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© Foto:  Dima Kolesnyk on Unsplash
 

30 Jahre Deutsche Einheit »Es gibt ein enormes Artikulationsbedürfnis«

Der Soziologe Steffen Mau lehrt und forscht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Schwerpunkten zählen die soziale Ungleichheit, Transnationalisierung und die europäische Integration. Zuletzt erschien der Bestseller »Lütten Klein« über das »Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft«. Darin ergründet Mau, der selber in den 70er Jahren in dem Rostocker Neubauviertel Lütten Klein aufwuchs, die Ursachen der heutigen Spannungen in Ostdeutschland. Im Gespräch mit Thomas Meyer verdichtet er seine Erkenntnisse: Vieles hatte seinen Ursprung in der DDR, manches verschärfte sich aber auch in der Zeit der Transformation zu gesellschaftlichen Frakturen.

NG|FH: Herr Mau, gegen Ende Ihres Buches heißt es: »Das Erbe der DDR, die Defizite des Vereinigungsprozesses, die Probleme der politisch induzierten Transformation und das anhaltende sozialstrukturelle Gefälle zwischen Ost- und Westdeutschland lassen die Rede von der Vollendung der Einheit als allzu vollmundiges Versprechen erscheinen, jedenfalls wenn man sich darunter so etwas wie Konvergenz vorstellt.« Ist das eine Art Fazit?

Steffen Mau: Ja.

NG|FH: Eine der Hauptthesen des Buches lautet, dass sich aus dem Zusammenspiel einer besonderen Sozialstruktur, die sich nach der Wende entwickelt hat, und der mentalen Verfasstheit Probleme ergeben, die eine reibungslose Integration, die sich einige vorgestellt hatten, nicht so ganz gelingen lässt. Ihr zentraler Begriff lautet »gesellschaftliche Frakturen«. Sie legen auch Wert darauf, dass sich diese sowohl aus der Erbschaft der DDR heraus ergeben, wie aber auch aus bestimmten Problemen im Transformationsprozess selber. Können Sie das näher erläutern?

Mau: Im Prinzip unternehme ich den Versuch einer soziologischen Einordnung und Erklärung der doch überraschend starken Unwuchten und Ressentiments, die man jetzt in Ostdeutschland beobachten kann. Viele sozialwissenschaftliche Beobachter sind davon ausgegangen, dass sich die Unterschiede über die Zeit durch den Institutionentransfer ausschleifen werden, vielleicht auch aufgrund einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland. So sollte manche ostdeutsche Sondermentalität und kulturelle Prägung über die Zeit weniger Bedeutung haben, vor allem im Vergleich der Generationen. Heute kann man aber feststellen, dass das nicht der Fall ist, sondern dass es bei bestimmten kulturellen Formen eine ausgeprägte Widerstandsfähigkeit gibt, dass sie Haken und Ösen haben und zum Teil auch in die Auseinandersetzung mit den etablierten Institutionen treten.

Soziologisch betrachtet haben 1990 zwei sehr unterschiedliche Gesellschaften zusammengefunden; politisch durchaus antipodische Gesellschaften, aber auch sehr eigenständige soziale und kulturelle Formationen. In der Kommunikation über die Wiedervereinigung wurde dies häufig ja nur als etwas beleuchtet, was über kurz oder lang verschwinden würde. In der Annahme, dass es sich ja auf beiden Seiten um Deutsche mit einer tieferen Geschichte handelt, die jetzt wieder zusammenkommen, nachdem sie 40 Jahre getrennt waren, hat man sich doch zu sehr darauf verlassen, dass es eine Art nachholende Modernisierung oder eine Verwestlichung des Ostens geben wird.

Die DDR war eine sehr kleine, sehr homogene Gesellschaft mit einer nach unten gedrückten Sozialstruktur. Es gab, bis auf die wenigen Vertragsarbeiter keine Migrationsgeschichte und eine sehr arbeiterliche Prägung der Gesellschaft. 1990 hat sich diese dann mit einer schon diversifizierten und pluralisierten Mittelschichtsgesellschaft vereinigt. Das interpretiere ich als Unterschichtung der alten Bundesrepublik durch die ostdeutschen Länder. Währenddessen in die andere Richtung durch die Transfereliten eine Überschichtung der ostdeutschen Gesellschaft stattgefunden hat.

