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Ein Gespräch mit dem Oberbürgermeister von Schwerin, Rico Badenschier, über die Stimmung im Osten »Es geht ums Gehörtwerden«

 

NG/FH:Herr Badenschier, Sie sind im zweiten Wahlgang als Oberbürgermeister wiedergewählt worden – gegen einen Mann von der AfD. Wie schlägt man die Rechten?

Rico Badenschier: Man muss nahe bei den Menschen sein. Das klingt immer so platt, aber es stimmt. Hier in Schwerin war es für mich auch nach der ersten Amtszeit nochmal eine besondere Herausforderung. Der Gegenkandidat von der AfD war in der Stadt bekannt und menschlich bei vielen durchaus angesehen.

Hatte sich in der Grundstimmung der Stadt denn etwas geändert?

Für mich sind da immer Gespräche mit den alten Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus wichtig, wo ich früher gearbeitet habe. Da gibt es die Ärztinnen und Ärzte, die von der Grundeinstellung her eher schwarz-grün denken, manche sicher auch FDP-nah. Und es gibt das medizinisch-technische Personal und die Pflegerinnen und Pfleger, die ich – im Unterschied zum kosmopolitischen Spektrum - eher kommunitaristisch nennen würde, auf das eigene Lebensumfeld und die Familie fixiert. Von denen wählen viele SPD, andere haben bisher auch Linke gewählt. Aber jetzt gab es viele, für die bei dieser Personenwahl der Kandidat der AfD interessant war. Aus solchen Gesprächen war mir klar, dass das ein starker Gegner wird. Für mich gilt: Ich habe meine eigene Kraft immer aus der politischen Unabhängigkeit bezogen, ich komme ja nicht aus der Politik. Das ist wichtig, gerade jetzt.

Bedeutet Quereinstieg nicht oft auch, die politischen Mechanismen überhaupt erst mal verstehen zu lernen?

Als Arzt war ich da privilegiert. Ich konnte mir den Luxus erlauben, vieles erst mal auszuprobieren. Wenn ich ins Parlament schaue, sehe ich da fast ausschließlich Lehrer und Juristen mit viel politischer Erfahrung, den Querschnitt der Bevölkerung bildet das ganz sicher nicht ab. Die Frage ist doch: Was wollen wir? Als ich mich vor zehn Jahren selbst gefragt habe, ob ich in die Politik gehen soll, war mir ein Zitat von Helmut Schmidt wichtig. Ich erinnere es so, dass er das chinesische System von Verwaltung deshalb für so effektiv erklärte, weil dort Eliten produziert würden, die ihr Verwaltungshandwerk systematisch gelernt haben. Wir kommen bei uns heute letztlich zu einem ähnlichen Ergebnis: Da sind alle schon sehr lange dabei. Aber wir haben doch eigentlich einen anderen, einen weiteren Anspruch. Wir wollen das Volk repräsentieren. Da sind die Startchancen bei uns extrem unterschiedlich.

Ist es nicht gefährlich, sich in der Auseinandersetzung mit Rechten generell von Parteipolitik abzugrenzen?

Ich habe auf meinen Plakaten immer ganz klar das Corporate Design der SPD genutzt – aber ich habe als Person kandidiert. Ganz klar: Ich bin der Kandidat der SPD und die Parteien haben für die Meinungsbildung eine zentrale Rolle. Zumal wir Sozialdemokraten mit unserem breiten Spektrum, mit unserer breiten innerparteilichen Willensbildung. Aber in der Breite der Gesellschaft sind die Parteien nun einmal schwach verankert. 300 sind wir im Kreisverband der SPD, 3.000 im Landesverband Mecklenburg-Vorpommern.

Im Westen gibt es Kreisverbände mit mehr Mitgliedern als bei uns im ganzen Land. Wer bei uns aktiv mitmacht, ist sehr schnell Amts- und Mandatsträger. Demnächst werden die Listen für die Kommunalwahl 2024 aufgestellt, das ist in der dörflichen Struktur Mecklenburg-Vorpommerns ein Riesenproblem. In den Städten ist es etwas leichter.

Wir reden hier über ein Elitenproblem?

Das kann man so sagen, selbst wenn der Begriff hier nicht richtig passt. Und ich muss es zusätzlich immer im Ost-West-Kontext diskutieren, zumal in der Auseinandersetzung mit der AfD. Wie viele Ostdeutsche kommen wirklich in führende Funktionen? Denken Sie an die Richterinnen und Richter an den höchsten Gerichten, an die Generäle bei der Bundeswehr, an die Hochschulprofessuren…

Ist das aber nicht auch eine Art Schutzargument für alle, die nicht weiterwissen, mehr als 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung?

Hier ist das Thema den Leuten wirklich wichtig. Die Bevormundungserfahrungen sitzen tief. Ich finde mich in den Texten von Jana Hensel wieder, vor allem in ihrem Buch Zonenkinder. Da geht es um das Lebensgefühl der Ende der 70er Jahre geborenen Ostdeutschen. Sie beschreibt an einer Stelle die Szene, als sie studierte und alle ihre Kindheitserfahrungen teilten. Die aus der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft tauschten sich aus über die Drei Fragezeichen. Sie selbst erzählt von Lolek und Bolek. Dann wird der Raum still und alle schauen sie an wie ein Maskottchen.

