»Der Staat ist nicht nur unpopulär, er ist auch unentbehrlich. Er ist nicht nur verrufen, er ist auf ganz neue Weise gerufen. Denn es geht im 21. Jahrhundert um nicht weniger als sein Gewaltmonopol und damit um seine Existenz.« Bereits vor 20 Jahren beschrieb Erhard Eppler in seinem Buch Auslaufmodell Staat? unter dem Eindruck von Globalisierung und Marktgläubigkeit eine existenzielle Krise der Staatlichkeit. Er sah aufgrund der Machtverschiebungen hin zu den Konzernen, der Privatisierung von Sicherheit, zunehmender Ungleichheit und einem immer reaktiveren und nicht mehr gemeinwohlorientierten Staat eine fundamentale Bedrohung für dessen Existenz. Gleichsam war es Eppler klar, dass es im 21. Jahrhundert einen neuen Staat braucht. Er muss offen und gestalterisch mit pluralen Lebensentwürfen umgehen können und er benötigt eine ethische Orientierung, ohne selbst zu moralisieren, wenn er verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen will.
Vertrauen in ein handlungsfähiges Gemeinwesen ist der zentrale Kitt demokratischer Gesellschaften, aber dieser Kitt bröckelt zunehmend. Seit Jahrzehnten erodiert das Zutrauen vieler Bürgerinnen und Bürger in die Fähigkeit des Staates, die großen Aufgaben unserer Zeit zu bewältigen: die ökologische Transformation, die digitale Modernisierung, den Kampf gegen wachsende Ungleichheit.
Statt Lösungen zu entwickeln wächst die Kulisse ungelöster Probleme – und sie wirkt zunehmend bedrohlich. Selbst konkrete Zusagen, wie der Bau von 400.000 Wohnungen pro Jahr, verlieren an Glaubwürdigkeit, weil sie allzu oft uneingelöst bleiben. Baden-Württemberg lieferte kürzlich ein neues Beispiel für die tiefgehenden Probleme des Staates. Über 20 Jahre ist schlicht nicht aufgefallen, dass 1.440 Lehrerinnen und Lehrer nur in den Akten, nicht aber in den Klassenräumen existierten. Die Orientierungslosigkeit des Staates wurde schonungslos zur Schau gestellt. Kein Wunder also, dass sich ein gefährlicher Stimmungsumschwung vollzieht und einige dieser Situation mit dem Anlegen der Kettensäge an der Wurzel der Staatlichkeit begegnen wollen.
»Wenn der Staat das wichtigste Werkzeug sozialdemokratischer Politik bleiben soll, muss er selbst zum Gegenstand politischer Gestaltung werden.«
Für die Sozialdemokratie ist diese Situation eine doppelte Herausforderung. Einerseits ist sie die politische Kraft, die den Staat traditionell als zentrales Instrument für ihre Politik begreift. Andererseits fehlt ihr jenseits der impliziten Annahme, dass er schon irgendwie funktioniert, zum Teil ein klares Verständnis davon, was dieser Staat eigentlich genau leisten und wie er aussehen soll. Der Staat funktioniert nicht mehr automatisch. Verwaltungen sind oft überfordert und politische Steuerung ist vermehrt fragmentiert und ineffizient. Wenn der Staat aber das wichtigste Werkzeug sozialdemokratischer Politik bleiben soll, muss er selbst zum Gegenstand politischer Gestaltung werden. Es reicht nicht mehr, ihn als selbstverständliche Ressource zu betrachten. Er muss vielmehr konzeptionell grundlegend erneuert werden.
Ein erneuertes Staatsverständnis ist weit mehr als eine Sammlung von Maßnahmen zur Effizienzsteigerung oder Bürokratiereform. Bevor man sich über den institutionellen Zuschnitt, Prozesse, Digitalisierung oder Personalpolitik Gedanken macht, muss man sich fragen, wozu der Staat eigentlich da ist. Welche Zwecke soll er erfüllen? Betrachtet man das Spektrum von autoritär paternalistischen bis hin zu neoliberalen oder libertären Staatsmodellen so ist es nicht gleich offensichtlich, welche Funktion der Staat haben und wie er aussehen soll.