NG|FH: Könnten Sie diese beiden Begriffe – Überschichtung und die Unterschichtung – noch ein wenig anschaulicher machen?

Mau: Unterschichtung bedeutet im Prinzip, dass die Ostdeutschen zunächst einmal auf die unteren Ränge der gesamtdeutschen Sozialstruktur verwiesen worden sind. Das sieht man an den beruflichen Positionen – hier spielt natürlich auch die Massenarbeitslosigkeit in den 90er Jahren eine große Rolle –, aber natürlich auch an der sozialstrukturellen Komposition: ein sehr hoher Anteil an Arbeitern, ein geringer Anteil an akademisch Qualifizierten in Ostdeutschland; die Studierendenquote war damals gerade einmal halb so hoch wie im Westen.

Die Überschichtung wiederum bestand darin, dass viele Tausend vorwiegend Männer aus dem Westen in den Osten kamen und man in den 90er Jahren sagen konnte: Je höher und einflussreicher die Position ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie mit westdeutschen Eliten, mit Transfereliten besetzt ist. Das hatte ja durchaus auch eine funktionale Begründung, weil diese eben das Know-how hatten und wussten, wie man bestimmte Dinge bewerkstelligt. Damals war zu erwarten, dass dies eine Übergangszeit sein wird bis eine eigene ostdeutsche Elitenbildung stattfindet. Diese hat aber eigentlich, bis auf wenige Ausnahmen, bis heute nicht geklappt. Die westdeutschen Eliten haben sich in gewisser Weise festgesetzt. Man kann das in fast allen gesellschaftlichen Sektoren sehen. Aktuell gibt es ja die Berichte über den aus Greifswald stammenden Jes Möller, der der erste ostdeutsche Bundesverfassungsrichter werden könnte. Seit 1990 hat also niemand so einen Rang bekleidet, obwohl mittlerweile auch eine große Kohorte zur Verfügung stünde, die schon im Prinzip westdeutsche Bildungskarrieren durchlaufen hat. Doch selbst bei denen sieht man noch nicht, dass sie in Spitzenränge aufrücken. Die ostdeutsche Gesellschaft hat sich also in gewisser Weise nicht so nach oben aufgefaltet, wie man angenommen hatte. Sozialstrukturell wurde prognostiziert, dass es nach der Wiedervereinigung so etwas wie eine natürliche Umschichtung von unten nach oben geben würde. Stattdessen ist vor allen Dingen bei ostdeutschen Männern zu sehen, dass sie ganz häufig Statusverluste – auch im Verhältnis zu ihren Vätern – hinnehmen mussten.

NG|FH: Das gehört sicherlich zu den gesellschaftlichen Frakturen, die in Ihrem Buch eine große Rolle spielen, Brüche also, die die Gesellschaft erlitten hat, an denen sie weiterhin leidet, anhand derer sich vieles erklären lässt, die Über- bzw. Unterschichtung ist ein wichtiger Punkt dabei. Welche gesellschaftlichen Frakturen haben Sie noch im Auge?

Mau: Ich denke, dass es auch politische und kulturelle gab. Die politischen haben natürlich etwas zu tun mit der Wiedervereinigung, also der Art und Weise wie die Ostdeutschen kollektiv in die Bundesrepublik eingewandert sind. Die DDR ist ja in gewisser Weise in den Schoß der Bundesrepublik kollabiert und hat sich dann auch mehrheitlich dafür entschieden, diesen fertigen Staat, der im Westen schon bereitstand, zu dem eigenen zu machen. Das hat dazu geführt, dass Institutionen übertragen wurden, die nicht an die lokalen Gegebenheiten angepasst worden sind. Eigentlich gab es eine Übertragung 1:1, ein institutionelles Mimikry. Man hat nur wenig geändert. In Einzelfällen, bei Beerdigungsverordnungen oder beim Schwangerschaftsabbruch mit Übergangsregelungen, ansonsten aber ist doch ziemlich starr an der Blaupause West festgehalten worden, auch wenn es langfristig auch Rückwirkungen auf den Westen selbst gab.

Politisch hat das dazu geführt, dass die Ostdeutschen, die sich ja erst im Herbst 1989 im Zuge der friedlichen Revolution als politische Subjekte selbst zu erkennen und zu artikulieren begannen, doch gleich wieder in die Passivität, in eine Beobachterrolle hineingedrängt worden sind. Sie haben die eigenen Institutionen nicht gestaltet und aufgebaut, sondern sie mussten sie einfach hinnehmen. Das mindert den Grad der inneren Bindung an solche Institutionen. Ivan Krastev und Stephen Holmes haben in ihrem Buch Das Licht, das erlosch die sozialen Konsequenzen dieses Nachahmungsprinzips gut herausgearbeitet. Auch für die Parteien kann man das feststellen: Die Westparteien haben sich alle in der Fläche erweitert, waren aber relativ selten in der Lage, das, was an Entwicklungen und Mentalitäten vor Ort vorhanden war, substanziell aufzunehmen. Gemessen an den Mitgliederzahlen sind sie ja im Osten auch sehr kleine Organisationen geblieben. Dies wirkt bis heute fort.

NG|FH: Die Hauptthese Ihres Buches ist ja, dass weder das Erbe der alten DDR-Gesellschaft noch die Fehler oder Defizite im Transformationsprozess allein entscheidend waren für die heutigen Probleme. Erst aus dem Zusammenspiel erklärt sich, was heute an Besonderheit und vielleicht auch an Defiziten da ist.

Mau: Das ist die zentrale These. Und deswegen gehe ich auch zurück bis in die 70er Jahre, um auch die späte DDR zu veranschaulichen. Eine Delegation aus Südkorea fragte mich vor einiger Zeit, was man denn aus der deutschen Wiedervereinigung lernen könne. Man kann sicherlich feststellen, dass wir heute immer noch an bestimmten Folgeproblemen des Übergangs leiden und damit intensiv zu tun haben. Man hat ja damals durchaus in Infrastruktur investiert, in Telefonnetze und Autobahnen. Viel zu wenig wurde daran gedacht, wie man die Menschen wirklich integriert und abholt. Warum gab es beispielsweise kein groß angelegtes Stipendienförderprogramm für junge Ostdeutsche? Warum hat man junge Ostdeutsche nicht – vielleicht im Tandem mit erfahrenen Managern aus dem Westen – in die Institutionen hineingebracht, um ihnen auch Karrieren zu ermöglichen? Darüber hat man ganz wenig nachgedacht.

Ein weiterer Aspekt betrifft die kulturelle Ebene: Die Abwertung und Zurücksetzung von allem, was aus dem Osten kam, wurde von den Ostdeutschen oft als kulturelle Deklassierung oder Subalternisierung wahrgenommen. In den 90er Jahren war die Meinung verbreitet, dass eigentlich alles, was eine DDR-Spezifik hat, durch das System, die Ideologie und die politische Symbolik irgendwie kontaminiert und nicht mehr brauchbar sei. Und das betraf eben Dinge, die jenseits des Politischen liegen und auch im Alltag der Menschen eine Relevanz hatten.

Bei meinen Interviews habe ich immer wieder gehört: Wir mussten, als wir in die Bundesrepublik kamen, alles neu lernen, alles zurücklassen, durften nichts mitbringen und alles ist entwertet worden. Und mit dem Blick auf Geflüchtete kommt dann der Vorwurf: Die können aber ihre eigene Religion weiterführen, die kriegen hier Gebetsräume und dergleichen. Viele geraten so in eine Art Verrechnungsmodus, aus dem man kaum herauskommt. Da fehlt dann der Blick nach vorne.

NG|FH: Sie sagen ja auch, dass viele Ängste haben, ob man den eigenen sozialen Status, der sich ja eh für viele verschlechtert hat, angesichts von Migration und kulturellen Irritationen überhaupt noch halten kann. Viele fragen sich, ob sie mit den hergebrachten Lebensweisen, Identitäten, Lebensformen weitermachen können und Anerkennung finden. Das ist wieder ein Zusammenspiel von real begründeten Ängsten und kulturellen Faktoren. Sie haben dafür eine sehr präzise Formulierung gefunden: Die DDR-Teilgesellschaft ist eine Gesellschaft der Ungleichzeitigkeiten und der kulturellen Spannungen, in der Verdruss und Anfälligkeit für Populismus genährt und dauernd reproduziert werden. Wird sich diese Erfahrung festsetzen und in bestimmten Milieus über Generationen hinweg reproduzieren oder sind das doch eher Übergangserscheinungen?