»Es geht um Platz zwei in der westdeutschen weißen Mehrheitsgesellschaft.«

Ich habe das auch so erlebt. Schon da wird einem letztlich von außen erzählt, wie die Welt war. Daran hat sich nicht viel geändert. Eine These bei Hensel, in der ich mich total wiedergefunden habe, war später: Es geht zwischen Ostdeutschen und Migranten um einen erbitterten Kampf um Platz zwei in der westdeutschen weißen Mehrheitsgesellschaft.

Ist das nicht eine Selbststigmatisierung?

Die Generation meiner Eltern musste vor 33 Jahren ihr Leben umkrempeln. Viele hatten sich davor mit dem System arrangiert, hatten ihren Lebensentwurf darauf aufgebaut. Die haben aus dieser Erfahrung heraus jetzt schon wieder das Gefühl, dass ein System auch zu Ende gehen kann. Meine Mutter war in der Produktion gewesen. Die haben damals spätestens am 20. des Monats begonnen, an der Kreidetafel die Produktionsziele zu korrigieren, damit sie sie einhalten konnten. Wenn jetzt plötzlich die Lieferzeiten für ein Auto nicht mehr bei drei Monaten liegen, sondern bei 15, weckt das ein paar Emotionen. Wir als Stadt bestellen inzwischen Feuerwehrfahrzeuge für 2025.

Ihr Gegenkandidat hat jetzt im ersten Wahlgang 27 Prozent erreicht. Wird die AfD zur Vertretung derer, die sich ignoriert fühlen?

Gleichzeitig hat sich ja die Linkspartei halbiert. Die AfD sammelt die Rechtskonservativen von der CDU ein und zur anderen Hälfte die Unzufriedenen, von denen viele lange die Linke gewählt haben. Die PDS war mal die CSU des Ostens. Richtig konservativ – und sozial. In ihrem Generationenwechsel bilden sie ihre konservative Wählerklientel nicht mehr ab. Wenn Sarah Wagenknecht endlich ihre neue Partei gründet, könnte das die AfD hier bei uns halbieren. Weil viele der Leute, die sie jetzt neu gewählt haben, mit rechts eigentlich noch fremdeln. Ihnen geht es letztlich ums Gehört-werden.

Wieso werden diese neuen – oder alten – Brüche jetzt in den ländlichen Gegenden besonders deutlich, zum Beispiel in Thüringen?

Ich tue mich schwer, Mecklenburg-Vorpommern mit Thüringen hinsichtlich der Rechten zu vergleichen. Da gibt es zusätzlich noch eine Nord-Süd-Problematik. Wir in Schwerin sind den Niedersachsen und Schleswig-Holsteinern von der Mentalität her näher als den Thüringern. Hier war es eher in den 90ern so, dass die Stimmung besonders auf dem Land stark rechtslastig war, geprägt nicht zuletzt auch durch völkische Gruppierungen. Heute werde ich eher von Leuten kritisch angesprochen, die auf keinen Fall die Grünen wollen.

Auch das wieder wegen der Ablehnung von Bevormundung?

Ich erinnere mich an Diskussionen über Tempo 30, schon vor einigen Jahren. Da kam immer schnell die Angst vor dem Verlust von Freiheit. Nun hat Tempo 30 in der Stadt nicht gerade viel mit Freiheit zu tun. Aber die Leute hier haben das Auto als Freiheitsinstrument erlebt. Vor 1989 mussten viele Fahrrad fahren, weil sie kein Auto bekommen haben. Freiheit, das war dann auch das Auto. Das ist sicher nicht sehr rational, mir tun die Grünen manchmal richtig leid. Aber auch da kommt jetzt wieder das Gefühl, dass sich etwas wiederholt. Überspitzt und allemal zu pessimistisch: Die Gesellschaft hier hat es schon mal erlebt, in einem untergehenden Staat zu leben.

Wenn nur das die Emotionen wären: Sind solche Menschen jemals in der offenen Demokratie angekommen?

Da sind wir wieder bei der Repräsentation. Vielleicht würde sich ja was ändern, wenn die Ostdeutschen die Professuren für Politikwissenschaften besetzen würden. Statt des einen oder anderen Konservativen aus Bayern. Da sind Netzwerke entstanden, die uns allen nicht gut tun. Hier ist in 30 Jahren kein Selbstverständnis von eigener Gestaltungsfähigkeit entstanden.

Auch Berlin als große offene Stadt im Zentrum wirkt sich da nicht aus?

Berlin wird nicht als Teil des Ostens wahrgenommen.

Was genau hat jetzt den Aufschwung der AfD in allen Umfragen ausgelöst?

Da spielen sicherlich aktuelle Themen wie das Heizungsgesetz eine Rolle, aber eben auch die Grundstimmung, die Generationenerfahrung. Im Osten gab es in den vergangenen 100 Jahren drei große Abwanderungswellen von gesellschaftstragenden Gruppen. Die Flucht vor den Nazis, später in der DDR die Flucht des Bürgertums und ab 1989 das Abwandern einer gerade frisch ausgebildeten Schicht von Jüngeren. Denen, die heute hier wohnen, fehlten über zwei Generationen die Chancen zum Wohlstandsaufbau. Vielleicht ist auch deshalb die Lunte beim Heizungsgesetz kürzer als anderswo.

Bricht da jetzt etwas dauerhaft weg?

Soweit ich das wahrnehme, ist es kein generelles Wegbrechen. Vor einem Jahr haben wir alle die AfD noch totgesagt. Innerlich zerstritten, schwache Personen, neuer Schwung in Berlin – damals. Wir müssen sie ernst nehmen, dabei bleibt es. Das Gute an der Welt ist: Sie dreht sich weiter. Unser System ist so stabil, dass es das aushält.

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