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Es ist noch einmal gutgegangen

In den Vereinigten Staaten wurde gewählt und gezählt und prozessiert und wieder gezählt. Gewonnen hat am Ende der Kandidat der Demokraten und mit ihm, so sehen es wohl die meisten Europäer, das zivilisierte, friedliche, bunte, mitfühlende Amerika, das, von dem manche von uns schon zu glauben begonnen hatten, dass es gar nicht mehr existiere. Die Erleichterung ist groß, nun da den Amerikanern und auch uns vier weitere Jahre mit einem Lügner, Hetzer und außenpolitischen Desperado im Weißen Haus erspart bleiben. Mit Joe Biden als Präsident der USA kehrt, so ist zu hoffen, ein Stück Normalität zurück in die westliche Welt, eine Normalität und Berechenbarkeit, die wir dringend brauchen, um die großen vor uns liegenden Aufgaben zu meistern.

Ist es also eine frohe Botschaft, die von jenseits des Atlantiks zu uns herüberweht? Sicher ist, es hätte schlimmer kommen können, für die Amerikaner und für die Welt. Aber kann nun Entwarnung gegeben werden? Wird nun drüben in den USA alles besser? Sind alle Warner und Schwarzseher nun mit einem Schlag widerlegt, die schon seit längerem behaupten, von einer funktionierenden Demokratie könne in den USA keine Rede mehr sein, und können sich die bestätigt sehen, die wie der sprichwörtliche durch nichts zu erschütternde Kölner schon immer wussten: »Et hätt noch emmer jot jejange?«

Nüchtern betrachtet muss man feststellen, dass der knappe Wahlsieg des Demokraten Joe Biden am miserablen Zustand seines Landes zunächst einmal wenig bis gar nichts ändert. Die tiefe soziale und kulturelle Spaltung besteht fort und die Gefahr, dass sie durch gewaltsame Auseinandersetzungen größeren Ausmaßes noch tiefer wird, ist keineswegs gebannt. Was die vier Jahre Trump an politischer Kultur zerstört haben, wird so leicht nicht zu reparieren sein. Soziale Reformen und grundlegende Veränderungen im Institutionengefüge des Landes wären notwendig, aber zu denen fehlen Biden und den Demokraten nicht nur die Kraft, sondern wohl auch der Wille, unter anderem weil nicht nur die republikanischen Mitglieder des Senats und des Repräsentantenhauses, sondern auch die der demokratischen Partei vom großen Geld, das ihnen die allzu langen Wahlkämpfe finanziert, abhängig sind. Und dass die Demokraten bei den Mid-Term-Wahlen 2022 ihre Mehrheit im Abgeordnetenhaus wieder ausbauen könnten und schließlich doch noch die Mehrheit im Senat gewinnen, ist auch nicht unbedingt zu erwarten.

Das Wahlsystem der USA ist nicht nur vorsintflutlich, unnötig kompliziert und für normale Bürger kaum überschaubar, es benachteiligt auch ethnische Minderheiten und Angehörige der Unterschicht systematisch und ist für Manipulationen äußerst anfällig. Mehr als sechs Millionen erwachsene Amerikaner dürfen nicht wählen, weil sie einmal in ihrem Leben im Gefängnis landeten, eine Regelung, die vor allem Schwarze trifft. In vielen, zumeist republikanisch regierten Bundesstaaten wird das sogenannte Gerrymandering, das passgenaue Zuschneiden der Wahlkreise nach ethnischen Gesichtspunkten vorgenommen, um so konservative weiße Mehrheiten zu sichern. In vielen mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Stadtteilen oder ländlichen Gebieten gibt es zudem keine Stellen zur Wählerregistrierung und keine Wahllokale, wodurch gezielt Teile der Bevölkerung an der Stimmabgabe gehindert werden. All dies ist möglich, weil es ein einheitliches Wahlrecht gar nicht gibt, sondern jeder Bundesstaat seine eigenen Regeln schaffen kann. Das weiß schon seit längerem vor allem die Republikanische Partei für sich zu nutzen. Dazu kommt, dass bei Präsidentschaftswahlen durch die Zwischenschaltung des Electoral College der Wählerwille systematisch verzerrt wird, weil in den meisten Bundesstaaten dem Kandidaten, der bei der Präsidentenwahl in diesem einen Bundesland vorn liegt, nach dem Grundsatz »The winner takes all« alle Wahlleute des Staates zugesprochen werden. So gewann bei der Präsidentenwahl des Jahres 2016 beispielsweise Donald Trump die Mehrheit der Wahlmänner und Wahlfrauen im Electoral College und wurde Präsident, obwohl Hillary Clinton insgesamt drei Millionen Stimmen mehr als ihr Gegenspieler erhielt.

Dass die himmelschreiende Benachteiligung der zumeist schwarzen Unterschicht durch das Wahlsystem heute vor allem in den von den Republikanern regierten Bundesstaaten ein Problem ist, heißt aber nicht, dass es nun unter Biden in diesem Punkt in Zukunft grundsätzlich anders werden wird. Auch Barack Obama, dessen Wahl anfänglich große Hoffnungen weckte, hat in seinen beiden Amtsperioden in dieser Hinsicht so gut wie nichts ausrichten können. Das hängt vor allem damit zusammen, dass in den USA das Wahlrecht eine Angelegenheit der einzelnen Bundesstaaten ist und vielen der kleineren republikanisch regierten Bundesstaaten traditionell eine bezogen auf die Bevölkerung überproportional hohe Zahl an Wahlmännern zustehen. Dazu kommt, dass der bezüglich seiner Bedeutung in Europa häufig unterschätzte Senat trotz des Sieges der Demokraten bei der Präsidentenwahl vorerst fest in der Hand der Republikaner bleibt.

Dass die Demokraten unter Biden sich endlich der gewaltigen sozialen Probleme im Land annehmen und eine Reformagenda nach dem Muster von Franklin Delano Roosevelts New Deal entwickeln, ist nicht zu erwarten. Es ist schon deswegen höchst unwahrscheinlich, weil das Oberste Bundesgericht, in dem die Republikaner unter den auf Lebenszeit berufenen Richtern auf viele weitere Jahre eine klare konservative Mehrheit haben, mit seiner weitreichenden politischen Gestaltungsbefugnis jederzeit ernsthafte Reformvorhaben verzögern, verwässern oder gar ganz verhindern könnte. Es ist zu befürchten, dass das Gericht nicht nur beim Grundsatzstreit um das Recht auf Abtreibung und bei Obamacare, sondern bei allen Versuchen, ein gerechteres Wahlrecht einzuführen, und bei allen sozialen Reformen, die diesen Namen verdienen, sein Veto einlegen wird, sodass sich in den nächsten Jahren in den USA, die ohnehin bis in alle Fasern des politischen Systems vom großen Geld dominiert werden, auch in Fragen der sozialen Gerechtigkeit so bald wohl nichts zum Besseren ändern wird. Wie sollte es in einem Land auch anders sein, in dem ein Großteil der Bevölkerung mit den fanatischen Evangelikalen der Meinung ist, dass Reichtum Nähe zu Gott bedeutet und Armut Ausdruck von Gottesferne ist. »Seit den 1980er Jahren«, so schreibt inzwischen sogar eine Gallionsfigur der Chicago Law School wie Eric Posner in einem Aufsatz in der IPG vom 29. Oktober 2020, »haben konservative Entscheidungen des Gerichts die Möglichkeiten des Staates, die Wirtschaft zu regulieren, immer weiter eingeschränkt. Weiterhin haben sie das Recht zum persönlichen Waffenbesitz eingeführt, die religiöse Rechte gestärkt, die Einschränkung der Wahlkampffinanzierung abgeschafft, den Schutz von Minderheiten abgebaut und die Abtreibungsrechte geschwächt«. Posner sieht eine lange schwelende Verfassungskrise voraus, wie sie in der Geschichte der USA schon einmal zu einem Bürgerkrieg geführt hat. Zum Bürgerkrieg wird es diesmal wohl nicht kommen. Aber ein solcher Konflikt könnte die Regierungsarbeit der Biden-Administration doch weitgehend lahmlegen.

»We, the People of the United States…«, mit diesen Worten beginnt die Verfassung der Vereinigten Staaten aus dem Jahr 1787. Aber die Berufung auf das Volk war im Grunde eine Farce, denn das Bürgerrecht und damit auch das Recht, die Volksvertretung zu wählen, war damals nur einer kleinen Elite vorbehalten. Frauen, Indianer, Schwarze, Arme und Sklaven gehörten nicht zu dem Volk, das hier beschworen wurde, wie übrigens auch im nachrevolutionären Frankreich zunächst nur jeder sechste Franzose wählen durfte. Das Frauenwahlrecht wurde in den USA bereits 1920 eingeführt, aber erst 1965 erhielt der schwarze Bevölkerungsteil überall im Land das Recht, ohne diskriminierende Reife- und Gesinnungsprüfungen an den Wahlen teilzunehmen. Die Vorstellung, die die Gründerväter der amerikanischen Demokratie beherrschte, dass es für das Land am besten sei, wenn alle politischen Entscheidungen von einer Elite der Besitzenden und Gebildeten getroffen würden, ist auch heute noch weit verbreitet. Bis heute gibt es im Zwei-Parteien-System der USA trotz Bernie Sanders, Elizabeth Warren und Alexandria Ocasio-Cortez keine organisierte politische Kraft, die die Interessen der großen Mehrheit der arbeitenden Menschen nachdrücklich vertritt.

Da es in den USA keine staatliche Wahlkampfkostenerstattung und auch sonst so gut wie keine öffentliche Parteienfinanzierung gibt, ist praktisch jeder, der für ein öffentliches Amt kandidiert, von Zuwendungen der Reichen und Superreichen abhängig, selbst dann, wenn es, wie in der ersten Wahlkampagne Obamas, gelingt, durch eine Art von Crowdfunding erhebliche Mittel durch Kleinspenden einzuwerben. Nach einer aktuellen Untersuchung des Center for Responsive Politics sind zur Zeit 268 der aktuell 543 Kongressabgeordneten Millionäre, und im Durchschnitt sind die Abgeordneten der Demokratischen Partei mit 1,04 Millionen Dollar sogar etwas reicher als die republikanischen mit 1 Million Dollar. Auch in der zweiten Kammer des Kongresses, im Senat, finden sich auffallend viele Reiche und Superreiche.

Angesichts dieser Tatsachen wirkt es nicht sehr überzeugend, wenn in beiden Häusern des Kongresses aus feierlichem Anlass immer mal wieder die Eingangsworte der Verfassung zitiert werden: »We, the People of the United States…« Für amerikanische Verhältnisse gilt heute die Demokratische Partei als eher links, während sich die Republikaner in den letzten Jahrzehnten zu einem Sammelbecken der Rechten und Rassisten entwickelt haben. Aber das heißt keineswegs, dass von einer Regierung der Demokraten entschiedene Schritte zur Besserstellung der Mühseligen und Beladenen im Land erwartet werden können. Die Parteiorganisation selbst ist verglichen mit dem Durchschnitt ihrer Mandatsträger bitter arm und kaum kampagnenfähig. Und die Mehrheit der parlamentarischen Vertreter gehört einer urbanen Elite an, die von ihrer Interessenlage und ihrer Lebenserfahrung her meilenweit von den alltäglichen Problemen des sogenannten »gemeinen Volks« entfernt ist. Dies wurde schlagartig deutlich, als Hillary Clinton für das höchste Amt in den USA kandidierte. Sie, die Demokratin, die ja immerhin Obamas Ansätze zu einer staatlichen Gesundheitsversorgung angestoßen hatte, kümmerte sich einen Dreck um die vielen Menschen, die im Rust Belt nach dem Niedergang der Stahl- und Automobilindustrie oder im einstigen Kohlerevier von Kentucky ins Elend gestoßen wurden, sondern zog es vor, mit Vorträgen vor den Bankern der Wallstreet ihre Wahlkampfkasse aufzubessern. Durch diese Ignoranz und diesen Mangel an Empathie bot sie dem Milliardär und politischen Hütchenspieler Trump Gelegenheit, sich als Mann des »gemeinen Volks« aufzuspielen und dieses gegen das Washingtoner »Establishment« in Stellung zu bringen, das jahrzehntelang seine eigenen fragwürdigen Geschäfte abgesegnet hatte.