Mau: Jedenfalls hätte man sich vor 30 Jahren nicht vorstellen können, dass es so lange dauert und dass der Osten auch so sichtbar bleibt als eigener politischer oder Kulturraum. Mittlerweile gab es da schon einige Veränderungen, positive natürlich, aber auch viele problematische, die sich festgesetzt haben, etwa durch die starke Rolle rechtspopulistischer Strukturen auch in lokalen Kontexten. Die konnten dort einwurzeln, die Unzufriedenheit bespielen und politisches Kapital daraus schlagen. Warum das in Teilgruppen an manchen Orten eine so starke Resonanz erzeugt, hat natürlich mit den genannten kulturellen Irritationen zu tun, aber auch mit einer allgemein auch in den 90ern begründeten Verlusterfahrung.

Diese Unsicherheitserfahrung in der Transformationsphase hat in Ostdeutschland sowohl eine kulturelle wie auch eine ökonomische Besitzstandsmentalität hervorgebracht. Das Festhalten, Bewahren und Verteidigen sind zentrale Grundmotive in den Orientierungen vieler Ostdeutscher. Sie sagen zum Beispiel: Wir mussten uns schon einmal verändern und neu erfinden, wir wollen jetzt nicht in eine stärker multikulturalisierte Gesellschaft oder in eine Migrationsgesellschaft hineinkommen; wir wollen jetzt, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Auch der ökonomische Schock wirkt nach. Jede Art gesellschaftlicher Veränderungszumutung wird dann in diesen Milieus sehr kritisch beäugt und zum Teil auch rigoros zurückgewiesen. Das trifft nicht für alle zu, es gibt natürlich auch dynamische, veränderungsbereite Milieus in Ostdeutschland und auch in urbanen Zentren eine ganze Menge an positiven Entwicklungen, aber eben doch für eine nur kleine Zahl.

Ich würde nicht sagen, dass die Wiedervereinigung insgesamt als problematisch zu beurteilen ist, aber wenn man sich damit beschäftigt, was Ostdeutschland heute ausmacht und woran es vielleicht krankt, dann muss man eben auf solche Faktoren zu sprechen kommen und das habe ich in dem Buch versucht darzulegen. Da gibt es mehrere Faktoren, das ist nicht monokausal, sondern ein sehr komplexes Zusammentreffen unterschiedlicher Aspekte. Den Frakturbegriff benutze ich, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine Stimmungslage übellauniger Ostdeutscher handelt, sondern dass es tatsächlich auch eine darunterliegende strukturelle Begründung für solche Entwicklungen gibt.

NG|FH: Man hat bei der Lektüre den Eindruck, dass die Treiber bei den Kampagnen gegen Migration eigentlich Statusängste sind und kulturelle Irritationen und nicht so sehr eine spezielle Ausländerfeindlichkeit, sondern einfach die Verunsicherung, die da noch wächst.

Mau: Das würde ich auch so sehen, wobei man nicht verleugnen darf, dass es auch eingefleischten Rassismus gibt. Es gibt eine Veränderungsunwilligkeit. Während das liberale Milieu sagt: »Du musst dich an eine sich verändernde Welt anpassen« lautet die Botschaft der Populisten: »Die Welt muss sich an dich anpassen.« In einer veränderungserschöpften Gesellschaft, die die ostdeutsche zum Teil ist, trifft letztere natürlich stärker auf vorhandene Stimmungen und Orientierungen. Deshalb haben die Rechtspopulisten hier auch Anknüpfungspunkte gefunden, die organisatorische Vernetzung und das gezielte Übersiedeln rechtspopulistischer politischer Unternehmer von West- nach Ostdeutschland taten ihr Übriges. Das hatte sicherlich auch damit zu tun, dass der vorpolitische Raum dort in den 90er Jahren unbesetzt war. Der war zuvor durch die staatlichen Institutionen, die Massenorganisationen und die Betriebe okkupiert, die das soziale Leben organisiert haben. Das brach alles weg und übrig blieb ein leerer Raum. In den 90er Jahren konnte man dort Dinge tun, die man vielleicht in Hannover oder Oldenburg nicht so ohne Weiteres hätte tun können, weil es eine Zivilgesellschaft gab, die einem relativ schnell auf die Finger gehauen hätte. Dazu gehörten die Handwerkskammern, die Kirchen und viele andere Akteure. Die Rechten haben sich in den kleineren Städten und im ländlichen Raum im Osten sehr stark mit der lokalen Kultur verzahnt, sodass es schwer vorstellbar ist, wie man das vollständig wieder zurückdrehen könnte.

