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Europa am Scheideweg – Wo bleibt die Sozialdemokratie?

Die Spannungen um den Wiederaufbaufonds haben es gezeigt: Europa ist tief gespalten. Die Zusammenarbeit während der Covid-19-Pandemie zeigt zwar durchaus auch positive Entwicklungen, jedoch scheinen die negativen Aspekte zu überwiegen. Neben einer Bestandsaufnahme der aktuellen Lage muss es nun auch um die Frage der politischen Strategie gehen, um der Misere zu entkommen, in der sich der europäische Integrationsprozess befindet. Die Sorge um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie hat die europäischen Entscheidungsträger zumindest ermutigt, sich vom neoliberalen Dogma zu verabschieden. Um sich der kommenden Krise und Rezession zu stellen, dürfen sich Staaten nun neu verschulden. Auch Eurobonds sind plötzlich möglich, solange man sie nicht beim Namen nennt. Die Institution, die dazu berufen ist, die gemeinsame Verschuldung zu verantworten, ist die Europäische Kommission. Das sind durchaus positive Entwicklungen, die den Keim eines föderalen europäischen Staates bilden könnten. In einem nächsten Schritt könnten eine gemeinsame Steuer- und Finanzpolitik, eine europäische Investitionspolitik und möglicherweise eine koordinierte Industriepolitik folgen. Doch die Gegentendenzen sind massiv. Dies zeigt schon die institutionelle Architektur des Wiederaufbaufonds, denn die Entscheidungsverfügung über Bedingungen und Verwendungszweck der Finanzmittel liegt beim Europäischen Rat. Weder die Kommission noch das Europäische Parlament haben das Sagen, sondern nach wie vor die Regierungschefs der einzelnen Staaten. Nationale Wirtschaftsegoismen spielen hier die Hauptrollen, sodass Europa in vielen Segmenten gespalten ist und mit unterschiedlichen Stimmen spricht.

Vereinigte nationale Wirtschaftsegoismen

Das Kerneuropa besteht nach wie vor aus Deutschland und Frankreich. Hier sind die industriellen Interessen ausschlaggebend. So muss der europäische Binnenmarkt unter dem Schirm des Euro um jeden Preis aufrechterhalten werden. Die Länder Südeuropas dürfen in der Post-Covid-Rezession aber auch nicht untergehen, sonst fehlen dem stärker industrialisierten Nordeuropa die überlebenswichtigen zollfreien Einnahmen, durch die es sich im globalen Konkurrenzkampf behaupten kann. Das ist das Hauptinteresse und der Grund, warum den größten Opfern der Pandemie geholfen wird. Die politische Sorge um ein Anwachsen des populistischen Souveränismus folgt an zweiter Stelle. Die Länder Südeuropas wiederum wissen, dass sie als Industrienationen nur überleben können, wenn sie ihre Funktion als Zulieferer der nordeuropäischen, vor allem der deutschen Industrie weiterhin wahrnehmen. Dass sie auf europäische Subventionen angewiesen sind, um den Staat am Laufen zu halten, hat vor allem innenpolitische Gründe. Denn keiner Regierung, egal ob Mitte-links, Mitte-rechts oder populistisch, ist es gelungen, die privilegierten Schichten dazu zu zwingen, Steuern zu zahlen. So gibt es beispielsweise in Italien seit langer Zeit eine jährliche Steuerhinterziehung in Höhe von rund 100 Milliarden Euro, die der Staat in Form von Verschuldung ersetzen muss. Damit sich das Rad weiterdrehen kann, sind nun Eurobonds notwendig.

Daneben gibt es das Europa des Finanzkapitals und zweifelsohne haben sich die Niederlande zu dessen Sprachrohr entwickelt. Aus der Perspektive der politischen Semantik war diese Wendung der Verhandlungen um den Wiederaufbaufonds ein starkes Stück. Eine kleine Zahl wohlhabender Länder gab sich den Decknamen der »Sparsamen«. Sie brachten damit ihren Unwillen zum Ausdruck, sich an einem Hilfsprogramm für die Länder Südeuropas zu beteiligen, das nur etwa 1 % des europäischen Bruttoinlandsprodukts beträgt. Sie verlangten Einlagen, die an zwei Kriterien gebunden sind. Zum einen sollte der Umfang an Direkthilfe zugunsten einer Verschuldung reduziert werden. Zum zweiten sollte die Genehmigung einer Verschuldung an Ausgabenbeschränkungen des Sozialstaates (sogenannte »Reformen«) in den betroffenen Ländern geknüpft werden. Als Sprecher der »Sparsamen« erhoben die Niederlande diese Forderungen, ein Land, welches zusammen mit Irland und Luxemburg gleichzeitig als Steuerparadies für europäische Unternehmen tätig ist und Steuerzahlungen einnimmt, die woanders in der Kasse fehlen. Dieses unfaire Verhalten verstößt gegen die Prinzipien der Europäischen Union, wird jedoch nicht sanktioniert. Die »Sparsamen« waren damit die Stimme des Offshore-Finanzkapitals: Wir nehmen euch die Steuereinnahmen weg, wenn ihr aber das Geld in Form von Verschuldung zurückbekommen wollt, müsst ihr zunächst eure sozialstaatlichen Systeme zurückfahren. Damit soll frisches Kapital in Umlauf kommen, welches aber nicht in das Sozialsystem, sondern ins Finanzsystem investiert wird.

Jeder politisch denkende Mensch kann sich gut vorstellen, welches Geschenk diese Botschaft für die Souveränisten in Südeuropa und insbesondere für ihre Weltmeister in Italien darstellt. Dass sie mit ihren Botschaften auf breite Zustimmung stoßen können, lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Nach Medienberichten haben die italienischen Steuerzahler seit 1975 circa 220 Milliarden Euro in Subventionen für den FIAT-Konzern und in Kurzarbeit bei diesem investiert, einem Konzern, der die gesamte italienische Autoindustrie nach und nach in sich aufgesaugt hat. Ziel dieser Politik war die Sicherung der Arbeitsplätze und künftiger Steuereinnahmen. Nun aber hat das Unternehmen seit einigen Jahren (wie die meisten führenden italienischen Unternehmen, Silvio Berlusconis Medienimperium inklusive) den Sitz in das niederländische Steuerparadies verschoben und zahlt Teile seiner Steuern sogar in England, sodass Italien den Kürzeren gezogen hat. Zur Krönung der Geschichte tritt jetzt der niederländische Premierminister als Vertreter der »Sparsamen« mit seinen Forderungen auf. Man kann sich leicht vorstellen, mit welchen Parolen Matteo Salvinis Lega den nächsten Wahlkampf gestalten wird.

Der Vollständigkeit zuliebe muss das Mosaik der europäischen Wirtschaftsegoismen noch durch das vierte Europa vervollständigt werden. Die autoritär regierten Länder Osteuropas haben auch ihre Stimme erhoben und sich ihre Zustimmung zum Wiederaufbaufonds mit Subventionen sowie mit einer Verzögerung der Strafmaßnahmen gegen ihre Strategie des Machterhalts durch Beschneidung rechtsstaatlicher Prinzipien abkaufen lassen. Wie lange sie damit noch durchkommen werden, hängt offensichtlich von der Fähigkeit ihrer Regierungen ab, den Block ihrer Befürworter durch europäische Subventionen und Steuerbegünstigungen zusammenzuhalten.

Eine europäische Sozialdemokratie?

Während der gesamten Zeit, in der um den Wiederaufbaufonds gerungen wurde, war die Stimme der europäischen Sozialdemokratie kaum zu vernehmen. Dies weist darauf hin, dass es kein europäisches Projekt der Sozialdemokratie gibt. Angela Merkels Strategie in der Post-Covid-Krise ist nach wie vor die des minimalen Kompromisses zur Bewahrung des nationalen Wirtschaftsinteresses. Darauf lässt sich jedoch weder das politische noch das soziale Europa aufbauen. Eine weitsichtigere Perspektive ist bitter nötig, vor allem in Anbetracht der voraussehbar dramatischen sozialen Entwicklung der nächsten Monate und Jahre. Im Klartext heißt das, dass der von Ursula von der Leyen versprochene »Green Deal« durch einen »New Welfare Deal« ergänzt werden muss. Es geht also um die Frage des Ökosozialismus des 21. Jahrhunderts. Diese politische Perspektive kann allerdings nur Gestalt annehmen, wenn in Europa der Kampf gegen die nationalen Wirtschaftsegoismen, die überall den Souveränismus nähren, entschlossen geführt wird. Solange Politiker (Sozialdemokraten inbegriffen) denken, dass es in Europa vordergründig um die Vertretung der Interessen der deutschen Autoindustrie, der französischen Luftfahrtindustrie, der niederländischen Finanzindustrie, des lombardischen Mittelstands, der spanischen Zuliefererindustrie usw. geht, kommt Europa nicht zustande. Ein grünes, soziales und überlebensfähiges Europa kann nur entstehen, wenn es einheitlich gedacht und vorangetrieben wird.

Vor uns liegt heute ein Wirtschaftsraum, der seit der Einführung des Euro massive Transformationen durchlaufen hat. Durch den Fall der Zollschranken und der Währungsvielfalt hat vor allem ein bedeutender zentripetaler Ressourcentransfer von der Peripherie in Richtung Kerneuropa stattgefunden. Es sind historisch bekannte Phänomene, die bereits bei den verspäteten nationalen Vereinigungsprozessen des 19. Jahrhunderts auftraten: Kapitalinvestitionen in nordeuropäische Industrien und den Finanzsektor, Abwanderung von gut ausgebildeten Arbeitskräften, Wissenschaftlern und dgl., Umwandlung der nationalen Industrie der europäischen Peripherie in eine Zulieferindustrie für die boomenden Industrieregionen Kerneuropas. All dies sind sozioökonomische Erscheinungen, die auch der Währungs- und Zollunion am Anfang des 21. Jahrhunderts folgten. Damit das Gleichgewicht innerhalb der föderalen Staaten bewahrt wird, folgen auf solche Transformationen in der Regel Kompensationsmaßnahmen. Deutschland hat durch den Länderausgleich sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Man muss nur an die Entwicklung Bayerns vom Agrarland zum Exportchampion neuer Technologien denken. Investitionsprogramme in Richtung Peripherie müssen allerdings auf der Basis einer gemeinsamen und gerechten Finanz- und Steuerpolitik erfolgen und können nicht durch den gegenseitigen Konkurrenzkampf der Steuerbegünstigungen beschnitten werden. Dagegen sträuben sich jedoch die Gewinner der europäischen Währungsunion.

In Anbetracht der sich anbahnenden Post-Covid-Krise ist ein soziales und ökoindustrielles Projekt Europas notwendig, das sich nicht lediglich aus der Kompromisslogik zur Wahrung der nationalen Wirtschaftsegoismen ergeben kann. Diese neue Entwicklungsstufe des europäischen Vereinigungsprozesses muss schleunigst erreicht werden, wenn die Europäische Union überleben will. Dieses politische Programm zu konzipieren und voranzutreiben ist die Aufgabe einer europäischen Sozialdemokratie, falls sie denn eines Tages zusammenfinden sollte.

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