Am 11. Mai starb in München im Alter von 88 Jahren der Schriftsteller und Journalist Joachim Kaiser. Über mehr als sechs Jahrzehnte zählte er als Musik-, Literatur- und Theaterkritiker zu den einflussreichsten deutschen Feuilletonisten. In der Süddeutschen Zeitung, für die er seit 1958 tätig war, war er Mittelpunkt und Motor eines bedeutenden Feuilletons. Als Musikkritiker hat Joachim Kaiser durch seine Rezensionen, Bücher und Radiovorträge eine ganze Epoche geprägt. Seine Verbalisierungsfähigkeit für musikalische Zusammenhänge war erstaunlich, und in allem, was er schrieb, spürte man eine rezeptive Frische. Seine Texte waren analytisch klug und von großer sprachlicher Eloquenz, zugleich voller Emotion, ohne je ins Schwärmerische abzugleiten. Seine Wirkung als Musikkritiker hat seine Bedeutung als Literaturkritiker, die bereits in seinen früh geschriebenen Texten für die Frankfurter Hefte sichtbar wurde, zu Unrecht überlagert. Dabei war er das junge kritische Genie der Gruppe 47, eigenständig, mit rascher Auffassungsgabe, begabt mit dem Gespür für das Neue, wie es etwa in seiner Rezension der Blechtrommel von Günter Grass 1959 zum Ausdruck kam. Überhaupt zog er es als Kritiker vor, ein Anreger zu sein statt seinen Abneigungen nachzugehen. So gehört er zu den seltenen Vertretern seines Berufsstandes, die weniger durch ihre Verrisse als durch ihre Lobreden und Entdeckungen in Erinnerung bleiben. Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einem Rundfunkgespräch, das Hanjo Kesting 2003 mit Joachim Kaiser zu seinem 75. Geburtstag geführt hat.
NG|FH: Ihre journalistische Laufbahn begann früh, 1951, da waren Sie 21 Jahre alt und Mitarbeiter der Frankfurter Hefte. Eine Zeitschrift, herausgegeben von Walter Dirks und Eugen Kogon, linksbürgerlich, linkskatholisch, literarisch-politisch. Aber Politik stand im Vordergrund, nicht Ästhetik. Galt das auch für Sie?
Joachim Kaiser: Zu den Frankfurter Heften hat mich Walter Maria Guggenheimer geholt. Dann sagte er zu mir: »Gerade ist von Adorno ein Buch herausgekommen, das ist völlig unverständlich, das kann niemand besprechen.« Das war die Philosophie der Neuen Musik, und ich sagte: »Ich halte das weder für unverständlich noch glaube ich, dass man es nicht besprechen kann.« Da sagte er: »Dann machen Sie es.« Und ich schrieb einen großen Aufsatz über das Buch und nannte ihn »Musik und Katastrophe«. Von dem Augenblick an hatte ich beruflich keine Sorgen mehr.
NG|FH: Adornos Buch war gegen Strawinsky und den Neoklassizismus gerichtet, ganz auf der Schönberg-Linie. Wie sehen Sie es heute?
Kaiser: Ich habe Adorno damals vorgeworfen, dass er theorielastig sei und bestimmte Dinge aus der Soziologie herüberbringe in die Musik, in der er sich sehr gut auskannte, das muss man sagen. Aber wenn er bestimmte Thesen über Beethoven aufstellte oder erklärte, wie sich in Wagners Lohengrin der Kapitalismus von 1850 spiegelt oder warum bestimmte Dinge »nicht mehr möglich« sind, dann fand ich, dass er das nicht genau genug beweist. Aber da Sie mich nach diesen Anfängen fragen: Meine Generation hatte es sehr viel leichter als die heutige. Heute sind junge Leute, auch wenn sie Talent haben, alle ein bisschen überdrüssig. Damals genügte ein einziger Aufsatz, dass Adorno mich zu sich nach Hause einlud und die FAZ mir ein Angebot machte.
NG|FH: War der Beruf des Journalisten, speziell des Kritikers, ein von Anfang an angestrebtes Ziel?
Kaiser: Dass ich mit dem Wunsch auf die Welt gekommen bin, Musikkritiker zu werden, kann ich nicht sagen. Aber dass ich über Musik und Literatur schreiben wollte, stand mir von vornherein vor Augen.
NG|FH: Seit einem halben Jahrhundert gehören Sie zu den prägenden Kritikern des Landes, und es gehört einiges dazu, nicht nur renommiert zu sein, sondern zu einer öffentlichen Figur zu werden. Welche Eigenschaften müssen da zusammenkommen?
