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Nach einem russischen Luftangriff in der Region Kiew Oblast im Norden der Ukraine am 29.03.2022 © picture alliance / EPA | ATEF SAFADI

Historische Einordnung nach Putins Angriff auf Regeln und WerteEs ist nichts mehr, wie es war

Es gibt in der Geschichte viele Zäsuren, also Einschnitte oder Brüche, nach denen vieles anders ist als zuvor, aber wir nennen das keineswegs immer »Zäsur« oder »Zeitenwende«. In der Regel ist die Verwendung des Zäsurbegriffs mit einer erheblichen Erwartungsenttäuschung verbunden. Zäsur heißt: Es ist etwas eingetreten, was uns überrascht hat, womit wir nicht gerechnet haben und dessen Folgen uns nicht unbedingt erfreuen.

Wenn wir der Vorstellung anhängen, dass es einen gesellschaftlichen und moralischen Fortschritt gebe, dann bezeichnen wir Enttäuschungen dieser bevorzugt als Zäsuren. Komplementär zum Zäsurbegriff steht die (neuzeitliche) Semantik von Revolution, bei der es sich ja ebenfalls um einen tiefen Einschnitt handelt, der mit dem Revolutionsbegriff aber so gedeutet wird, dass es zu einer Beschleunigung der im Allgemeinen vorhersehbaren und von einem Teil der Kommentatoren auch erhofften Entwicklung gekommen ist.

Das kann ein geschichtlicher Sprung sein, dessen Ergebnissen einige misstrauen, weil sie ihn für zu weit halten, etwa wenn sie von ihrer Einstellung her liberalkonservativ sind, den sie womöglich bei nächster Gelegenheit rückgängig zu machen hoffen, wenn sie konservativ-reaktionär sind, bei dem sich aber alle lange mit der Qualifikation als Zäsur zurückhalten, weil damit die Vorstellung verbunden ist, dass das so Bezeichnete irreversibel ist: Man kann es nicht rückgängig machen, sondern allenfalls flicken. Aber auch dann sind die Spuren des Bruchs immer noch zu erkennen.

Mit Zäsuren verbinden wir des Weiteren die Vorstellung, sie seien überdeterminiert, also nicht die Folge eines kontingenten Geschehens, bei dem alles auch ganz anders hätte kommen können, wenn nur irgendein kleiner Fehler vermieden worden wäre. Wir konstatieren im Zäsurbegriff mehrere Faktoren, die nahelegen, dass es so wie bisher nicht weitergehen wird, und beobachten politische Akteure, die, wenn sie Herr des Geschehens sind und bleiben wollen, eingestehen, dass es so auch nicht weitergehen kann.

Dieses Eingeständnis der Politiker ist nicht zwingend dafür, dass man von einer Zäsur spricht, aber es verstärkt die Vorstellung, dass es sich tatsächlich um eine Zäsur und nicht etwa um eine zeitweilige Unterbrechung handelt. Das ist, neben der Beschleunigung von geschichtsphilosophisch gefassten Entwicklungen, wie Fortschritt oder Niedergang, eine weitere Alternative zur Qualifizierung als Zäsur: die kurzzeitige Unterbrechung, die den Aufgeregten unter den Zeitgenossen als Zäsur erscheint, aber keine ist, weil alles nach einiger Zeit wieder seinen gewohnten Gang geht.

Eine Zäsur, so lässt sich diese Suche präzisieren, ist etwas, das sich in den drei geschichtstheoretischen Modellen – Fortschritt, Niedergang und Kreislauf – nicht fassen lässt. Sie sprengt nicht nur die Geschichte in ein Davor und Danach, sondern zerschlägt auch die Modelle mitsamt den an sie geknüpften Erwartungen, in denen wir uns die Geschichte greifbar zu machen versuchen.

Lassen sich diese allgemeinen Überlegungen zum Gebrauch eines Begriffs historisch konkretisieren, etwa an der Geschichte des 20. Jahrhunderts? Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war sicherlich eine solche Zäsur, die eine lange Periode des wirtschaftlichen Fortschritts schlagartig beendete, eine Ära, in der zahlreiche Beobachter davon ausgegangen waren, dass es einen Absturz in einen solchen Krieg nicht geben werde, weil es ihn in Anbetracht der verheerenden Folgen nicht mehr geben dürfe.

Im Vergleich dazu war der Beginn des Zweiten Weltkriegs eher absehbar und zugleich auch nicht in vergleichbarer Weise radikal und abrupt, weil dieser Krieg, jedenfalls in Europa, zunächst aus einer Abfolge von »Feldzügen« bestand, die räumlich wie zeitlich begrenzt blieben. Das änderte sich erst im Winter 1941/42, aber das war dann eher ein allmählicher Übergang als ein abrupter Bruch. Eher schon war der Zerfall der Anti-Hitler-Koalition am Ende der 40er Jahre eine Zäsur, zumal ihm die Teilung Europas und der Beginn des Kalten Krieges folgten.

Ist der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch des Ostblocks als Zäsur wahrgenommen worden? Anfänglich vielleicht, aber dann setzte sich schnell die Bezeichnung »friedliche Revolution« durch mitsamt der Vorstellung, der 9. November 1989 sei der Endpunkt einer längeren Entwicklung gewesen, die für einige auf der Danziger Leninwerft und für andere mit Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika begonnen hatte.

Beides lief darauf hinaus, den Zäsurcharakter der Ereignisse zumindest zu relativieren und sie in eine längere Entwicklung einzubetten, also geschichtstheoretisch zu entschärfen: Dem Anschein nach war es eine Zäsur, aber bei genauerer Betrachtung doch eher der Endpunkt einer längeren Entwicklung. Offenbar gibt es ein starkes Bestreben, Zäsuren wegzuerzählen. Sie haben etwas Schockierendes, dessen man sich entledigt, wenn man sie in Kontinuitäts- oder Entwicklungserzählungen einbettet.

Es gibt freilich auch das genau Umgekehrte, bei dem bestimmte Ereignisse erst im Nachhinein als eine umfassende Zäsur begriffen werden, wohingegen man sie zuvor als eher beiläufig oder auch angesichts vorheriger Entwicklungen zwangsläufig angesehen hat – etwa 1917/18 den Zerfall der drei multinationalen, multilingualen und multikonfessionellen Großreiche, von denen die politische Ordnung in Ost- und Südosteuropa sowie im Nahen Osten beherrscht war: dem Reich der russischen Zaren, der Donaumonarchie der Habsburger und dem Osmanenreich.

Man hatte die Zäsur auch darum nicht wahrgenommen, weil Lenin mit der Sowjetunion einen politischen Raum geschaffen hatte, der tendenziell mit den Grenzen des Zarenreichs identisch war, weil sich aus der Konkursmasse des Habsburgerreichs einige Nationalstaaten mitsamt Jugoslawien als »Klein-Habsburg« herausgebildet hatten und weil man die politische Ordnung des Nahen Ostens zwar für labil, aber politisch unveränderbar hielt.

Der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens zu Beginn der 90er Jahre zeigte dann, dass der Untergang von Großreichen eben doch tiefe Zäsuren waren – die neoosmanische Politik der Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan eingeschlossen, die wenigstens ein bisschen von der alten Ausdehnung des Osmanenreiches wiederherstellen wollte, nicht zuletzt die umfassend angelegte aggressive Revisionspolitik Putins. Heißt: Wer Zäsuren in der Vergangenheit übersieht oder falsch einschätzt, der wird durch jüngere Entwicklungen überrascht. Das wäre anders, wenn er die Zäsur erkannt und sie in seinen Erwartungshorizont eingestellt hätte.

Stellt nun der Eroberungskrieg Putins gegen die Ukraine tatsächlich eine Zäsur dar, bei der sich ein in den drei zurückliegenden Dekaden entstandener Erwartungshorizont schlagartig in nichts aufgelöst hat? Oder handelt es sich nur um einen begrenzten Rückschlag, nach dem in nicht allzu großer zeitlicher Entfernung wieder dort angeknüpft werden kann, wo sich viele vor einigen Wochen noch wähnten?

Es handelt sich um die Vorstellung oder den Wunsch eines Fortbestehens der regelgeleiteten und wertebasierten Weltordnung, die nach dem Prinzip funktioniert, Konflikte in Kooperation, Gegensätze in konsensfähige Meinungsunterschiede und Nullsummenspiele in Win-win-Konstellationen zu verwandeln. Eine Weltordnung, in der militärische Macht eine nachgeordnete Rolle spielt und wirtschaftlicher wie kultureller Macht das größte Gewicht im Portfolio der Machtsorten zukommt. Eine Weltordnung, in der alle diese Transformationen letztlich durch ein hohes Maß an wirtschaftlicher Verflechtung garantiert werden, weil in Gestalt dieser Verflechtung die Abhängigkeit des Einen durch die reziproke Abhängigkeit des Anderen neutralisiert wird.

