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Über »neue Kriege« und altes Denken »Europa muss sich aus der komfortablen Untätigkeit herausbegeben«

Der Krieg zwischen Nationen ist ein »historisches Auslaufmodell«, die klassischen Schlachten zwischen Soldaten an Frontlinien heute eher die Ausnahme. Die Akteure, Ziele und Formen des Krieges sind vielfältiger geworden, wie Herfried Münkler, emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, schon 2002 mit Blick auf die Anschläge des 11. September 2001 in »Die neuen Kriege« herausgearbeitet hat. In vielen weiteren Publikationen hat er sich immer wieder mit dem Thema Krieg auseinandergesetzt, zuletzt 2017 in »Der Dreißigjährige Krieg« mit dieser europäischen Katastrophe des 17. Jahrhunderts. Wo stehen wir heute und welche Rolle kann Europa als Friedensmacht des 21. Jahrhunderts spielen? Diese Fragen beantwortet Herfried Münkler im Gespräch mit Klaus-Jürgen Scherer.

NG FH: Aktuell bedroht uns die Pandemie des neuen Corona-Virus. Wenn davon die Rede ist, gibt es meist sofort Anleihen bei der Sprache des Krieges. Wir müssen ja auch alles tun, das Virus zu bekämpfen, aber kann man da überhaupt Vergleiche anstellen und etwas aus der Forschung über Krieg und Frieden für die aktuelle Situation lernen?

Herfried Münkler: Vielleicht weniger aus der Frage der eigentlichen Kriegsführung, als aus den im weiteren Sinne militärischen Ausnahmen. Quarantäne ist ja der klassische Versuch, letzten Endes mit militärischen Mitteln, also mit Sperrbezirken und deren Sicherung, die Ausbreitung von Seuchen zumindest zu entschleunigen.

Berühmtes Beispiel dafür ist die Cholera-Epidemie von 1831. Nachdem der Novemberaufstand in Russisch-Polen durch russische Truppen niedergeschlagen wird, verfolgen diese einige der gen Westen fliehenden Polen und verbreiten so die Cholera. Die Preußen wiederum haben an ihrer Ostgrenze eine Observationsarmee zusammengezogen. Der Erste, der der herannahenden Epidemie zum Opfer fällt, ist der Oberbefehlshaber dieser Armee, Generalfeldmarschall Gneisenau, bald danach stirbt auch dessen Stabschef Clausewitz in Breslau.

Das ist ein treffendes Beispiel dafür, wie in solchen Fällen die Verluste des Militärs bei der Herstellung von Quarantänen nicht unerheblich sind. Als die Italiener jetzt Venezien und die Lombardei abgeriegelt haben, sagten sich die Leute: Das ist ja wunderbar, da haben wir Urlaub, die Schulen sind geschlossen, dann reisen wir eben nach Südtirol Ski fahren – mit den bekannten Folgen. Das bedeutet, in freien Gesellschaften gibt es erhebliche Probleme, bei solchen Infektionen die Bewegungsfreiheit der Menschen wirkungsvoll einzuschränken und dabei die Befehlsautorität des Staates und seiner Organe durchzusetzen.

NG FH: Die jetzt so dramatische Lage sollte uns nicht daran hindern, grundsätzlicher zu fragen. Leben wir heute allgemein eher in einem kriegerischen oder eher in einem friedlichen Zeitalter?

Münkler: Wir Europäer ganz zweifellos in einem friedlichen Zeitalter. Grob überschlagen hat Europa niemals vorher eine so lange Friedensperiode erlebt, allenfalls unterbrochen durch die Kriege im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens. Nun ist es eine schwierige Frage, wie weit man den Balkan zum europäischen Kern dazurechnet.

Der Krieg hat sich ansonsten zurückgezogen an die Grenze der Wohlstandszonen. Dort, wo – etwas ungenau formuliert – der globale Norden und der globale Süden zusammenstoßen, da finden die Kriege statt, die ich als die »neuen Kriege« bezeichnet habe. Gleichzeitig wird man davon ausgehen können, dass Auseinandersetzungen zwischen den großen Machtblöcken des Nordens künftig eher in Gestalt des Cyberwars, also in Form von Angriffen auf die Steuerungs- und Kommunikationssysteme der Gegenseite, ausgetragen werden. Das heißt, nicht mit kinetischer Energie und auch nicht in letaler Form, aber durchaus mit dem zentralen Ziel, die andere Seite daran zu hindern, entweder einen Willen zu entwickeln oder aber den bereits vorhandenen Willen zur Geltung zu bringen.