Gesellschaft der Fliehkräfte
Aus sozialdemokratischer Sicht stellt sich die Frage, wie ein offener und ethisch begründeter Staat, der pluralen Lebensentwürfen Rechnung trägt aber gleichsam das Gemeinwohl im Blick hat, aussehen kann. Wie begründet sich ein Staatsverständnis, das in Zeiten der Polarisierung das Gemeinsame in den Vordergrund rückt? Eines ist klar: Sozialdemokratische Politik, die immer auf Solidarität und Ausgleich fußt, wird in einer Gesellschaft der Fliehkräfte zunehmend undurchsetzbar. Wenn sowohl das gesellschaftliche Verständnis des Sozialen als auch des Demokratischen immer mehr unter Druck gerät, kann sozialdemokratische Politik nicht erfolgreich sein.
Die Formulierung einer neuen sozialdemokratischen Programmatik muss daher mit einem erneuerten sozialdemokratischen Staatsverständnis beginnen.
Es braucht ein neues Staatsmodell, das institutionelle Effektivität mit individueller Befähigung und gesellschaftlichem Zusammenhalt verbindet. Ein Staat, der liefert, was er verspricht. Ein Staat, der nicht über Menschen hinwegregiert, sondern ihnen Sicherheit und Mittel an die Hand gibt, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Ein Staat, der eine Gesellschaft gegenseitiger Verantwortung fördert und somit seine eigenen Grundlagen absichert. Ich nenne dieses Modell den Capability State – die Idee eines fähigen, befähigenden und verbindenden Staates. Der Capability State beruht auf drei interagierenden Dimensionen staatlichen Handelns: State Capability, Personal Capability und Community Capability.
»Ein sozialdemokratisches Staatsverständnis braucht mehr als nur Effizienz und Problemlösungskompetenz.«
State Capability beschreibt die Fähigkeit des Staates, kollektiv gesetzte Ziele missionsorientiert und wirksam umzusetzen. Es geht hierbei um mehr als Verwaltungseffizienz oder den Abbau bürokratischer Hindernisse. Gefragt ist vielmehr die Wiederherstellung einer politischen Handlungsfähigkeit, die komplexe Probleme erkennt, priorisiert und lösungsorientiert bearbeitet. In der aktuellen Debatte wird das oft unter dem Stichwort »Deliverism« aufgegriffen, etwa in der Diskussion rund um Ezra Klein und Derek Thompsons neues Buch Abundance: How We Build a Better Future. Die Demokratie, so die These, müsse wieder zeigen, dass sie liefern kann – konkret, sichtbar, spürbar im Alltag der Menschen.
Das ist zweifellos richtig und wichtig. Doch ein umfassendes sozialdemokratisches Staatsverständnis braucht mehr als nur Effizienz und Problemlösungskompetenz. Es muss sich auch der Frage widmen, wofür der Staat eigentlich handelt, mit welchem normativen Anspruch und mit welchem Ziel gesellschaftlicher Entwicklung. State Capability ist daher eine notwendige Grundlage, aber nicht die ganze Architektur. Sie muss eingebettet werden in ein breiteres demokratisches Projekt, das sowohl individuelle Befähigung als auch sozialen Zusammenhalt und gemeinsame Zukunftsgestaltung mitdenkt.
