Menü

© kallejipp_photocase.de

Wie die EU vom Sündenbock zum Problemlöser werden kann Europa rehabilitieren

Europa muss sich verändern, um Fortschritt zu erzielen. Das unentschlossene Kreisen über den zahlreichen Konfliktfeldern, das ständige Lavieren von einer Krise zur nächsten hat den Kontinent und seine einmalige Einigungskraft geschwächt. Dieser nicht auf der Höhe befindlichen Gemeinschaft nun einen Großteil des Unmuts, der Ängste und Sorgen um Gegenwart und Zukunft der globalen Gemeinschaft, des Staates, der Wirtschaft, des gesellschaftlichen Zusammenhalts und vieles andere mehr – letztlich vor allem des eigenen Standorts in einer unübersichtlich gewordenen Welt – anzuhängen, ist denkbar einfach. Angesichts einer EU in der Defensive, in der die Europäische Kommission schon mal ein papiernes Rückbauszenario durchspielt, haben es großspurige Pläne für gewaltige institutionelle und kompetenzbezogene Veränderungen leicht.

Sie wollen »mehr« oder »weniger« Europa als universelle Antwort auf die Krisen und Nöte unserer Zeit verwirklichen. Dazu berufen sie sich auf eine Vielzahl miteinander in Konflikt stehender Anschauungen: Europäisierung und Nationalisierung, Markt und Staat, Kosmopolitismus und Kommunitarismus, Liberalismus und Autoritarismus, Kooperation und Rivalität – die widersprüchliche Dialektik des Blicks auf Europa offenbart die »Kraft der komplexen Gesellschaft« (Armin Nassehi). Das aber ist diesem so empfundenen Epochenwechsel nicht neu. In Robert Musils 1913 spielendem Roman Der Mann ohne Eigenschaften versucht der vom Kriegsministerium in die große Parallelaktion entsandte General mit dem schönen Namen Stumm von Bordwehr vergeblich, eine Einheit aus seiner »Bestandsaufnahme des mitteleuropäischen Ideenvorrats« der Beratungen herzustellen: »Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee, so daß Individualismus und Kollektivismus, Nationalismus und Internationalismus, Sozialismus und Kapitalismus, Imperialismus und Pazifismus, Rationalismus und Aberglaube gleich gut darin zu Hause sind, wozu sich noch die unverbrauchten Reste unzähliger anderer Gegensätze von gleichem oder geringerem Gegenwartswert gesellen.«

Die große Parallelaktion – das sind die am Reißbrett entwickelten Pläne, die in Studien und Feuilletons skizzierten Ideen für eine europäische Republik auf der einen Seite und die auf den Marktplätzen von den Populisten geschwungenen Reden und in den Talkshows mit viel Nachdruck vorgetragenen Bekenntnisse für ein Europa der Nationalstaaten auf der anderen Seite. Aus beiden Richtungen wird Europa in die Zange genommen. In beiden Perspektiven ist es immer fünf vor zwölf, der Erregungszustand hoch, der Untergang nahe. Nur, wie Musil schon richtig feststellte, der Gegenwartswert der Anschauungen, auf dem die jeweiligen Gedankengebäude errichtet sind, ist ein sehr geringer. Das große Integrationsrad im Eiltempo nach vorne oder nach hinten zu drehen, geht an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger Europas, an ihren alltäglichen Sorgen und Nöten um zu schlecht bezahlte Jobs, zu hohe Mieten, unsichere Renten und defizitäre Betreuungs- und Bildungseinrichtungen, ziemlich vorbei. Der Schuh drückt heute – einigen ganz gewaltig – durch die missratene Globalisierung, die Formierung von Abstiegsgesellschaften und die politische Plan- und Alternativlosigkeit.

Der hieraus entstehende Unmut, die hieraus erwachsenden Ängste und Sorgen werden vom gedanklichen Bau neuer Pyramiden – weder einer postnationalen Bundesrepublik Europa noch (und das schon einmal gar nicht) einem autark-souveränen Nationalstaat – nicht nachhaltig und im Hier und Jetzt aufgegriffen werden können.

Kult um den Markt

Das wachsende Unbehagen – durch den Verdruss über die Globalisierung, den Verlust des Aufstiegsversprechens und die Politik der Postdemokratie – lässt sich auf einen in den 80er Jahren in den USA und in Großbritannien begonnenen, sich in ganz Europa verbreiteten und intensivierten Kult um den Markt und seine angeblichen Selbstregulierungskräfte zurückführen. Der Marktglaube ist zu einer mächtigen Religion geworden. Der dienende Charakter der Märkte für die Gesellschaft ist längst zu einem Selbstzweck des marktlichen Wettbewerbs mutiert, der gesellschaftliche Anforderungen hintanstellt. Und die Politik steht belämmert daneben. Gruppenweise wird die noch ungenügende Liberalisierung beklagt, auf die Wohlstandsdividende angebotsorientierter Reformen gehofft, oft inkonsistente Reparaturvorschläge unterbreitet, Aktionismus ohne echte Änderungsbereitschaft inszeniert, vergangene Zeiten glorifiziert, oder schlicht im enger werdenden Bewegungsraum vor sich hin gewurstelt. Dabei könnte die Wende von der Marktgläubigkeit zur Politikgestaltung durchaus gelingen – und zwar nicht gegen, sondern mit der Hilfe Europas. Denn die zentralen Konfliktfelder der EU sind ebenfalls vom Antagonismus zwischen Markt und Politik geprägt. Hier liegt der erste Ansatzpunkt für einen Pfadwechsel, der Europa und seine Bürgerinnen und Bürger weg vom Abgrund führt:

Erstens: neuer Schwung für das alte Europa. Mit dem »Weiter so« des Merkelschen Ad-hoc-Krisenmodus geht es nicht voran. In der EU müssen die Mitgliedstaaten das Durchlavieren aufgeben und die Konflikte beseitigen. Dafür braucht es keine radikale Neuverteilung der Kompetenzen in der Union. Ihre Staatswerdung steht ebenso wenig auf der Agenda wie ihre partielle oder gar vollständige Abwicklung. Die Illusion eines Zurück zum Nationalstaat der 60er Jahre zerplatzt an seiner Unvereinbarkeit mit der Moderne und seiner Hilflosigkeit gegenüber globalen Problemen. Ein kleiner, sachdienlicher Fortschritt nach der bewährten, zu Unrecht geschmähten »Méthode Monnet« ist heute zukunftsweisender für die Integration als der Verbleib im Status quo und realistischer als die Großvisionen eines neuen Europas.

Zweitens: Wirtschafts- und Währungsunion vollenden. Als Stabilitätsunion ohne Korrekturen an ihrer Maastrichter Architektur ist die Eurozone zum dauerhaften Krisenmodus oder zum Scheitern verurteilt. Ihr Umbau zu einer Fiskalunion erfordert drei unabdingbare Instrumente: (1) einen europäischen Stabilisator zur Bekämpfung asymmetrischer Schocks – zum Beispiel eine europäische Arbeitslosenversicherung; (2) Garantien der geteilten Risikoübernahme im Krisenfall – in Form der vollständig umgesetzten Bankenunion und einer Gemeinschaftsanleihe; (3) die frühzeitige Verhinderung makroökonomischer Ungleichentwicklungen durch einen neuen Makrodialog als Europäische Wirtschaftsregierung.

Drittens: das europäische Sozialmodell verteidigen. Im derzeitigen Wettbewerb der Wohlfahrtsstaaten um niedrige Löhne, Steuern und Sozialabgaben werden nicht nur die nationalen Systeme geschädigt: Die EU schleift mit den hohen sozialen Standards eines ihrer wichtigsten und spezifischsten Besitztümer. Die Asymmetrie der europäischen Integration kann behoben werden, indem die Europäische Säule sozialer Rechte in einem Sozialprotokoll Vertragsrang erhält und so den Binnenmarktfreiheiten gleichgestellt wird. Die Ergänzung der jährlichen Koordinierung der Wirtschaftspolitiken im Europäischen Semester durch soziale, beschäftigungs- und bildungspolitische Aspekte muss durch Mindeststandards und Zielwerte an Verbindlichkeit gewinnen, die den nationalen Entwicklungen Rechnung tragen. Dies ist zum Beispiel durch eine Mindestlohnnorm bei 60 % des jeweiligen Medianlohns umsetzbar. In der Eurozone ist der Fokus auf Haushaltspolitiken mit einem sozialen Stabilitätspakt zu balancieren, dessen Verletzung ein soziales Ungleichgewichtsverfahren ermöglicht.

Viertens: Integration mit einer europäischen Investitionsagenda erleichtern. Über Dringlichkeitslösungen hinaus wird es heute keinen Konsens in der EU für ein System zur Umverteilung von Asylbewerberinnen und -bewerbern geben. Dagegen muss das gemeinsame Interesse an einem europäischen Außengrenzschutz genutzt werden, um dessen Inhalte über die reine Grenzsicherung hinaus auszubauen und die Asylstandards der Mitgliedstaaten einander anzunähern. Zugleich sollten legale Wege für hochqualifizierte Arbeitsmigrantinnen und -migranten nach Europa eröffnet werden, an denen Staaten mit Fachkräftemangel interessiert sind – ihre Auswahl und Quotierung sollte Aufgabe der Europäischen Arbeitsagentur werden. Noch wichtiger als der Aufbau einer europäischen Migrationspolitik ist die langfristige Aufgabe einer gelingenden Integration. Diese ist inklusiv für alle – neue wie alte – Gesellschaftsmitglieder auszugestalten und könnte von der EU durch Investitionsgelder zum Ausbau der kommunalen Infrastruktur unterstützt werden.

Fünftens: Europa gestaltet die Globalisierung. Die EU ist das falsche Feindbild, wenn ihre Krisenhaftigkeit und Entscheidungsschwäche beklagt und Globalisierungsverdruss, Abstiegsangst und Zukunftssorgen bei ihr abgeladen werden. Es waren die Mitgliedstaaten, die mit nationaler Deregulierung und marktschaffenden europäischen Verträgen der marktliberalen Dominanz das Tor aufgestoßen haben. Sie können es allein nur dann wieder schließen, wenn Europa ihnen durch einen regulierenden Rahmen Schützenhilfe leistet. Sind die eigenen Krisen überwunden, ist mehr vorstellbar: von der Finanzmarktregulierung über die Setzung von Arbeits-, Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards in Handelsabkommen bis zur Gestaltung einer multilateralen Weltordnung. Globale Risiken sind Scheinriesen, wenn ihnen ein entschlossenes gemeinschaftliches Handeln begegnet.

Pfadwechsel ist möglich

Wo aber soll mit dem hier skizzierten Programm politisch begonnen werden? Die Europawahlen 2019 und die anschließende Legislaturperiode bis 2024 bieten ein Diskursfenster für den Pfadwechsel zu »weniger Markt und mehr Politik« in Europa. Doch spielt angesichts der zahlreichen Gegensätze und Spaltungstendenzen quer über den Kontinent die tradierte Unterscheidung zwischen rechts und links überhaupt noch eine Rolle im Wahlkampf? Oder ist sie – wie häufig zu hören ist – obsolet geworden in einer globalisierten Welt? Dies wäre ein vorschneller Schluss, geboren aus dem Unvermögen des adäquaten Umgangs der Parteien mit wirtschaftlicher Globalisierung und internationaler gegenseitiger Abhängigkeit. Das Argument, im Streit um transnationale bzw. nationale Gestaltungskapazitäten hätten die alten politischen Schemata ausgedient, erinnert an das Verdikt des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder Ende der 90er Jahre, es gebe keine linke oder rechte, sondern nur gute oder schlechte Wirtschaftspolitik. An dieser Fehleinschätzung knabbert die SPD heute noch. Die Angleichung der wirtschaftspolitischen Positionen zwischen liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Parteien überall in Europa war kein Erfolgsprojekt. Der Abstieg der Volksparteien und der Aufstieg der Rechtspopulisten sind letztlich auch aus der volkswirtschaftlichen Entleerung des politischen Diskurses zugunsten des marktliberalen TINA-Prinzips (»there is no alternative«) zu erklären.

Rechts und links existieren nach wie vor als Kategorien. Sie zerfallen in der Vertretung europapolitischer Interessen aber im rechten Spektrum in zwei Subgruppen – die konservativen und liberalen Befürworter des Status quo und die rechtspopulistischen Vertreter eines Rückbaus der Integration. Auf der linken Seite des politischen Spektrums ist die dauerhafte Spaltung in Europafragen noch nicht ausgemacht: In grünen, sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien finden sich Strömungen für die Beibehaltung des Status quo, für eine Stärkung des Nationalstaats und für eine marktgestaltende Integration mit Ausbildung eines Europäischen Sozialmodells. Diese letzte Gruppe stellt die Mehrheitsposition. Ihr muss es gelingen, die Linke für das Projekt Europas als politische Gestaltungskapazität zu einen. Der Politikwissenschaftler Claus Offe fasste dieses Projekt bereits vor wenigen Jahren wie folgt zusammen: »Aus dieser eher ›linken‹ Perspektive ist die EU ihrem Anspruch nach ein ›soziales‹ Europa und muss zu einem solchen gemacht werden, d. h. zu einer politischen Gemeinschaft, die nicht nur Austragungsort eines entfesselten Wettbewerbs und unbeschränkter Faktormobilität ist, sondern ebenso ein Ort, an dem die Verlierer dieses Wettbewerbs sozial geschützt und vorsorgend in die Lage versetzt werden, den Anforderungen dieses Wettbewerbs zu genügen.«

Ist das, was hier vorgeschlagen wird, letztlich ein Aufruf zum Klassenkampf? Nein, es geht um keinen revolutionären, sondern um einen reformistischen Ansatz, um die graduelle – Méthode Monnet! – Transformation des marktlichen Übergewichts in politisch regulierte Bahnen. Der Soziologe Gøsta Esping-Andersen nannte sein Programm zur Festigung sozialdemokratischer Stärke in den skandinavischen Ländern der 80er Jahre »Politics against Markets«. Dieses Diktum trifft heute noch mehr zu als damals, wurde doch seitdem die Reihenfolge umgekehrt und die Märkte gegen die Politik in Stellung gebracht. Zeitgemäß müsste die Losung heute »European Politics against global Markets« heißen.

Der Streit um die Umsetzung dieses Anliegens, und nicht die triviale Unterscheidung zwischen »mehr« oder »weniger« Europa sollte den Europawahlkampf 2019 prägen. Europa ist nicht das Problem, Europa ist die Lösung. Rehabilitiert es!

(Auszug aus dem Buch »Weniger Markt, mehr Politik. Europa rehabilitieren«. Kürzlich erschienen bei J. H. W. Dietz Nachf., Bonn, 264 S., 18 €.)

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben