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Europa, ein kulturelles Projekt

In Zeiten des Aufbruchs aber auch in Perioden allgemeiner Unsicherheit und Bedrohung ist Kultur als kreative Kraft besonders gefragt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs etwa mit seinen unzähligen Opfern, den Schrecken des Faschismus, der Vertreibung vieler Millionen Menschen, der Fremdheit, ja Feindschaft zwischen den Bürgern Europas mussten Wege gefunden werden, die eine Annäherung, ein normales Miteinander wieder ermöglichten. Kultur im weitesten Verständnis, als ein Angebot zur Kommunikation, zum Austausch und zum Kennenlernen wurde hierbei ein wichtiger Mittler. Es wurden Kulturfestivals ins Leben gerufen, in Avignon, Edinburgh, Amsterdam, Berlin und vielen weiteren Orten, und neue Kooperationsformen entstanden, wie etwa das Netzwerk »Informal European Theatre Meeting«, die »European Festivals Association«, Dachorganisation für Kulturfestivals vor allem in den Bereichen klassische Musik und Musiktheater, oder das »Internationale Theaterinstitut«, ein weltumspannendes Theaternetzwerk, das sogar in Zeiten des Kalten Krieges in Ost und West fortbestand. Die meisten dieser Institutionen existieren und wirken noch heute, sind erfolgreich und schaffen vielfältige Verbindungen.

Die griechische Sängerin und Kulturministerin Melina Mercouri schlug zudem 1985 der EU ein neues Projekt vor – die jährliche Ernennung einer Stadt zur »Kulturstadt Europas«. Das Programm sollte nicht nur eine Grundlage für die jeweilige Stadt schaffen, ihre urbane Entwicklung voranzutreiben und ihr Image zu verbessern, sondern auch ihre Sichtbarkeit und ihr Profil im internationalen Kontext zu stärken. Doch der wichtigste Impuls für Melina Mercouri, unterstützt von ihrem französischen Kollegen Jack Lang, war die Hoffnung, die Europäer durch eine bessere Wahrnehmung des Reichtums und der Vielfalt der europäischen Kulturen, ihrer gemeinsamen Geschichte und Werte enger zusammenbringen zu können. Zunächst begann das von der Europäischen Kommission aufgenommene Projekt mit Städten in Westeuropa, erweiterte die Auswahl aber ab 2000 auf ganz Europa und änderte den Titel in »Kulturhauptstadt Europas«.

Der Vision seiner Gründerin Melina Mercouri entsprechend hat dieses Projekt eine herausragende kulturpolitische Aufgabe. Als große europäische Ereignisse sollen sie Aufmerksamkeit für Kultur und ihre Wirkungen in der gesellschaftlichen und politischen Arbeit für Europa schaffen. Nicht immer ist das in der Vergangenheit gelungen, manche Städte haben eher daraufgesetzt, mit spektakulären internationalen Veranstaltungen ein Publikum zu unterhalten. Doch an vielen Orten entsteht, oft in Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten zivilgesellschaftlichen Gruppen, ein Programm, das aus der Geschichte und den Eigenheiten der Stadt und ihrer Region entwickelt wird und damit einem internationalen Auditorium Gelegenheit bietet, innerhalb der Vielfalt Europas einen besonderen Ort zu entdecken.

Neben Melina Mercouri spielen auch viele andere Künstlerinnen und Künstler beim Kampf für mehr Offenheit und Toleranz eine wichtige Rolle, indem sie – wie etwa der unvergessene Václav Havel als tschechischer Staatspräsident von 1989 bis 2003 – auch politische Ämter und damit Verantwortung übernehmen. Auch heute erheben immer wieder Künstler ihre Stimme gegen die Bedrohungen für Demokratie und Freiheit. Das Zusammenwirken von Politik und Kultur, das Engagement der Zivilgesellschaft, häufig in kulturellen Projekten, war und ist auch heute eine notwendige Erfahrung.

Bei der Eröffnung der ersten »Berliner Konferenz« der Initiative »A Soul for Europe« im Jahr 2004 verkündete José Manuel Barroso, der damals neu gewählte Präsident der Europäischen Kommission: »Die EU hat ein Entwicklungsstadium erreicht, in dem ihre kulturelle Dimension nicht länger ignoriert werden kann«, und 2007 stellte die Europäische Kommission ihrer »Mitteilung über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung« ein Zitat des Schweizer Philosophen Denis de Rougemont voran: »Kultur ist die Gesamtheit aller Träume und Mühen, die auf die volle Entfaltung des Menschen ausgerichtet sind.«

Heute gehört die Betonung der wichtigen Rolle von Kultur in das Rederepertoire vieler europäischer Politiker. Doch im europäischen Alltag wird Kultur nur selten in ihrer Möglichkeit genutzt, als treibende Kraft die Bürger von der Notwendigkeit des Projektes »Europa« zu überzeugen.

Die Veränderung des sozialen und politischen Lebens stellt uns vor neue Herausforderungen: Migrations- und Flüchtlingsbewegungen, wachsende soziale Ungleichheiten, Finanzkrisen und ein erstarkender Populismus und Nationalismus weltweit verunsichern die Gesellschaften. Hier besteht die Aufgabe für Politik und Kultur, gemeinsam nach Antworten und Lösungen zu suchen.

In den Medien überwiegt oft die Negativberichterstattung. Diese übersieht allerdings, dass überall in Europa – vor allem in den Städten – zunehmend eine Vielfalt an kulturellen und künstlerischen Ideen und Projekten entsteht, die sich den nationalistischen Entwicklungen entgegenstellt und europäische Bürger zu mehr Einmischung motiviert. Beispielhaft zu nennen ist die von Bürgern initiierte Aktion »Pulse of Europe«, die seit Wochen an vielen Orten eine wachsende Zahl an Menschen auf die Straßen und Plätze bringt und damit auch eine gewisse Präsenz in der öffentlichen Berichterstattung erreicht. Doch wie erfährt man von den zahlreichen, vorwiegend kulturellen Projekten in kleinen Städten, in unseren Nachbarländern, die mit größtem Engagement ihren Beitrag für den Zusammenhalt Europas leisten? Eine umfassendere Berichterstattung durch die Medien könnte zu mehr Nachahmung animieren, Kontakte ermöglichen, Dialoge anstoßen und dazu beitragen, Fremdheit zu überwinden.

Wir brauchen das Zusammenwirken vieler, um die Indifferenz, ja zum Teil Feindschaft gegenüber dem europäischen Projekt zu überwinden. Dafür muss auch die Kultur neue Allianzen mit anderen sozialen Partnern eingehen, etwa aus dem Bildungsbereich, der Wissenschaft, der Welt der Ökonomie und anderen sozialen Organisationen.

Kunstinstitutionen sind Orte, in denen sich neues Denken entwickelt, neue Orientierungen in einem historischen und sozialen Kontext entstehen. Damit können sie zu Vermittlerinnen zwischen den Bürgern aber auch zwischen der Zivilgesellschaft und der Politik werden.

Die Gesellschaft muss verstehen und akzeptieren, dass europäische Kultur nicht mehr nur die Summe nationaler Kulturen ist, sondern ein Schmelztiegel unterschiedlichster Einflüsse – Kultur ist nicht nur historisches Erbe, sondern ein einigender dynamischer Prozess. Dafür sind Flexibilität und ein grundsätzliches Umdenken notwendig, neue Herausforderungen erfordern neue Konzepte und Handlungsbereitschaft. Dazu gehört z. B. auch ein offener Blick auf die – nicht nur – europäische Peripherie, ihre Rolle und Bedeutung im Prozess des Zusammenhalts Europas. Oft mangelt es uns an Neugier und Interesse an aktuellen kulturellen und künstlerischen Entwicklungen in den etwas ferneren Nachbarländern. Dieses Desinteresse führt zu Enttäuschungen und birgt die Gefahr, eine latente antieuropäische Haltung zu verstärken.

Künstler haben schon immer die Grenzen ihrer Heimatländer überquert, haben neue Erfahrungen mitgebracht, »den Horizont erweitert« und Toleranz gelehrt. Auch heute sind Künstler aller Sparten vielfältig unterwegs, in gemeinsamen Projekten, Koproduktionen, im Austausch, in engagierten Netzwerken quer durch Europa und darüber hinaus. Sie vermitteln Wissen und bauen im Dialog mit Kollegen und dem Publikum am Zusammenhalt Europas. Die Mobilität von Künstlern und ihren Werken ermöglicht, auch in schwierigen Zeiten, die Wahrnehmung einer größeren Welt, lehrt die Notwendigkeit, andere Sprachen zu erlernen, Sprachen für eine vielfältige Kommunikation. Das war – und ist – kein einfacher Prozess. Denn Fremde können auch Verunsicherungen, Provokationen und neue Herausforderungen mit sich bringen. Kulturelle Vielfalt kann aber nur gedeihen, wo Menschenrechte und die Freiheit des Ausdrucks, der Information und Kommunikation garantiert sind, durchaus nicht überall in Europa selbstverständlich.

Die vielen Flüchtlinge und übrigen Migranten, die in Europa eine neue Heimat suchen und zu Mitbürgern werden, werden die europäischen Gesellschaften grundlegend verändern, auch ihr kulturelles Selbstverständnis. Um den Neuankömmlingen eine Chance zu geben, sollten sie sich nicht kulturell ausgeschlossen fühlen. Wir müssen Wege finden, uns gegenseitig kennenzulernen. Die Millionen an persönlichen Geschichten, die sie mitbringen, könnten dabei Teil einer erstaunlichen neuen europäischen Erzählung werden – wenn wir neugierig und offen genug sind, sie anzunehmen.

Wir müssen lernen, einander zuzuhören. Gegenseitiger Austausch funktioniert in allen Sprachen, auch der des Theaters, des Tanzes, der Musik und er ermöglicht oft den Beginn eines gemeinsamen, generationenübergreifenden Handelns.

Die Künste verlangen etwas von uns, das im normalen Leben nicht selbstverständlich ist – sie drängen uns, ausgetretene Pfade zu verlassen, uns für unkonventionelle Ansichten zu öffnen und sie bringen uns dazu, die Fiktion einer politischen Neutralität aufzugeben. Das gilt auch für die Debatte über unsere Zukunft in Europa und sollte in der alltäglichen Praxis der Politik auf allen Ebenen, europäisch, national, regional und lokal mehr Aufmerksamkeit erfahren. Kultur in Europa lebt vor allem in den Städten und Regionen, diese tragen eine große Verantwortung für eine Kultur, die nicht nur von Kunst, von Traditionen, Institutionen und Werten unterschiedlichster Art geprägt ist, sondern unter anderem auch den öffentlichen Raum und seinen Gebrauch, Medien, Sprachen, die multikulturelle urbane Gesellschaft, religiöses Leben und vieles mehr umfasst. Städte, in denen ein ausgeprägtes kulturelles Leben zu Hause ist, können auch auf ein größeres bürgerschaftliches Engagement setzen. Entgegen dem verbreiteten Euroskeptizismus entwickeln Bürger eigene Projekte und Initiativen und haben damit einen wesentlichen Einfluss, nicht nur auf die Erneuerung ihrer Städte, sondern weit darüber hinaus. Es sind vor allem kulturelle Aktivitäten, die diesen Bottom-up-Prozess in vielfältiger Kooperation sichtbar und wirksam werden lassen.

Bedeutende Programme der EU wie die »Kulturhauptstadt Europas«, aber auch viele andere Aktivitäten, die von einzelnen Bürgern, von Initiativen, Netzwerken und Institutionen ins Leben gerufen und mit Leben gefüllt werden, sind gemeinsam der überzeugende Beleg für den so wichtigen Beitrag, den die Kultur für den Zusammenhalt Europas leistet.

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