NG FH: Es wird ja in diesem Zusammenhang, gerade auch von Ihnen, von asymmetrischen Kriegen wie von hybrider Kriegsführung gesprochen, Bürgerkriege kommen hinzu, Stellvertreterkriege, nicht zuletzt der Terror. Eine sehr eigenartige Melange heute.

Münkler: In dem Buch über die neuen Kriege habe ich die These aufgestellt, dass wir dort, wo Krieg herrscht, mit einer Wiederkehr der Verhältnisse des Dreißigjährigen Krieges zu rechnen haben. Zum einen, weil die meisten Opfer nicht nur und nicht im Wesentlichen durch unmittelbare Kriegsgewalt und militärisches Handeln entstehen, sondern in deren Folge, durch Hungersnöte und Epidemien. Das war beim sogenannten »Afrikanischen Weltkrieg«, also den Kriegen an den großen afrikanischen Seen von 1998 bis 2003, der Fall, aber inzwischen auch bei den Kriegen in der breiten Zone von Libyen bis Afghanistan. Mitte des 17. Jahrhunderts ist es in Europa gelungen, den Krieg wieder zu einem Instrument der Regierung zu machen, ihn zu regulieren und zu judifizieren. Das Buch De jure belli ac pacis (libri tres) von Hugo Grotius aus dem Jahr 1625 ist diesbezüglich ein revolutionärer Akt, weil es, wie der Titel schon sagt, Krieg und Frieden als normativ gleichrangige Aggregatzustände des Politischen nebeneinanderstellt. Später hat man, darauf aufbauend, versucht, den Krieg unter anderem mit der Haager Landkriegsordnung von 1899 zu regulieren. Das Volk sollte möglichst herausgehalten werden und der Krieg sich allein auf das Heer konzentrieren. Bereits in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts war das schon nicht mehr der Fall, vor allem seit der Entwicklung der Nuklearwaffe, also der nuklearen Geiselnahme der Bevölkerung. Die Hoffnung, dass durch die Regulierung Krieg aus der Geschichte verschwindet, wie sie ja auch in der UN-Charta formuliert ist, hat sich nicht erfüllt. Krieg ist inzwischen in fast archaischer Form mit der tendenziell ursprünglichen Gewalt wiedergekehrt. Neue Kriege – das sind Kriege jenseits ihrer Formalisierung und Verrechtlichung.

NG FH: Doch die Nationalstaaten sind nicht mehr zentrale Akteure…

Münkler: …sie sind nicht mehr die Herren des Krieges. Zu dem, was ich die Wiederkehr der Muster des Dreißigjährigen Krieges nenne, gehört etwa auch die Wiederkehr der Söldner. Das hat für Politiker, die die Entscheidungen treffen, Vorteile, weil die Verluste dann nicht mehr unbedingt aus der eigenen Bevölkerung kommen, sodass die Rechtfertigungszwänge geringer sind.

Es gibt drei Typen von Söldnern: zum einen die wilde Form der Warlord-Organisationen, die nicht wirklich bezahlt werden, aber – als Substitut ausbleibenden Soldes – ungestraft plündern und vergewaltigen; daneben die Private Military Companies wie etwa das berühmt-berüchtigte Blackwater aus den USA, oder die russische Gruppe Wagner, sowie den dritten Typ, den ich zusammenfassend als Kosaken bezeichnen würde, Bevölkerungsgruppen also, bei denen Krieg im weiteren Sinn fast schon eine Lebensform ist.

NG FH: Aber diese bezahlten Unternehmer des Krieges sind doch nur die eine Seite. Welche Rolle spielt die kulturell-religiöse Dimension bei heutigen Kriegen, es ist ja gut 25 Jahre her, dass Samuel P. Huntington vom »Kampf der Kulturen« sprach?

Münkler: Es ist schwierig zu bestimmen, wie hoch die jeweiligen kulturellen, religiösen und ethnischen Anteile an solchen Kriegen sind, aber dass solche Identitätsfragen eine erhebliche Rolle spielen ist unbestritten. Sie organisieren im weiteren Sinne auch so etwas wie Bündnisstrukturen. Das kann man etwa bei den Kriegen in der islamischen Welt sehen. Die große Spaltungslinie zwischen Sunniten und Schiiten führt vielleicht nicht unmittelbar dazu, dass man sich gegenseitig umbringt, sondern dass damit politische Linien zwischen Feind und Freund gezogen werden. Dieser konfessionelle Hass war auch im Dreißigjährigen Krieg zunächst gar nicht so ausgeprägt. Es sind aber Narrative, die der Politik zur Verfügung stehen, um Feindschaft gut zu organisieren. Neben den ökonomischen Gesichtspunkten spielen die Identitätsfragen also durchaus eine erhebliche Rolle.

NG FH: Durch die Aufkündigung multilateraler Abkommen, den Brexit, regierende Nationalisten und jetzt die in der Corona-Pandemie geschlossenen Grenzen sehen manche die Welt bereits auf dem Weg in die Deglobalisierung. Wie wird die künftige Weltordnung Ihrer Einschätzung nach aussehen?

Münkler: Wenn man den aktuellen Stand mit den Erwartungen von 1989/90 vergleicht, ist die Weltordnung heute viel kleinräumiger, kurzfristiger und auch emotionaler. Daneben habe ich den Begriff des »Hüters« ins Gespräch gebracht. Der Begriff des »Globocops«, des weltweit agierenden Polizisten, erschien mir nämlich als zu kurz gesprungen, denn wer sich um die Aufrechterhaltung einer Ordnung kümmert, kann nicht nur sanktionierend vorgehen, sondern muss auch in sie investieren. Im Hinblick auf die Nonproliferation von Nuklearwaffen haben die USA investiert, indem sie sozusagen »nukleare Schutzschirme« verteilt haben. Südkorea und Japan haben nur deshalb keine eigenen Nuklearwaffen, weil die USA ihnen Schutz garantiert haben. Technologisch und finanziell wären beide Länder selbstverständlich in der Lage zum Aufbau einer eigenen Atomstreitmacht gewesen.

Es muss also eine Macht geben, die nicht nur ihre eigenen Interessen im Blick hat, sondern auch die von Bündnispartnern. Aus dieser Rolle ziehen sich die USA gerade zurück – in Anbetracht der strategischen und ökonomischen Überforderung, mit der Wahl von Trump wohl auch der politischen Überforderung, und weil ein erheblicher Teil der Wählerschaft nicht mehr bereit war zu akzeptieren, dass in Schulen und Infrastruktur in Afghanistan, im Irak oder anderswo investiert wird und bei ihnen zu Hause alles den Bach runtergeht. COVID-19 wird diese Entwicklung noch beschleunigen.

Die Formel für diesen Rückzug lautet: America first. Und dieses Verhalten greift momentan um sich. Insofern glaube ich also, dass die Erwartungen, die wir 1989/90 hatten, so nicht eintreten werden und wir damit rechnen müssen, eher in einer Welt zu leben, in der vielleicht fünf große Akteure das Geschehen bestimmen.

NG FH: Angesichts der interessegeleiteten und oftmals destruktiven Politik, die von den USA, von China und Russland ausgeht, wird eine stärkere Rolle Europas gefordert. Doch scheint die Realität anders. Wie realistisch ist es, dass Europa als eigenständige Friedensmacht auf der internationalen Bühne ernst genommen wird?

Münkler: Was die Europäer zurzeit betreiben, klingt wie das berühmte Pfeifen im Walde. Richtig ist sicherlich, dass wir uns zurzeit in der Phase eines tiefgreifenden Umbaus der Weltordnung befinden. Und die Europäer stehen vor der Frage: Sind wir dabei Objekt dieser Veränderung oder sind wir Subjekt? Wenn man ein Subjekt sein will, dann muss man sich aus der komfortablen Untätigkeit, in der man sich eingerichtet hat, herausbegeben.

Dazu bedarf es mindestens dreier Voraussetzungen, ohne die Europa Objekt bleiben wird: Die Europäer müssen es erstens schaffen, in wissenschaftlich-technologischer Hinsicht eine Spitzenposition zu behaupten. Das ist nicht so ganz einfach, wie sich zurzeit etwa an Fragen der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz zeigt, wo es inzwischen eine peinliche Abhängigkeit von den USA und von China gibt. Für eine strategische Autonomie wäre ein großes Projekt vonnöten, um hier den Anschluss zu bekommen.

Zweitens müssen dazu die Entscheidungsstrukturen innerhalb der EU verändert und die Handlungsfähigkeit verbessert werden. Beispielsweise reichen die europäischen maritimen Kapazitäten keinesfalls aus, vor allem nicht, nachdem sich die Briten verabschiedet haben. Wenn man aber immer die USA braucht, um einen Flottenverband zu leiten, die USA aber ihre eigenen Interessen verfolgen, dann ist man eben nur das Anhängsel der amerikanischen Politik und kann keine eigenen Politikziele entfalten. Um also Friedensmacht sein zu können, müssen die Europäer auch militärische Fähigkeiten, in diesem Beispiel zur See, entwickeln.

Drittens müsste Europa Prosperität und Stabilität in seine Peripherie exportieren. Dazu gehört die gegenüberliegende Mittelmeerküste, also Nordafrika sowie – wenn auch nicht exklusiv – der Nahe Osten.

NG FH: Das führt uns zum Thema Migration. Gefährdet das Flüchtlingsthema die Demokratie unserer Gesellschaften?

Münkler: Ja. Auf der einen Seite ist es natürlich auch eine wunderbare Position Europas, dass die Menschen hierhin wollen und nicht woanders hin, dass Europa also nach wie vor eine erhebliche Strahlkraft hat. Andererseits gibt es natürlich eine Art von konservativem Reflex im Hinblick auf die Frage, ob wir das denn verkraften können und wie wir damit umgehen sollen. Aspekte wie Menschlichkeit und Offenheit, also die emotionale Seite, die 2015 eine große Rolle gespielt hat, nutzt sich eben relativ schnell ab.

Andererseits ist aber auch klar, dass sich Europa tendenziell nicht selbst biologisch reproduzieren kann, somit auf Zuwanderung, also auf soziale Reproduktion, angewiesen ist. Das hat bislang immer ganz gut funktioniert, weil die Zuwanderer aus Süd-, Ost- oder Südosteuropa kamen. Aber auch dort sind die Geburtenraten inzwischen deutlich zurückgegangen. So muss man sich überlegen, wie man das organisieren kann, wenn man nicht wie Japan enden will. Die Schwierigkeit dabei ist, dass hier offenbar die Westeuropäer einen klareren Blick auf die Erfordernisse haben als die Osteuropäer. Dort dominiert die Vorstellung, wenn wir unsere jungen Leute nicht nach Westeuropa abgeben, ist alles gut. Langfristig ist das aber natürlich keine Lösung, weil auch dort immer weniger Menschen geboren werden. Da steckt Europa in der demografischen Klemme.

NG FH: Sie haben in Ihren Büchern darauf hingewiesen, dass die Situation immer dann besonders gefährlich ist, wenn eine Supermacht auf- und eine andere absteigt. China wird immer mächtiger. Stehen wir vor einem neuen Kalten Krieg mit China?

Münkler: Ja, nur würde ich sagen, dass die Auseinandersetzung mit China eine andere sein wird, als das, was man sich in den zurückliegenden Jahrzehnten unter Kaltem Krieg vorgestellt hat, als es noch in den beiden Teilen Deutschlands eine gewaltige Militärkonzentration gab. Heute wird es eher über wirtschaftliche Maßnahmen gehen, vielleicht auch über Angriffe oder Spionage vor allem im Cyberraum. China hat nach wie vor einen großen geopolitischen Nachteil, denn es ist relativ leicht durch die USA vom Zugang zu den Weltmeeren fernzuhalten. Ich denke, dass die chinesische Seidenstraßeninitiative, also der Weg über Zentralasien, ein Versuch ist, diese Verwundbarkeit zu vermindern.

Die Seidenstraße ist inzwischen im Hafen von Piräus angekommen. Die Europäer haben die Entwicklung verpennt und ihre Infiltrierbarkeit durch andere Akteure, wie die USA, China und Russland, unterschätzt. Die Europäer müssen also wieder lernen strategisch zu denken. Das ist sehr schwierig. Ich würde das noch dahingehend zuspitzen, dass wir wieder lernen müssen, dass nicht alle Probleme wesentlich normative Probleme sind und dass Moral in vielerlei Hinsicht eine, wie Odo Marquard das für die Philosophie formuliert hat, Inkompetenzkompensationskompetenz ist: Sie ist für das Gespräch ganz nett, weist aber beim Handeln schnell ihre Grenzen auf.

NG FH: Und wie steht es heute um die Gefahr eines Atomkriegs? Die Situation ist irgendwie komplizierter, unübersichtlicher als zu Zeiten der Blockkonfrontation; ist sie aber auch gefährlicher?

Münkler: Der »Vorteil« des Kalten Krieges, der Bipolarität, war natürlich die Berechenbarkeit. Heute stellt sich erstens die Frage, wie zuverlässig die USA und Trump noch für den europäischen Sicherheitsschutz sind und wie man mit der Initiative von Emmanuel Macron umgeht. Brauchen die Europäer ein eigenes nukleares Standbein?

Der zweite Punkt ist, global betrachtet, das Problem der Proliferation. Wenn der Iran die Atombombe hat, wird Saudi-Arabien sie auch wollen. Auch Nordkorea ist ein Problem; Indien und Pakistan sind es weniger, weil das wieder eine bipolare Konstellation ist und sich beide gegenseitig durch nukleare Geiselnahme in Schach halten.

Das eigentliche Problem hinsichtlich der Proliferation ist das Auftauchen eines Dritten, der nicht in ein solches System wechselseitiger Abschreckung eingebunden ist. Das macht die Sache kompliziert. Heute existieren allenfalls noch 20 % der atomaren Potenziale aus dem Höhepunkt des Kalten Kriegs. Man könnte also meinen, die Gefahr wäre auch nur noch ein Fünftel so groß. Aufgrund der unterschiedlichen Akteure, die inzwischen in diesem Bereich unterwegs sind, und der vielen nachdrängenden Mächte ist diese Sache aber im Gegenteil unüberschaubarer und m. E. auch gefährlicher geworden.

NG FH: Auch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Menschheit nicht vor Kriegen geschützt. Gibt es denn doch so etwas wie einen »gerechten Krieg«?

Münkler: Das Denkkonstrukt des bellum iustum war eines, das gedacht worden ist für einen Akteur, der gute Gründe hat, gute Absichten und der gleichzeitig formal zur Kriegsführung legitimiert ist. So ist das von Cicero bis Thomas von Aquin verhandelt worden. In gewisser Hinsicht war mit der responsibility to protect, also mit der Vorstellung von einer humanitären militärischen Intervention – inzwischen von der Tagesordnung schon fast wieder verschwunden –, die zentrale Frage des gerechten Krieges wieder aufgetaucht. Die Pointe der sogenannten Westfälischen Ordnung, die nach dem Westfälischen Frieden 1648 in Münster verhandelt worden ist, war, dass sie eigentlich auf dem Denken von etwas aufbaute, was die spanischen Völkerrechtslehrer schon vorher gedacht hatten, nämlich dem bellum iustum ex utraque parte, dem von beiden Seiten her gerechten Krieg. Von Mitte des 17. bis ins 20. Jahrhundert baute die europäische Ordnung auf diesem Gedanken auf: Es gibt das Recht des Souveräns zu einer nicht diskriminierten Kriegsführung. Das haben wir aufgegeben, ohne dass in dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 zur Ächtung des Krieges oder in der Charta der Vereinten Nationen von 1945 die Vorstellung des gerechten Krieges aufgetaucht wäre.

Wenn Streitfragen nicht mehr zwischen gleichberechtigten Kontrahenten entschieden werden, dann ist die fast zwangsläufige Konsequenz, dass man einen Dritten benötigt, der gewissermaßen Richter oder Polizist ist. Der gerechte Krieg ist ja eigentlich die Überführung des Krieges in eine große Polizeiaktion. Dieser Traum ist unter der Voraussetzung des Vorhandenseins eines Hüters einer Ordnung erdacht worden. Die USA haben dann in vielerlei Hinsicht diese Rolle auch gespielt, ab und an auch mal die Europäer. Im Nachhinein aber hat man feststellen müssen: Krieg ist eine so komplizierte Geschichte, dass sich das, was am Anfang als Grund und Intention gestanden hat, mit der Zeit verliert und nicht durchhalten lässt. Die Idee des »gerechten Krieges« ist an den Fallstricken ihrer Praktizierung gescheitert. Und natürlich, dass der Intervenierende dabei keine eigenen Interessen haben sollte. Aber warum soll er dann die Opfer und Kosten eines solchen Eingreifens auf sich nehmen?

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