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Die EU hat die Wahl Europa am Scheideweg?

Finanzkrisen in der Eurozone, Migrationskrise, Brexit, Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip und den Stabilitätspakt – die EU stolpert von einer Krise in die nächste, ohne dass auch nur eine wirklich gelöst ist. Deshalb glauben Viele schon, dass die Union zerbröselt und ihr Ende unabwendbar ist. Andere hoffen, dass gerade diese Häufung krisenhafter Entwicklungen den Schub bringen wird, um die EU grundlegend verändern zu können, mit der Chance, die anstehenden Herausforderungen zu meistern.

Will die EU nicht in der internationalen Bedeutungslosigkeit verschwinden, muss sie einen Weg finden, um ihre Handlungsfähigkeit zu stärken. Dabei geht es nicht darum, sich im Sinne alter Großmachtfantasien zu behaupten, sondern es steht die Frage an, ob dieser Kontinent noch die Fähigkeit haben wird, die Lehren zu verteidigen, die er aus der Vergangenheit gezogen hat: friedliche Lösungen für Konflikte zu finden, demokratische Strukturen zu verteidigen, Rechtsstaatlichkeit zu praktizieren, Gleichberechtigung und kulturelle Werte zu leben und, nicht zuletzt, den Wohlstand zu bewahren. Ein Zerbrechen der EU würde für all diese Bereiche Gefahren mit sich bringen, die teilweise die Gemeinschaft von außen bedrängen, sich aber auch im Innern selbst entwickeln.

Es geht nicht nur um die Verteidigung europäischer Werte, es geht auch darum, ob die EU die Kraft haben wird, den Klimawandel aufzuhalten, blutige Konflikte zu beenden oder wenigstens einzudämmen, Fluchtursachen zu bekämpfen oder das Wohlstandsgefälle zwischen Staaten, Regionen und innerhalb der Gesellschaften zu beseitigen. Angesichts der ökonomischen, militärischen und kommunikativen Verflechtung der Welt sind einzelne Nationalstaaten, mögen sie auch so stark wie Frankreich oder Deutschland sein, dazu nicht in der Lage. Dazu braucht es eine einige und starke EU. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron spricht in diesem Zusammenhang von der »Notwendigkeit, eine europäische Solidarität aufzubauen«.

Um eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die EU unausweichlich ihrem Zerbrechen entgegengeht oder ob sie in die Lage versetzt werden kann, zu neuer Einigkeit und Stärke zu finden, braucht es eine Bestandsaufnahme und eine Analyse der Problemursachen.

Die Fragmentierung der EU hat mit der Finanzmarktkrise und der darauffolgenden Bankenkrise in der Eurozone begonnen, diese sind aber nicht die alleinigen Gründe für die Zunahme europaskeptischer Strömungen und populistisch-nationalistisch ausgerichteter Regierungen in den Mitgliedstaaten. Und nicht in all diesen Staaten gibt es parallel europaskeptische Bewegungen in der Bevölkerung und entsprechend ausgerichtete Regierungen. Ich unterscheide augenblicklich drei Gruppen:

Fragmentierung der EU

Da gibt es die Länder mit wirtschaftlichen Problemen und dementsprechend hoher Arbeitslosigkeit und einer hohen Staatsverschuldung, die die EU veranlasst, von diesen Ländern eine rigide Sparpolitik zu verlangen. In diese Kategorie fallen Länder im Süden wie Griechenland und Italien, aber in gewisser Weise auch Frankreich. In Griechenland haben letztendlich alle Regierungen (sozialdemokratisch, konservativ, ursprünglich links-populistisch) die Austeritätspolitik mit stärksten sozialpolitischen Auswirkungen akzeptiert, ohne dass sich die Wirtschaft bis heute so erholt hätte, dass die Arbeitslosigkeit gesunken wäre. Dazu kommt, dass die EU, angeführt von Deutschland, mithilfe des Dublin-Abkommens Italien und Griechenland jahrelang mit dem Zustrom von Geflüchteten alleingelassen hat.

Bis zur jüngsten Parlamentswahl konnte die italienische Bevölkerung nicht überzeugt werden, dass die Sparpolitik der vorigen von der Partito Democratico geführten Regierung zu einer Verbesserung der Arbeitsmarktsituation und der sozialen Lage in Italien führen würde. Die Regierung wurde abgewählt. Anti-Establishment-Kräfte wie die Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtspopulistische und fremdenfeindliche Lega führen nun einen Kampf gegen die EU und akzeptieren keinerlei Vorgaben des Stabilitätspaktes.

In Frankreich hat es Emmanuel Macron zwar mit einem dezidiert europafreundlichen Wahlkampf geschafft, die Präsidentschaftswahlen gegen Marine Le Pen vom rechten Front National zu gewinnen. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ein Drittel der Franzosen eine Politik wünscht, die sich von der EU abkehrt und den Euro aufgibt. Die Politik zur Haushaltssanierung dagegen, die Macron angepackt hat, stößt auf härtesten Protest in der französischen Bevölkerung, wie das Beispiel der »gilets jaunes«, der Gelbwesten zeigt.

Die zweite Gruppe von Ländern, in denen sich populistische europaskeptische Strömungen ausbreiten und zunehmend auch den Diskurs der eigentlich europafreundlichen Parteien beeinflussen, findet sich unter den Nettozahler-Ländern wie z. B. Deutschland, den Niederlanden und Finnland. Hier macht sich ein Geist der Entsolidarisierung breit nach dem Motto: »Wir wollen nicht die Melkkuh für diejenigen Europäer sein, die ihre Hausaufgaben nicht machen!«

Die dritte Gruppe findet sich unter den mittelosteuropäischen Ländern. Diese wollen zwar von den EU-Mitteln profitieren, aber nicht die nach dem Niedergang des Warschauer Paktes gewonnene Souveränität zugunsten der Einhaltung von gemeinsamen Regeln und Werten »aufgeben«. Ihre Regierungen folgten auf Vorgänger, die auf der Grundlage neoliberaler Wirtschaftskonzepte die Belange der Transformationsverlierer, also jener Menschen, deren Qualifikation nicht mehr gebraucht wurde, mit unsicheren Arbeitsplätzen oder geringen Einkommen, vernachlässigt haben. Ihnen versprechen z. B. Jarosław Kaczyński in Polen oder Viktor Orbán in Ungarn Unterstützung im nationalen Rahmen.

In all diesen Ländern macht eine große Gruppe von Menschen die Erfahrung, dass der wirtschaftliche Wohlstand zunehmend ungleich verteilt ist oder hat die Befürchtung, dass auch sie in absehbarer Zeit von wirtschaftlichem und sozialem Abstieg bedroht sein wird. Diese Sorgen werden durch die »Migrationskrise« verstärkt, auch wenn die Zahl der Migranten im Verhältnis zur Größe der Bevölkerung in den verschiedenen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ist. Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes oder der Wohnung, ja schlicht vor den Fremden und ihrer Kultur lässt sie Rettung vom Nationalstaat erwarten. In vielen Mitgliedstaaten fühlen sich die Menschen von der EU alleingelassen, sie halten sie für die Ursache der Misere. Und viele Regierungschefs tun nichts, um dieser Auffassung entgegenzutreten, sondern befördern sogar noch diese Wahrnehmung zum eigenen Nutzen.

Die EU wird durch den Austritt Großbritanniens aus der EU zusätzlich geschwächt. Zwar hat sich die Sorge als unbegründet erwiesen, dass das Beispiel Großbritanniens Schule machen könnte. Die Nettoempfänger von EU-Mitteln wollen lieber auch in Zukunft von europäischen Mitteln profitieren. Aber die so wichtige wirtschaftliche Zusammenarbeit in der EU wird selbstverständlich durch den Austritt eines so wichtigen Landes wie Großbritannien beeinträchtigt. Außerdem macht der Verlust des großen Nettozahlers Großbritannien die Finanzierung der europäischen Konvergenzpolitik nicht einfacher.

Die Zersplitterung der EU führt dazu, dass eine gemeinsame Politik immer schwieriger wird: Einzelne Mitgliedstaaten blockieren mit ihrem Veto gemeinsame Vorhaben bei der Notwendigkeit von Einstimmigkeit; Mitgliedstaaten wie Polen, Ungarn halten sich, u. a. bei der Migrationspolitik, nicht an mehrheitlich gefasste Beschlüsse; einige Mitgliedstaaten halten sich sogar noch nicht einmal an Beschlüsse, die sie selbst mit gefasst haben, so etwa Italien hinsichtlich des Stabilitätspaktes.

Rückkehr zu einer gemeinsamen Politik nach der Europawahl?

In den Verhandlungen über den Brexit haben die Europäer Einigkeit gezeigt. Donald Trumps Unilateralismus hat dazu beigetragen, dass die Europäer zusammenstehen, aber die Befürchtung ist berechtigt, dass seine »America First«-Politik manche EU-Mitgliedstaaten in ihren Renationalisierungstendenzen bestärkt und so die EU eher weiter auseinandertreibt. Die »Illiberalisierung« der Visegrád-Staaten, wie es Wolfgang Merkel formuliert, verweist eindeutig auf Grenzen der Vertiefung.

Deshalb ist die Europawahl 2019 existenziell. Die Zusammensetzung des Europaparlaments wird über den Erhalt der EU entscheiden. Das Parlament war bisher in seiner großen Mehrheit ein Hort der Ideen eines vereinten Europa. Es könnte sein, dass das Parlament nach den Wahlen von Europagegnern bestimmt wird. Damit geriete nicht nur die liberale Demokratie in Gefahr, sondern auch der europäische Wohlstand, ganz abgesehen davon, dass die europäischen Staaten dann hilflos den globalen Herausforderungen gegenüberstünden.

Es wäre aber auch ein Drama, wenn die Europaskeptiker dort so stark würden, dass alle europafreundlichen Kräfte eine Koalition bilden müssten, um die EU zu schützen. Formelkompromisse wären notwendig, keine gute Voraussetzung für zukunftsfähige Politik. Es reicht aber längst nicht mehr aus, den Status quo zu erhalten. Die Bürgerinnen und Bürger der Union erwarten Lösungen, die den sozialen Zusammenhalt stärken, das ökologische Gleichgewicht und die demokratischen Kultur erhalten.

Es geht in Zukunft um den sozialen Frieden in Europa. Denn in allen Mitgliedstaaten, in denen sich europaskeptische Stimmen erheben oder gar entsprechende Regierungen an die Macht kamen, spielt die Unzufriedenheit mit der sozialen Entwicklung ihres Landes eine große Rolle.

Angesichts der schwierigen Situation in der EU einerseits und der großen Herausforderungen andererseits, bräucht es mutige, visionäre, starke und charismatische Politiker. Emmanuel Macron schien einer davon zu sein. Er hat bereits im Präsidentschaftswahlkampf und dann immer wieder in verschiedenen Reden seine Vorstellungen präsentiert und Deutschland eingeladen, mit ihm zusammen die Initiative zu ergreifen.

In der Tat hat die deutsch-französische Zusammenarbeit in der Vergangenheit die EU vorangebracht, gerade weil die beiden Länder aufgrund ihrer Geschichte und Kultur nicht von vornherein die gleichen Ansätze in Europafragen haben. Aber haben deutsch-französische Initiativen heute noch eine Chance, andere Mitgliedstaaten mitzureißen? Dies ist von den Inhalten abhängig und von der Frage, ob auch kleinere Mitgliedstaaten klug in Vorbereitungen eingebunden werden. An der Permanenten Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), eine Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, beteiligen sich tatsächlich 25 Mitgliedstaaten innerhalb der EU.

Nachdem Deutschland Präsident Macron gegenüber in Europafragen lange die kalte Schulter gezeigt hat, greift Bundeskanzlerin Angela Merkel nun endlich ein Element auf: eine gemeinsame europäische Armee. Trotz der Meseberger Erklärung geht die deutsche Regierung aber nur halbherzig auf die weiteren Vorstellungen Macrons ein. Ob die »Verteidigungsunion« tatsächlich die Initiative ist, hinter der sich alle Mitgliedstaaten versammeln können, muss bezweifelt werden. Polen z. B. fürchtet eine Konfrontation mit den USA und die Vernachlässigung der NATO, die für das Land die vorrangige Sicherheitsgarantie darstellt.

Die Bevölkerungen erwarten zwar von den Regierungen in der EU Sicherheit, verbinden dies aber weniger mit militärischer Stärke als mit polizeilicher Zusammenarbeit und Grenzschutz. Außerdem ist das Verständnis für die Erhöhung von Militärausgaben gering, während gleichzeitig die soziale Infrastruktur zu kurz kommt. Macrons »Europa, das schützt« (L’ Europe qui protège) muss breiter gefasst werden als ausschließlich als Abwehr von Kriminalität und Terrorismus, z. B. durch einen europäischen Grenzschutz.

Darf darüber hinaus erwartet werden, dass sich nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU (sollte der Brexit denn gelingen) die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten auf Grundlage deutsch-französischer Vorstellungen auf weitreichende Reformen einigen werden? Oder gar, dass nach einem erneuten Referendum in Großbritannien das Land in der EU bleiben würde? Würde dann der Integrationsprozess noch weiter behindert oder bestünde sogar die Bereitschaft, in einem Konvent den großen Wurf für eine Weiterentwicklung der EU zu entwerfen?

Antworten und Wege

Das Aufgabenheft der EU ist dick und über Jahre sind Antworten skizziert und diskutiert worden. Vor dem Hintergrund der von den Bürgerinnen und Bürgern vor allem vermissten sozialen Konvergenz ist die Schaffung einer Sozialunion unabdingbar. Diese wäre über einen »Sozialen Stabilitätspakt« Schritt für Schritt zu entwickeln. Die Gewerkschaften haben eine »Soziale Fortschrittsklausel« vorgeschlagen, um zu erreichen, dass neue EU-Rechtsetzung nur noch dann möglich wird, wenn gleichzeitig die soziale Besserstellung der Bürgerinnen und Bürger damit verbunden ist. Soziale Mindeststandards für die EU müssen entwickelt werden. Eine europäische Arbeitslosenversicherung wäre da ein wichtiger Schritt.

Grundvoraussetzung für eine Sozialunion sind ausreichend gut bezahlte Arbeitsplätze. Deshalb braucht die EU ein ordentlich ausgestattetes Programm für nachhaltige Investitionen. Die finanziellen Voraussetzungen dafür könnten geschaffen werden, wenn der Kampf gegen Steuerbetrug ernsthaft fortgesetzt und das Steuerdumping durch Mitgliedstaaten beendet würde. Die Einführung einer europäischen Digitalsteuer und einer Finanztransaktionssteuer sind überfällig, damit auch »neue Wertschöpfung« zur Finanzierung der Gemeinwesen beiträgt. Die europäische Bankenunion ist für die Stabilisierung der Währungsunion eine wichtige Voraussetzung.

Aber es ist fraglich, ob eine so weitreichende Fortentwicklung der EU zu erreichen ist, solange die Regierungen einzelner oder mehrerer EU-Mitgliedstaaten den Fortschritt immer wieder ausbremsen können. Deshalb muss ihr Einfluss eingegrenzt und das Europäische Parlament in seiner Kompetenz gestärkt werden. Das heißt, dass es zum Vollgesetzgeber gemacht werden muss, der nicht nur in allgemeiner, direkter und geheimer, sondern auch in gleicher Wahl gewählt wird und dem gegenüber auch eine europäische Regierung rechenschaftspflichtig ist.

Manche der angesprochenen Elemente finden sich im Programm von Macron: z. B. eine »echte« europäische Asylbehörde, ein Bildungs- und Integrationsprogramm, ein autonomes Eurozonenbudget zur Finanzierung eines Investitionsprogramms und ein vom Parlament kontrollierter europäischer Finanzminister, Steuerharmonisierung, eine Digital-, Finanztransaktions- und CO2-Steuer (an deren Erhöhung Macron vor Kurzem in Frankreich scheiterte), Kampf gegen Steuervermeidung in Europa, die Bankenunion, transnationale Listen für die Wahl zum Europäischen Parlament, eine verkleinerte EU-Kommission. Einiges davon findet sich sogar in der deutsch-französischen Erklärung von Meseberg, beispielsweise die Digitalsteuer, das Eurozonenbudget oder die Bankenunion, allerdings bleibt die deutsche Regierung bei der Konkretisierung dieser Vorschläge weit hinter den Vorstellungen Macrons zurück. Sie begnügt sich mit zustimmenden Formeln, verweigert sich aber in der Sache oder zögert zumindest eine Umsetzung so lange wie möglich hinaus. Soll der leidenschaftliche europäische Elan von Präsident Macron nicht verpuffen, muss von Deutschland endlich ein starkes Zeichen kommen, wie man die Initiative gemeinsam mit Leben füllen könnte.

Die Konkretisierung einiger Vorschläge Macrons, deren Umsetzung Deutschland bisher verhindert hat, wären dazu geeignet, die frühere Europabegeisterung in der europäischen Bevölkerung zurückzugewinnen: Sozialstandards, europäische Migrationspolitik, Investitionen, Bankenunion usw. So hat Gesine Schwan beispielsweise vorgeschlagen, Asylkontrollzentren nach der anerkannten niederländischen Methode einzurichten. Über eine europäische Kontaktbörse könnten sich Kommunen um Mittel bewerben, die dem Ausbau der Infrastruktur für Einheimische und Migranten zugutekämen. Auf jeden Fall wäre es wichtig, dass die Länder, die sich hinsichtlich einer stärkeren Integration einig sind, Dialoge mit den skeptischen Mitgliedstaaten führten und ausloteten, wie weit man diesen möglicherweise auch entgegenkommen kann.

Die Chancen zur Umsetzung eines ehrgeizigen Programms würden steigen, wenn insbesondere die südeuropäischen Länder von Deutschland mehr Solidarität erfahren würden. Die rhetorisch durchaus europafreundliche Politik unseres Landes ist zumindest halbherzig, oft werden sogar vermeintlich deutsche Interessen einer gemeinsamen europäischen Politik gegenübergestellt. Beispiele sind die Austeritätspolitik und das Zögern bei dem Thema Bankenunion. Diese Politik ist kurzsichtig. Der Exportweltmeister Deutschland lebt auf Kosten der anderen. Sein Verhalten in der Flüchtlingspolitik im Rahmen des Dublin-Abkommens, hinsichtlich der den »Programmländern« auferlegten sozialen Sparprogramme oder beim Thema Nordstream-Pipeline wird als unsolidarisch empfunden.

Die Einsicht muss sich auch in Deutschland durchsetzen, dass Wohlstand und liberaldemokratische Werte nur erhalten werden können, wenn die Menschen in allen anderen Mitgliedstaaten ebenfalls eine positive Entwicklung erleben. Dies bedeutet keineswegs Gleichmacherei, aber positive Komplementarität. Weshalb ist es nicht denkbar, dass Industriemetropolen Transfers in Regionen leisten, die das Naturerbe bewahren und damit anderen Europäern Erholungsräume zur Verfügung stellen?

Solange nicht alle Mitgliedstaaten einer weiteren Vertiefung der Union zustimmen werden, besteht nur die Möglichkeit, weitere Regelungsbereiche über eine »Koalition der Willigen« auf dem Wege der verstärkten Zusammenarbeit voranzubringen. Denn derzeit kann man aufgrund der politischen Ausrichtung Italiens nicht einmal davon ausgehen, dass das alte »Kerneuropa« zusammenbleibt. Die Komplexität der EU nähme zwar zu, weil das Feld des »Europas der mehreren Geschwindigkeiten« größer würde. Aber unter der Voraussetzung, dass diese »Bündnisse« für weitere Beitrittswillige offen bleiben, wird bei funktionierender Zusammenarbeit die Attraktivität steigen und es könnte ein »Beitrittssog« entstehen, der die integriertere EU über die Jahre runder machen würde.

Auf dem Weg zur Europäischen Republik

Die Bevölkerungen können nur gewonnen werden, wenn sie erfahren, dass und wie politische Kräfte in der EU das solidarische Europa bauen wollen. Da reicht der Slogan »Mehr Europa wagen!« nicht aus. Die SPD darf sich nicht der lauwarmen Politik der Unionsparteien anschließen. Es ist dringend ein weitreichender, radikaler Entwurf erforderlich, der die Perspektive aufzeigt, die erreicht werden soll. Die Vorschläge von Macron sind positiv, reichen jedoch noch nicht aus, um einen entscheidenden Fortschritt zu erzielen.

Es muss auf einer neuen programmatischen Basis eine Balance zwischen Einheit und Vielfalt geschaffen werden (Gesine Schwan/Mario Telò, NG/FH 11/2018). Denn Nationalismus und europäische Einigkeit schließen sich aus. Aber eine politische Union hat Platz für Pluralismus und Diversität. Es kann mit einer begrenzten Zahl klar formulierter und akzeptabler konkreter Ziele begonnen werden, die in jedem Land umsetzbar sind. Diese Ziele könnten eine gemeinsame Migrationspolitik, eine Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, die Arbeitsplätze für junge Menschen hervorbringt und eine gemeinsame europäische Außenpolitik sein. Am Ende sollte ein solidarisches Europa stehen. »Seit dem Vertrag von Maastricht hat das Subsidiaritätsprinzip Verfassungsrang und die realistische Vision einer europäischen Republik der Nationalstaaten lässt beiden Polen, den Nationen und der politischen Union, ihr Recht.« (Thomas Meyer, NG/FH 11/2018).

Strukturell wird eine gegenüber dem Parlament verantwortliche europäische Regierung gebraucht. Eine »Europäische Republik« mit föderalen und subsidiär funktionierenden Strukturen muss die Mitgliedstaaten »entmachten«. Da dieses Ziel zumindest heute nicht mit allen Mitgliedstaaten zu erreichen ist, muss für jedes einzelne Teilziel geworben werden, gegebenenfalls auch im Rahmen von verstärkter Zusammenarbeit. Bei Erfolg wird die Zahl derjenigen, die dabei sein wollen, zunehmen.

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