Kaiser: Man muss die Gegenstände, über die man schreibt, wirklich lieben, muss sich also mit einer gewissen Passion äußern. Das ist das erste. Zweitens muss das Publikum das Gefühl haben, ich verstehe diesen Kritiker. Und drittens muss das Publikum auch das Gefühl haben, er will mir ein bisschen helfen. Es reicht nicht, wenn man schlau ist und sich selbst verwirklichen und brillieren will.
NG|FH: Nun ist Kritiker nicht unbedingt ein beliebter Berufsstand. Kritiker gelten in den Augen des Publikums oft als Beckmesser, als Besserwisser, die alles rational und oft auch destruktiv angehen. Stimmt etwas an diesem Klischee?
Kaiser: Leider ja. Und zwar schlicht deshalb, weil die negative Kritik sich besser liest und origineller wirkt als die positive. Beschreiben Sie mal, dass in Schwanensee alles so wunderschön war, dann sagen alle, das klingt wie Waschmittelreklame. Da muss man ein wirklich guter Stilist sein, um ein positives Erlebnis so zu schildern, dass es nicht wie Reklame klingt oder wie Kitsch. Außerdem lesen die meisten Leute Verrisse lieber als mattes Lob. Deswegen ist die Verführung für junge, intelligente Kritiker groß, dass sie zeigen wollen, wie schlau sie sind. Aber ich finde es viel wichtiger, den Menschen zu sagen: Hört euch einmal die Streichquintette von Mozart an, lasst euch nicht einreden, dass Wagner ein Radaumacher war. Es ist viel wesentlicher, den Menschen zu helfen, als immer nur als schlauer Kritiker dazustehen. Aber die Versuchung ist groß, zumal wenn man jung ist.
NG|FH: Es gibt verschiedene Sparten: Literaturkritiker, Musikkritiker, Theaterkritiker, Kunstkritiker, Filmkritiker, lauter Spezialisten. Eine Besonderheit von Joachim Kaiser war und ist, dass er sich nicht spezialisiert hat. Wie ist das überhaupt möglich? Wie kann man es unter einen Hut bringen?
Kaiser: Ich bin traurig, dass die Spezialisierung inzwischen so weit gegangen ist, dass ich mich jetzt nicht mehr traue, über Filme zu schreiben. Die Spezialisierung hat ja oft etwas Trockenes und Theoretisches. Wenn ich 25-mal im Jahr die Trauermarsch-Sonate von Chopin besprechen müsste und mir nicht gelegentlich ein Stück von Beckett oder Shakespeare ansehen dürfte, dann würde ich mich doch auf der Herrentoilette erhängen. Man muss schon ein bisschen Abwechslung haben. Schauen Sie, in Hamburg als 17-, 18-Jähriger, bin ich 400-mal im Jahr im Theater oder Konzert gewesen. Und das ging in die junge Seele ein, ich machte mir Notizen usw. Wenn man das tut, dann ergibt sich im Lauf der Zeit ein ganz schöner Bestand. Man kennt sich dann ganz gut aus. Das heißt, es gibt kein Nebenher. Ein guter Freund von mir, der hört, wenn er schreibt, leise dazu eine Richard-Strauss-Oper. Das wäre mir abwegig.
NG|FH: Man kennt Sie am besten als Musikkritiker. Ist das die wichtigste von den Rollen, die ich genannt habe? Und sind Sie da, salopp gesagt, am besten?
Kaiser: Ich finde – aber das glaubt mir niemand –, dass meine großen Literaturkritiken meine besten Sachen sind. Aber offensichtlich ist es so, dass das Talent, musikalische Sachverhalte zu verbalisieren, sehr viel seltener ist, als die Fähigkeit, literarische Sachverhalte in Worte zu fassen. Auf Worte mit Worten zu antworten, scheint leichter zu sein, als mit Worten auf ein Streichquartett oder ein Klavierkonzert zu reagieren. Deshalb bin ich in eine Rolle hineingerutscht, die ich am Anfang eigentlich nicht anstrebte. Es ist nun bei mir etwas Merkwürdiges: Ich reagiere auf Literatur eher progressiv, im Unterschied zur Musik. Mir sind Peter Weiss oder Sartre oder Enzensberger mindestens so wichtig, wenn nicht noch wichtiger als Goethe und Eichendorff, obwohl ich natürlich weiß, wie bedeutend die Letztgenannten sind. Aber es ist doch meine Sache, die sie vertreten …
NG|FH: … unsere Gegenwart …
Kaiser: … ja. Und bei Musik geht es mir umgekehrt. Ich weiß schon, welche Mühe sich Ligeti gibt und was für ein bedeutender Künstler Nono war. Aber ich finde die große Musik des 18. und 19. Jahrhunderts so viel besser, so viel gewichtiger. Dabei habe ich mein ganzes Studium finanziert mit Einführungen in moderne Musik. Die Leute wollten zum Schluss nur noch meine Einführung hören. Wenn ich sagte: »Heute ist ein Konzert!«, dann sagten sie: »Nein, wir hören Sie lieber darüber reden, das Konzert selbst lieber nicht!« Mittlerweile muss ich sagen, dass die zwölf Töne mit ihren Kombinationsmöglichkeiten vielleicht etwas ausgelaugt sind, und es hat so etwas Verzweifeltes. Es gibt auch keine vernünftigen Konzepte. Man wusste doch um 1800, wie man eine Sonate macht oder was zu einer Oper gehört. Es gab Modelle. Heute muss sich jeder das selbst erfinden, oder es ist alles gleichgültig, post-post-postmodern. So reagiere ich in der Musik so konservativ-reaktionär wie in der Literatur eher fortschrittlich.
