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Drei neue Bücher verraten Wege aus der Eurokrise Europa zwischen Depression und Erneuerung

Europa steckt in einer existenziellen Krise. Seit der großen Finanzkrise lahmt die Wirtschaft. Rund 19 Millionen Europäer haben keine Arbeit. In vielen europäischen Ländern sinken die Reallöhne. Von Riga bis Lissabon wächst die Armut und die soziale Ungleichheit. Das gebrochene Wohlstandsversprechen gefährdet den Zusammenhalt Europas. Das gilt für die Europäische Union ebenso wie für die Eurozone.

Im europäischen Haus streiten die Nachbarn. In der Eurokrise konnten sich die betroffenen Staaten auf kein gemeinsames Krisenmanagement einigen. Eine schlecht durchgeführte Bankenrettung, die Austeritätspolitik und ökonomisch schädliche Schuldenregeln (Stichworte: Sixpack, Twopack, Fiskalpakt, Europäisches Semester) verschärften die wirtschaftliche und soziale Lage. Auf die große humanitäre Herausforderung der Flüchtlingskrise konnte Brüssel keine europäische Antwort geben. Dieses europäische Politikversagen verhilft dem Nationalismus zu einer Renaissance. In Frankreich, Österreich, Polen, Ungarn und den Niederlanden sind die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. In Großbritannien konnte die neurechte UKIP die konservativen Tories dazu drängen, die Scheidung von der EU einzureichen. Europa steht am Scheideweg, sein Scheitern ist ein realistisches Szenario.

Da ist guter Rat teuer. Inzwischen füllen die Krisenanalysen und Reformvorschläge ganze Bücherregale. Drei aktuelle Publikationen vermitteln jedoch einen guten Überblick über den Stand der europapolitischen Debatte innerhalb der sozialdemokratischen und sozialistischen Linken.

Da wäre zunächst der von Alexander Schellinger und Philipp Steinberg herausgegebene Sammelband Die Zukunft der Eurozone. Viele dort schreibende Wissenschaftler und politische Praktiker kommen aus dem Umfeld des ehemaligen Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Das zweite Buch heißt Europa geht auch solidarisch. Diese europapolitische Streitschrift stammt von Klaus Busch, Axel Troost, Gesine Schwan, Frank Bsirske, Joachim Bischoff, Mechthild Schrooten und Harald Wolf, prominente Vertreter der Gewerkschaften, der SPD, der Partei DIE LINKE und der alternativen Wirtschaftswissenschaft. Das dritte Buch ist der von Mario Candeias und Alex Demirović herausgegebene Sammelband: Europe – what’s left? Hier schreiben viele Wissenschaftler und politische Praktiker aus dem Umfeld der Partei DIE LINKE und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ursachen der Krise

Alexander Schellinger und Philipp Steinberg begreifen die Eurokrise als eine ökonomische, soziale und politische Krise. In ihrem Sammelband beschreiben die Ökonomen Henrik Enderlein und Michael Dauderstädt, wie die Eurostaaten wirtschaftlich und sozial auseinanderdriften. Im gemeinsamen Währungsraum ist es nicht gelungen, Wachstum, Beschäftigung, Löhne und Preise anzugleichen. Es herrscht Divergenz statt Konvergenz. Länder mit niedrigen Inflationsraten wie Deutschland, Österreich und die Niederlande profitierten von einem unterbewerteten Euro. Ihre internationale preisliche Wettbewerbsfähigkeit wuchs. Für Länder mit hohen Inflationsraten wie Griechenland, Portugal oder Spanien galt das Gegenteil.