Was kann man realistischerweise von den Demokraten und von der Biden-Administration erwarten? Biden wird, wie er es auch im Wahlkampf gemacht hat, dem rassistischen Furor der White Supremecists, der Proud Boys und anderer rechtsextremer Organisationen mit deutlichen Worten entgegentreten. Ob er Polizei und Justiz dazu bringen kann, endlich gegen die rechten Gewalttäter energischer vorzugehen, ist allerdings eher fraglich. Vor allem ist wohl nicht zu erwarten, dass er ein längst fälliges Gesetz zur Einschränkung des Waffenbesitzes auf den Weg bringen wird. Dafür stehen auch zu viele Demokraten auf der Paylist der National Rifle Association. Er wird versuchen, die gefährliche Spaltung des Landes durch eine Gesprächsstrategie zu überwinden, vielleicht wird es ihm sogar gelingen, auch den einen oder anderen Republikaner für ein solches Projekt zu gewinnen, aber das Land zu einen, wie er es angekündigt hat, wird selbst ihm, der gelegentlich darauf hinweist, dass er aus einem Arbeiterhaushalt stammt, wohl kaum gelingen. Seine eigene Partei, die inzwischen in großen Teilen eine Partei der Studenten und der jungen Akademiker geworden ist, wird ihn sicher drängen, etwas dagegen zu unternehmen, dass wegen der horrenden Studiengebühren immer mehr junge Amerikaner, die nicht das Glück haben, eines der Stipendien privater Organisationen zu ergattern, mit einer erdrückenden Schuldenlast ins Leben starten. Ob er in dieser Frage mehr tun wird, als in öffentlichen Reden Verständnis für die Nöte junger Familien zu zeigen, bleibt abzuwarten. Sicher aber ist, dass die ganz großen sozialen Probleme wie die Schaffung einer für alle Amerikaner erschwinglichen Gesundheitsversorgung oder die Einführung einer Arbeitslosenversicherung vorerst nicht angepackt werden. Und dann ist da ja auch noch die Coronakrise. Sicher wird Biden versuchen, im Einklang mit den Virologen und Epidemiologen des Landes endlich eine halbwegs konsequente und konsistente Strategie zu entwickeln. Wie bald die allerdings Früchte tragen wird, ist nicht abzusehen.

Wir müssen wohl davon ausgehen, dass nach der Erleichterung über den knappen Wahlsieg und dem üblichen Pomp der Inthronisation des neuen Präsidenten bei den Unterstützern Bidens und der Demokratischen Partei alsbald eine erhebliche Ernüchterung und Enttäuschung eintreten wird, ähnlich wie dies nach Obamas erster Amtszeit der Fall war. Da es auch unter Linken in Europa hier und da so etwas wie einen undifferenzierten Anti-Amerikanismus gibt, sei gesagt: Ein Grund zur Schadenfreude wäre es nicht, wenn die notwendigen Reformen in den USA ausblieben. Denn auch in Europa würde die Demokratie weiter Schaden nehmen, wenn sie sich jenseits des Atlantiks als unfähig erwiese, die wachsenden sozialen Probleme des Landes zu lösen. Trotzdem, der Wechsel im Präsidentenamt der USA könnte sich für den Rest der Welt als folgenreicher erweisen denn für das Land selbst. In Europa kann man wohl mit einem gewissen Recht erwarten, dass sich die transatlantischen Beziehungen verbessern werden. Der rüde Ton, der Trump und seinen Außenminister Mike Pompeo auszeichnete, wird nun voraussichtlich von einem verbindlicheren abgelöst werden, was aber keineswegs heißen muss, dass die Amerikaner die Forderung nach höheren Rüstungsausgaben der Europäer fallen lassen. Möglich, dass die neue Administration Handelskriege, die ganz offensichtlich für alle Seiten nachteilig sind, in Zukunft zu vermeiden trachtet und die Aufkündigung wichtiger internationaler Abkommen und Verträge wie des Pariser Klimaabkommens von 2015, womöglich sogar des Atomabkommens mit dem Iran zurücknimmt. Auch auf das künftige Verhältnis Großbritanniens zur EU könnte der neue amerikanische Präsident, der ja irische Wurzeln hat, einen heilenden Einfluss nehmen. Vielleicht besinnen sich die Amerikaner unter Biden auch wieder darauf, dass die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen trotz aller Halbheiten und Mängel zum Besten gehören, was die Menschheit bisher zustande gebracht hat. Wenn all dies so eintritt, wie es bei nüchterner Betrachtung der Lage erwartet werden kann, dann können wir vielleicht auch hoffen, dass die vielen kleinen Trumps, die in letzter Zeit auch in Europa aufgetreten sind und sich hier und da schon auf der Siegerstraße wähnten, demnächst wieder auf Normalmaß zurückgestutzt werden. Dann könnten wir am Ende doch noch mit einem gewissen Recht erleichtert aufseufzen: Es ist noch einmal gutgegangen.

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