NG|FH: Sie schreiben auch, dass der Blick auf die ökonomischen Kennziffern alleine nicht ausreicht, dass auch die soziokulturellen Faktoren eine große Rolle spielen. Sie beobachten bei vielen eine innere Abstandnahme, die sich bis zur Systemskepsis steigern könnte. Wie müssten sich die westdeutsche Politik und die Zivilgesellschaft jetzt verhalten, damit es nicht dazu kommt, damit Differenzen oder zumindest Animositäten abgebaut werden könnten? Sie weisen ja darauf hin, dass in Ostdeutschland noch der sozialmoralische Unterbau fehlt, also die zivilgesellschaftlichen Strukturen und Milieus, die es in westlichen Gesellschaften zumeist gibt. Das kann man aber nicht direkt durch Maßnahmen erzeugen, das muss von innen her wachsen. Was kann man aber an aktiven programmatischen Dingen von außen leisten?

Mau: Ich bin da sehr zurückhaltend, weil der Grad zwischen Paternalismus und Engagement für eine Sache relativ schmal ist und schnell von dem einen ins andere kippen kann. Von daher ist natürlich ein Teil der Aufgabe, die da vor uns liegt, eine Aufgabe der Ostdeutschen selbst. Ostdeutschland ist ja auch kein Monolith, es gibt verschiedene Milieus, die das auch miteinander verhandeln müssen. Da wird es auch weiterhin sehr schwerwiegende Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen politischen Orientierungen und Lagern geben. Der Westen kann etwa dadurch helfen, dass er die Vielfalt ostdeutscher Stimmen in der gesamtdeutschen Debatte vernehmbar macht. Was letztlich ja auch fehlt sind Formen der ostdeutschen Repräsentation: in den öffentlichen Einrichtungen, im politischen Kontext, in der Hochschullandschaft und vielen anderen Orten. Die Menschen müssen das Gefühl bekommen, dass es ein engeres Band zwischen den gesellschaftlichen Eliten und ihnen gibt. Dieses Band ist zurzeit sehr dünn, nur ganz wenige sind in die Elitenränge aufgestiegen. Bei vielen Lesungen in den Plattenbaugebieten, in Hellersdorf und Marzahn, Halle-Neustadt und auch in Lütten Klein habe ich gespürt, dass es da nach wie vor ein enormes Artikulationsbedürfnis der Ostdeutschen gibt, auch über Verwundungen und Enttäuschungen.

Die Zustimmung zur Wiedervereinigung und auch die Wahrnehmung der Vorteile überwiegen, aber es gibt eben gleichzeitig auch eine Problematisierung der als unerfreulich wahrgenommenen Entwicklungen in den 90er Jahren. Darüber ist man viel zu lange hinweggegangen. Man hat dann die Kritik am Wiedervereinigungsprozess fälschlicherweise als Kritik an der Wiedervereinigung selbst gedeutet. Wenn ich in diese Neubaugebiete gehe, dann erzählen mir die Leute immer wahnsinnig viel, weil sie mich irgendwie als Repräsentanten einer gesamtdeutschen Öffentlichkeit wahrnehmen. Ich glaube, diese Art zu sprechen, erkannt zu werden und das Gefühl zu haben, dass man in einem gesamtdeutschen Diskurs nicht vollständig durch den Westen dominiert oder an den Rand gedrängt wird, das ist eine ganz wichtige Erfahrung. Das spielt bei der kulturellen und historischen Erinnerung sicherlich auch eine ganz große Rolle. Wie wird die DDR interpretiert? Und wer hat in diesem Prozess die Deutungsmacht?

Kommentare (1)

  • Christian Mueller
    Christian Mueller
    am 03.07.2020
    Wow.

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