Die Autoren aller drei hier besprochenen Bücher sind sich einig, dass die ökonomische und soziale Spaltung des Währungsraums durch zentrale Konstruktionsfehler der Eurozone verursacht wurde. Eine Währungsunion ist ohne politische Union nicht funktionsfähig. In der Eurozone stehen der gemeinsamen Geldpolitik nur nationale Finanzpolitiken mit beschränktem Handlungsspielraum gegenüber. Die Geldpolitik kann nicht dazu beitragen, die unterschiedlichen nationalen Konjunkturverläufe anzugleichen. Die europäischen Währungswächter müssen ihre Zinspolitik an der durchschnittlichen Inflationsrate der Eurozone orientieren. Folglich ist der Realzins für die einen zu hoch und für die anderen zu niedrig. In Südeuropa entfachte der niedrige Realzins einen Kredit- und Immobilienboom. In Nordeuropa bremste der hohe Realzins Wachstum und Beschäftigung.

Doch damit nicht genug. Die Brüsseler Schuldenregeln haben die fiskalpolitische Autonomie der Nationalstaaten stark eingeschränkt. Eine den Konjunkturschwankungen angemessene antizyklische Fiskalpolitik ist kaum mehr möglich. In der großen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise wurde der Kollaps der Nachfrage nicht durch eine expansive Fiskalpolitik – im Gegensatz zu den USA – bekämpft. Die dogmatische Schuldenbekämpfung verhindert bis heute, dass Eurostaaten mithilfe höherer Investitionen Wachstum und Beschäftigung ankurbeln können.

Bei Busch et al. und Candeias/Demirović wird darüber hinaus die Bedeutung der Lohnentwicklung für die Eurokrise herausgearbeitet. Die nationalen Löhne und nominalen Lohnstückkosten entwickelten sich seit Euroeinführung in unterschiedliche Richtungen. Dies beförderte ebenso wie die unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen, Immobilien- und Energiepreise sowie eine unzureichende Koordination der Wirtschaftpolitiken die Entstehung außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte. Die Zerstörung der europäischen Tarifsysteme hat die Durchsetzungsmacht der europäischen Gewerkschaften massiv geschwächt. Das was diese heute aushandeln, kommt im Schnitt bei nur noch 60 % der Beschäftigten an. Viele Arbeitnehmervertretungen können die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung in ihren Ländern nicht mehr steuern. Mit fatalen Folgen: Nach der Finanzmarktkrise kamen die europäischen Löhne kaum vom Fleck. Zwischen 2010 und 2016 stiegen die Reallöhne in der EU nur noch um 4,7 %. In elf von 28 EU-Mitgliedsstaaten sanken die preisbereinigten Löhne. Darunter befanden sich volkswirtschaftliche Schwergewichte wie Italien und Spanien. In dem Sammelband von Schellinger und Steinberg wird diese zentrale strukturelle Krisenursache leider unterbelichtet.

Macht und Interessen

Die Wirtschaftseliten besitzen gegenwärtig keine erfolgreiche Strategie, um die Krise der europäischen Integration und der Eurozone zu überwinden. Im Sammelband von Candeias/Demirović analysieren u. a. Frank Deppe und Thomas Sablowski die unterschiedlichen Interessenlagen der Kapitalfraktionen. In Die Zukunft der Eurozone setzen sich Mark Schieritz, Björn Hacker und Cédric M. Koch mit den Interessen und Strategien der Eliten auseinander.

Aus Sicht Sablowskis wurzelt die europäische Integration in der Internationalisierung des Kapitals. Die Triebkräfte der europäischen Integration sind zugleich die Triebkräfte der europäischen Desintegration. Aktuell verlieren die kapitalistischen Zentren Europas durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und Südostasiens an Bedeutung. Die führenden europäischen Volkswirtschaften investieren immer mehr in Länder außerhalb der Eurozone. Gleiches gilt für den Handel. Die relative Bedeutung des europäischen Binnenmarktes und der Eurozone nimmt ab. In Südeuropa hat sich die Lage aufgrund der zunehmenden osteuropäischen und asiatischen Konkurrenz verschlechtert. Inzwischen sind ganze Produktionszweige abgewandert. Deutschland, das an der Spitze der hierarchischen Arbeitsteilung der EU steht, konnte hingegen seine Industrie und somit auch seine wirtschaftliche Vormachtstellung stärken. Diese Tendenz der ungleichen Entwicklung und der Marginalisierung der Peripherie wird sich fortsetzen.