Den Einzelnen stärken, Gemeinschaft fördern
Personal Capability bezeichnet vor diesem Hintergrund die tatsächliche Fähigkeit eines Menschen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und eigene Lebensziele zu verfolgen – jenseits bloßer formaler Rechte. Sie umfasst die realen Voraussetzungen, die Menschen benötigen, um ihre Freiheit auch praktisch ausüben zu können: Bildung, Gesundheit, ökonomische Sicherheit und (digitale) Teilhabe. Aus sozialdemokratischer Perspektive ist Personal Capability untrennbar mit dem Wohlfahrtsstaat als Instrument kollektiver Absicherung individueller Lebensrisiken verbunden. Der Wohlfahrtsstaat schafft nicht nur Schutz, sondern befähigt Menschen, Krisen zu bewältigen und neue Handlungsspielräume zu erschließen. Personal Capability ist Ausdruck eines politischen Emanzipationsversprechens, das auf reale Freiheit zielt: auf die Möglichkeit, das eigene Leben in Würde und Selbstbestimmung gestalten zu können, unabhängig von Herkunft, Status oder Vermögen. Sie steht damit im Zentrum einer progressiven Politik, die den Einzelnen stärkt, indem sie solidarische Strukturen schafft.
Es geht in einem sozialdemokratischen Staatsverständnis aber dezidiert auch um die Gesellschaft an sich. Community Capability rückt Gemeinschaft und gesellschaftliche Handlungsfähigkeit als Grundlage und Voraussetzung des demokratischen Staates in den Blick. Menschen leben nicht isoliert voneinander, sondern sind eingebettet in gesellschaftliche Kontexte, aus denen soziale Beziehungen, Identität und Würde entstehen. Der Capability State stärkt diese kollektive Dimension durch die verbesserte Bereitstellung und Förderung analoger sozialer Infrastruktur. Bibliotheken, Vereinshäuser, Sportstätten, Kulturzentren, öffentliche Räume oder lokale Medien schaffen Orte, an denen Begegnung, Austausch und solidarisches Handeln möglich werden. Solche Infrastrukturen sind Grundlage für die Demokratie – sie fördern Zugehörigkeit, Vertrauen und Mitgestaltung. Der Staat wird hier zum Ermöglicher gemeinschaftlicher Erfahrung und politischer Artikulation im Alltag.
Stabile Demokratien basieren auf sozialer Kohäsion, kulturell eingeübter Kooperation sowie einem gemeinsam verhandelten Sinn für das Gemeinwohl. Es geht um die Stärkung inklusiver Teilhabe aller, im Gegensatz zu einer Spaltung des »wahren Volkes« gegen »die anderen«. Der Capability State fördert diese Voraussetzungen aktiv als strategische Stärkung des Sozialen und Verbindenden im Zeitalter wachsender Individualisierung und populistischer Spaltung. So entsteht ein neues Verständnis von Demokratie nicht als turnusmäßigem Prozess zur Bestimmung der politischen Führung staatlicher Institutionen, sondern als kooperative Praxis im Alltag. Es ist genau diese gelebte Praxis, durch die aus Fremden Mitbürgerinnen und Mitbürger werden.
»Der Staat muss wieder als Ort demokratischer Aushandlung und kollektiver Gestaltungsmacht verstanden werden.«
Die Sozialdemokratie muss den Staat im 21. Jahrhundert neu denken und überzeugend vermitteln, wie er künftig aussehen soll. Der Capability State ist dafür ein programmatischer Vorschlag. Er rückt nicht nur staatliche Institutionen ins Zentrum, sondern gleichermaßen die Bürgerinnen und Bürger, sowohl als Individuen als auch als Teile einer solidarischen Gesellschaft. Es ist an der Zeit, den Staat nicht länger nur als Verwaltungsapparat zu betrachten, der effizienter gestaltet werden muss. Vielmehr muss er wieder als Ort demokratischer Aushandlung und kollektiver Gestaltungsmacht verstanden werden, als Ausdruck unserer gemeinsamen Verantwortung füreinander und für das Gemeinwohl.
Der Staat, das sind wir alle. Die Sozialdemokratie muss dieser Wahrheit neuen politischen Ausdruck verleihen mit einem Staatsverständnis, das Sicherheit bietet, Teilhabe ermöglicht und Zukunft gestaltet.


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