles wieder torpedierten, auf beiden Seiten.

Wie wird sich diese offene Frage überall dort auf der Welt auswirken, wo jüdische und arabischstämmige Menschen nahe beieinander leben? Was wird sich in New York oder Berlin entwickeln?

Das ist eine andere Fragestellung. In Israel und Palästina geht es um einen territorialen Konflikt, um handfeste Entscheidungen. Das könnte, wenn der Wille dazu bestünde, sachlich-rational beredet werden – aber natürlich wird von beiden Seiten weltweit um Unterstützung geworben. Auf den Straßen von Berlin und New York spielen noch andere Dinge rein: Antisemitismus, Islamhass. Da spielen die harten Fakten des Konflikts manchmal kaum noch eine Rolle. Oft ist diese Polarisierung sogar unabhängig von jedem Wissen darüber, was im Konflikt selbst eine Rolle spielt.

Könnten wir nicht gemeinsam vorleben, dass der Hass überwunden werden kann?

Es gibt viele Beispiele dafür, dass das sehr wohl möglich ist. Aber es gibt nun mal den ganz rechten Antisemitismus, der bis in die bürgerliche Mitte hinein ausstrahlt. Und es gibt einen neuen linken, eher postkolonial auftretenden Antisemitismus, den wir gerade erst beginnen zu begreifen. Das zeigt, dass es viel zu kurz greift, nur von islamischem Antisemitismus zu reden. Zugleich nehmen auch antiislamische Ressentiments zu, das zeigen nicht zuletzt die Wahlerfolge rechter Parteien in Europa, zuletzt in den Niederlanden. Und das kulturell Trennende ist weltweit verbreitet. Jetzt ist es durch die Ereignisse in Israel und Gaza neu emotional aufgeladen. Da entgegenzuarbeiten ist nötig, zum Beispiel mit viel besserer Information und Bildung über die Religionen, über Menschen- und Völkerrechte. Aber das ist ungeheuer schwer.

Was sind 2024 erreichbare Ziele?

Sicherheit für Israel vor Angriffen aus dem Gazastreifen. Eine regional und international unterstützte Verwaltung dort. Das Verhindern neuer Vertreibungen, stabile humanitäre Hilfe und ein Beginn des Wiederaufbaus. Vor allem: eine internationale Konferenz aller, die unter Einschluss Israels gesprächsbereit sind. Aber anders angepackt als bei früheren Anläufen: Die Frage nach dem Endstatus müsste frühzeitig aufgenommen werden, statt wieder alle großen Fragen offen zu lassen. Denn dann haben die Friedensstörer wieder großen Raum.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben