»Ach Europa!« seufzte Hans Magnus Enzensberger in den 80er Jahren, als sich die Hoffnung auf eine moralische und politische Erneuerung des Kontinents nach dem Weltkriegsinferno nicht zu erfüllen schien. Dabei war man nach 1945 mit großen Erwartungen angetreten: »Ähnlich wie nach den Befreiungskriegen 1815 eine junge Generation von den Schlachtfeldern Europas nach Deutschland zurückkehrte und leidenschaftlich die Einheit Deutschlands wünschte, kehrt heute die junge Generation Europas von den Schlachtfeldern der Welt zurück und wünscht die Einheit Europas«, schrieb Alfred Andersch, gerade aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen.
Europa – das war eine noch nicht verjährte und wieder zeitgemäße Verheißung, die vom Himmel der Bildungsutopie heruntergeholt werden sollte auf den Boden des politisch Machbaren. Hans Werner Richter, der Begründer der Gruppe 47, warb für einen deutschen und europäischen »sozialistischen Humanismus«, und selbst ein rechtskonservativer Intellektueller wie Ernst Jünger sah den »nationalen Stoff« im Feuer des Krieges »verzehrt«. Oder sollte Heinrich Mann mit seiner Feststellung Recht behalten, das übernationale Gemeinschaftsgefühl der Europäer sei »reine Erfindung der Dichter, nur von ihnen erhalten und aufbewahrt während der feindlichsten Zeiten?« Nach dem Zweiten Weltkrieg kam Europa, zumindest der westliche Teil, wirtschaftlich, politisch und kulturell so weit voran wie nie zuvor in seiner Geschichte. 1948 wurde in Den Haag die europäische Bewegung ins Leben gerufen, die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa stand auf der Tagesordnung. Ein Jahr später kam es in Straßburg zur Gründung des Europarates, 1951 entstand die europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Montanunion genannt, 1957 wurden die »Römischen Verträge« unterzeichnet – die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft war auf den Weg gebracht, die politische Integration Europas in Aussicht gestellt. Das Projekt Europa schien endlich zu glücken.
Biotop des Zweifels
Knapp drei Jahrzehnte stellte Hans Magnus Enzensberger für Europa eine andere Diagnose: »Der so genannte Europa-Gedanke lief auf die Absicht hinaus, den großen Blöcken einen großen Block entgegen zu setzen. Also nichts als Big Science, High Tech, Raumfahrt, Plutonium, all diese bösen Scherze. Die Politiker haben jahrzehntelang auf dieses Europa der Manager, der Rüstungsexperten und der Technokraten gesetzt, nur haben sie ihre Rechnung ohne die Bewohner unserer schönen Halbinsel gemacht. Was die europäische Gemeinschaft betrifft, so ist sie tatsächlich bis in ihre Mikrostruktur hinein irregulär, und der Versuch, hier im traditionellen Sinn Ordnung zu schaffen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Der Mischmasch ist unsere endgültige Gestalt«. Nur Wirrwarr und Unregierbarkeit glaubte Enzensberger konstatieren zu können: Europa sei allenfalls ein »Biotop für die Kultur des Zweifels«.
Ist seine Skepsis seither Lügen gestraft worden? Auch Jürgen Habermas kam weitere 30 Jahre später zu einem eher skeptischen Resümee: »Adenauer war auf die Bindung an den Westen fixiert, Brandt auf die Ostpolitik und die Dritte Welt, Schmidt relativierte das Schicksal des kleinen Europa aus dem Blickwinkel der Weltökonomie, und Helmut Kohl wollte die nationale in die europäische Einigung einbinden. Alle wollten noch etwas! Schröder hat schon eher reagiert als gestaltet; immerhin wollte Joschka Fischer eine Entscheidung über die finalité, wenigstens die Richtung der europäischen Einigung herbeiführen.« Seit 2005 aber zerflössen die Konturen der Europapolitik vollkommen, es sei nicht mehr erkennbar, »worum und wohin« es eigentlich gehen solle, außer um die nächste zu gewinnende Wahl. Die Bürger fühlten sich genervt und zugleich unterfordert durch eine »normativ entkernte Politik«, die über ihre Köpfe hinweg, jenseits demokratischer Willensbildung vollzogen werde.
Das demokratische Defizit
Und heute? Wem Europa 2019 Sorgen bereitet, ist mit Ulrike Guérots neuem Buch Wie hältst du's mit Europa? am besten bedient. Die Autorin folgt nicht der deutschen Selbstwahrnehmung, sondern der europäischen Fremdeinschätzung dessen, was die deutschen Euromagnaten und Kapitalbosse aus der einst versprochenen Demokratisierung des Kontinents haben werden lassen. Auch das Problem, wie wenig die hiesige Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten zu einer substanziellen und selbstkritischen Analyse des europäischen Demokratiedefizits bereit war, wird in diesem brillanten Problemaufriss deutlich. Vehement plädiert Guérot für einen neuen europäischen Gesellschaftsvertrag, der mehr enthalten müsse als die Usancen eines auf Wettbewerb ausgerichteten Geschäftsmodells; vielmehr müsse er angelegt sein als politisches Beteiligungs- und Sozialprojekt aller Bürgerinnen und Bürger Europas. Immer mehr Menschen fühlten sich heute als Europäer und erwarteten tiefgreifende demokratische Reformen, aber diese Mehrheit werde in Europa institutionell und politisch nur unzulänglich abgebildet. So hat zuletzt die Wahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin unter Beweis gestellt, wie weit der Bürgerwille in der EU tatsächlich reicht – nur bis vor die geschlossene Tür des exekutiven EU-Rats.
1992 sollte der Vertrag von Maastricht das Projekt einer »Ever Closer Union« besiegeln, die deutsche Einheit sollte in der europäischen Einigung aufgehen. Tatsächlich wurden ein gemeinsamer Markt und zehn Jahre später eine gemeinsame Währung geschaffen. Doch die politische Einheit Europas wurde schon damals vertagt, nicht anders als eine gemeinsame Fiskal-, Haushalts- und Sozialunion, die dem ökonomischen Unterbau des Kontinents ein demokratisches Dach hätte geben können. Heute, angesichts tiefer sozialer Krisen und populistischer Regression, fällt Guérots Bilanz des europäischen Demokratie- und Organisationsstatus mehr als ernüchternd aus: »Institutionelle Reform: auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Transnationale Listen für die Europawahlen: noch im Februar 2018 im Europäischen Parlament abgelehnt. Eurozonen-Reform: nicht mehr auf der Tagesordnung. Bankenunion: zäh. EU-Sozialgipfel in Göteborg: begraben. Balkan-Erweiterung: vergessen. Mittelmeer-Union: begraben. Macrons Reformvorschläge: weitgehend verpufft. EU-Budgetverhandlungen: schwierig. Brexit-Ausgang und Folgen: ungeklärt. Europäische Arbeitslosenversicherung: strittig.«
Deutsche Dominanz
Guérot spart nicht mit Kritik an der deutschen Wirtschaftspotenz, die statt zu einem europäischen Deutschland immer stärker zu einem deutschen Europa geführt habe. Der ökonomischen Übermacht der Bundesrepublik entspräche die Frustration ihrer europäischen Partner. Niemals sei eingestanden worden, dass die Etablierung des Euro zu einem neuen Gesellschaftsvertrag hätte führen müssen, mit allen Konsequenzen für den sozialen und ökonomischen Ausgleich zwischen den Partnern. Keine europäische Verfassung, keine konsistente Außen-, Verteidigungs- und Sozialpolitik, keine vertiefte Demokratisierung – für Ulrike Guérot ist das ein Reigen der Enttäuschungen: »Der eigentliche Wert Europas wurde nie gegengerechnet: Stabilität, Prosperität, Binnenmarkt, Friede, gutes Verhältnis zu den Nachbarn, stabile Demokratie in allen Nachbarstaaten, all diese vielen unsichtbaren Dinge, die heute ins Schwanken geraten sind und deren Verlust wir beklagen.«
Europa – das bedeutet eine eklatante Versagensbilanz, die weitgehend auf die deutsche Agenda von Eigennutz und Dominanz im ökonomisch-fiskalischen Bereich zurückzuführen ist. Dieser Kontinent, sagt Ulrike Guérot, muss von allen seinen Bürgern neu gedacht werden, und zwar auf der Basis demokratischer und sozialer Teilhabe und mit parlamentarisch legitimierten Entscheidungen. Ihre kurze Formel dafür lautet: »Wir schaffen es europäisch oder wir schaffen es nicht.«
Ulrike Guérot: Wie hältst du's mit Europa? Steidl, Göttingen 2019, 176 S., 16 €.
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