Diese wechselseitigen Abhängigkeiten sind zugleich Grundlage und Garanten gegenseitigen Vertrauens, von dem angenommen wird, es sorge dafür, dass sich in der auf Regeln und Werte gegründeten Ordnung kein Misstrauen wegen irgendwelcher unliebsamer Entscheidungen ausbreitet. Und dieses Vertrauen sorge des Weiteren dafür, dass auch keine Zweifel an der Wechselseitigkeit der Abhängigkeiten aufkommen. Ein solcher Weltordnungsentwurf ist nämlich auf generalisiertes Vertrauen gegründet.

Eine politische Vorstellungswelt brach zusammen

Seit Ende Februar 2022 ist all das dahin. Binnen weniger Stunden brach eine politische Vorstellungswelt zusammen, die selbst auf einer in die Geschichte eingeschriebenen Zäsur begründet war: nämlich der, dass nach den physischen Verheerungen und den Opferbergen, dem unbeschreiblichen Leid und dem Elend, das der von den Deutschen begonnene Zweite Weltkrieg mit sich gebracht hatte, der Krieg als Instrument politischer Willensdurchsetzung ein für alle Mal aus dem Werkzeugkasten der Politik verschwunden sei, dass nunmehr, zumindest in Europa, eine neue Zeit begonnen habe.

Dieser Vorstellung konnte selbst ein sich über vier Jahrzehnte erstreckender Kalter Krieg nichts anhaben: Man legitimierte die damaligen Rüstungsanstrengungen damit, sie seien eine Sicherung und Vergewisserung gegen die Führbarkeit eines Krieges. Das galt erst recht für die Zeit nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation und dem Fall des Eisernen Vorhangs, als an die Stelle des bündnispolitisch institutionalisierten Misstrauens und eines partiellen, durch ein hohes Rüstungsniveau abgesicherten Vertrauens in die Unwahrscheinlichkeit eines Atomkriegs ein generalisiertes Vertrauen trat.

Das alles hat Putin mit seinem Angriffsbefehl gegen die Ukraine schlagartig zerstört. Das Defilee westlicher Politiker vor dem Mann im Kreml in den Wochen davor war der fast schon verzweifelt zu nennende Versuch, Putin doch noch von diesem Akt der Zerstörung abzuhalten. Er war vergeblich. Umso entschiedener und entschlossener ist die Reaktion des Westens ausgefallen, durch die dann der russische Angriff auf die Ukraine definitiv zu einer Zäsur wurde, weil er nicht mehr als eine letzten Endes doch verkraftbare Verletzung der Regeln und Werte behandelt wurde, über die man mit Stirnrunzeln noch einmal hinwegsehen wollte und hinwegsehen konnte.

Nach der Zäsur, dem Eingeständnis, dass es so nicht weitergehen könne und man selbst auch so nicht weitermachen wolle, stellt sich im Rückblick so manches anders da: Vieles am Handeln anderer erscheint mit einem Mal klarer und eindeutiger, als man es zuvor gesehen hatte, und auch das eigene politische Agieren und Reagieren betrachtet man kritischer als zuvor.

Man erkennt nun eine Kontinuität im militärischen Auftreten Putins vom Georgienkrieg 2008 (man könnte auch beim zweiten Tschetschenienkrieg beginnen) über die Annexion der Krim 2014 und die Installierung der Separatistengebiete von Donezk und Luhansk als schwärende Wunden im Osten der Ukraine, die anschließende russische Militärintervention in den syrischen Bürgerkrieg sowie die Entsendung der Söldnertruppe Wagner in die Kriege Nordafrikas bis schließlich hin zum Großangriff auf die Ukraine. Und man fragt sich mit einem Mal, wie man diesem Mann jemals hat trauen können.

Zäsuren sind zudem mit einer grundlegenden Revision der zuvor vorherrschenden Grundeinstellung verbunden. Die Auflösung des zuvor bestimmenden Erwartungshorizonts hat zur Folge, dass auch, um das Begriffspaar Reinhart Kosellecks aufzugreifen, der Erfahrungsraum, auf dem dieser Erwartungshorizont begründet war, in ganz anderem Licht erscheint. Dadurch wird die Zäsur zu einem wirklich tiefen Einschnitt, und darin unterscheidet sie sich von einem Rückschlag, der sich nach einiger Zeit wieder wettmachen lässt.

Seit Putins Angriffsbefehl und der Reaktion des Westens ist nichts mehr, wie es war und wie wir es gesehen haben. Es wird vermutlich Jahrzehnte dauern, bis das Projekt einer regelbasierten und auf Werte begründeten Weltordnung wieder eine Chance auf politische Realisierung hat. Bis dahin wird Regelbindung und Werteorientierung ein Kennzeichen der räumlich begrenzten Ordnung Europas – und vielleicht noch einiger anderer Räume – sein.

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