NG|FH: In Ihrer Generation waren ein halbes Dutzend Kritiker öffentliche Figuren. Bei den Jüngeren sieht das anders aus. Da gibt es sicher gute Leute, aber keinen einzigen, wenn ich es recht sehe, der die Rolle der Jens, Reich-Ranicki, Raddatz oder Kaiser einnehmen könnte. Woran liegt das? Fehlt es an durchschlagenden Begabungen, oder hat sich die Struktur der Öffentlichkeit geändert?
Kaiser: Es hat sich zunächst einmal die Struktur von Biografie verändert. Ich konnte mit 25 Jahren ungefähr das Gleiche machen wie heute, weil die ältere Generation, die mir normalerweise den Weg versperrt hätte, aus politisch-historischen Gründen nicht existierte. Während ich, als ich 50 war, einem 35-Jährigen durch meine bloße Existenz das Leben schwer machte. Und jetzt, 25 Jahre später, bin ich immer noch da. Aber ich denke auch an meine Sachleidenschaft, und nicht nur die meine. Für mich fallen im Theater oder im Konzert Entscheidungen! Deshalb bin ich mit der ganzen Postmoderne eher unglücklich. Unglücklich darüber, dass die Regisseure im Theater sich allen Ernstes verwechseln mit Künstlern. Sie wollen nicht mehr interpretieren, sondern an die Stelle des Werkes, das sie spielen sollen, etwas anderes setzen. Ich verstehe das intellektuell, aber gefühlsmäßig wehrt sich alles in mir dagegen. Das kommt natürlich von der Musik her. Wenn ein Pianist die Waldstein-Sonate spielt, dann verändert er keinen einzigen Takt. Aber wenn ein junger Theaterregisseur Hamlet macht, dann besteht die Gefahr, dass er nur 15 % des Textes spielt. Die ganze Dimension der Schönheit und der Sprache fällt weg! Man spielt Klassiker, und meist so, als ob es sich um Konversationsstücke handle. Als ob es nur um den Inhalt ginge und nicht auch darum, dass die Sprache den Blankvers bestätigt. Ich habe einmal in einer Fernsehdiskussion diesen Gedanken ausgesprochen, da sahen mich die Leute wie einen Verrückten an und sagten: »Blankvers! Sie sagen lauter Sachen, die ganz und gar elitär sind!« Dabei ist es das beherrschende Moment in all dem, was wir von Shakespeare und Lessing und Goethe und Schiller kennen. Aber man darf es schon nicht mehr sagen. Darin sehe ich ein großes Manko, und das macht mir das Leben etwas schwer.
NG|FH: Welche Bedeutung hat heute überhaupt noch die Kritik? Schaut man in die Feuilletons, auch in der Süddeutschen Zeitung, dann zeigt sich, dass die einzelne Kritik und überhaupt das ästhetische Urteil nicht mehr die Rolle spielt wie – sagen wir – vor 25 Jahren. Woran liegt das? Daran, dass das begründete und argumentativ entwickelte Urteil die Menschen heute weniger oder gar nicht mehr interessiert?
Kaiser:Ich gehe da selbstkritisch in mich. Wenn ich kilometerlange Rezensionen sehe, dann spüre auch ich eine gewisse Reserve. Vielleicht leben wir in einer Gegenwart, der es an großen, charismatischen Figuren fehlt. Ich meine, es muss schon sehr gut geschrieben sein. Aber es gibt ein junges Publikum, das man noch ansprechen kann. Schauen Sie, die sogenannten »Lesejahre«, die wir in der Pubertät hatten, zwischen 13 und 17, wenn man alles wahllos in sich reinliest, ob Karl May oder Tolstoi oder Goethe, das ist eine Zeit, die man nie mehr nachholen kann. Ich sage oft, entweder kommt man belesen auf die Welt oder man hat nie etwas gelesen. Man kann das nicht nachholen, und ich fürchte, das Fernsehen und andere Medien mit ihren Attraktionen bringen viele junge Menschen um diese tolle, für die eigene Entwicklung und innere Bildung wichtige Lesezeit.
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