Hierzulande halten die großen Wirtschaftsverbände (BDI, BDA) an der EU fest. Sie brauchen die Union als starken geopolitischen Akteur in der Auseinandersetzung mit den USA, China, Japan und Russland. In den EU-Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen – Deutschland, Niederlande, Österreich etc. – sind die exportorientierten Großunternehmen weiterhin auf einen gemeinsamen Binnenmarkt und einen unterbewerteten Euro angewiesen. Viele kleine und mittlere Unternehmen und deren Verbände rebellieren hingegen gegen die gemeinsame Währung. Sie wollen nicht die Kosten und die Haftung für die Rettungspakete übernehmen und befürchten eine Entwertung ihrer Ersparnisse infolge der EZB-Niedrigzinspolitik. Diese Besonderheit der deutschen wirtschaftspolitischen Debatte ist nach Auffassung von Mark Schieritz der besonderen deutschen Wirtschaftsstruktur (hoher Ersparnisüberschuss) geschuldet.

Brandgefährlich ist die breite Unterstützung der Wirtschaftseliten für einen neoliberalen Politikentwurf. Das Festhalten an einer einseitigen Exportorientierung wird die Ungleichgewichte weiter verschärfen. Die ökonomisch schädlichen Sparmaßnahmen in den Krisenländern drosseln das Wirtschaftswachstum und erhöhen die Arbeitslosigkeit. Die Zerschlagung der europäischen Tariflandschaft führt zu massiven Einkommens- und Nachfrageverlusten. Der damit einhergehende Anstieg der sozialen Ungleichheit untergräbt die gesellschaftliche Akzeptanz der europäischen Integration. Nach Auffassung von Hacker und Koch spiegelt die wachsende Attraktivität des Lagers der EU- und Euro-Rückbaubefürworter die politische Brisanz der aktuellen Situation wider.

Wege aus der Krise

Die Autoren der drei Bücher unterbreiten umfangreiche Reformvorschläge, um die Krise zu überwinden. Alexander Schellinger und Philipp Steinberg wollen die Eurozone zu einem integralen Bestandteil der EU weiterentwickeln. Dafür wird zunächst eine schrittweise Veränderung der Architektur der Eurozone vorgeschlagen. Zunächst soll der Binnenmarkt – insbesondere hinsichtlich der Dienstleistungen – weiterentwickelt werden. Zudem sollen mit einem Europäischen Fonds für strategische Investitionen Modernisierungsinvestitionen mobilisiert werden. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt soll reformiert und ein Eurozonenbudget mit neuen Haushaltsmitteln eingeführt werden. Weitergehende Reformvorschläge gehen in Richtung Fiskalunion. Diese könnte ein Eurozonenbudget, ein neues wirtschaftspolitisches Regelwerk, ein Schuldenrestrukturierungsregime und Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Kohäsion – z. B. ein europäisches Kurzarbeitergeld – umfassen. Ein solches Reformszenario würde jedoch Vertragsänderungen erfordern.

Die meisten dieser sehr pragmatischen Vorschläge laufen auf eine Stärkung der europäischen Investitionstätigkeit hinaus. Das ist zu begrüßen. Auffällig ist jedoch, dass viele Autoren des Sammelbandes kein Wort zur notwendigen Reform der Arbeitsmarktinstitutionen verlieren. Maßnahmen zur Stärkung der europäischen Tarifsysteme oder europäische Regeln für Mindestlöhne werden nicht thematisiert. Im Gegenteil: Die Forderung nach einem Abbau der Handelshemmnisse für Dienstleistungen würde die Lohn- und Arbeitsbedingungen vieler Beschäftigten der Daseinsvorsorge dramatisch verschlechtern.

Klaus Busch et al. plädieren für eine radikale Reform der Eurozone. Sie fordern eine neue europäische Wirtschaftspolitik, eine Ausgleichsunion, eine gemeinsame Schuldenpolitik, eine europäische Regulierung der Sozialpolitiken, eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte und eine demokratische europäische Wirtschaftsregierung.

Die neue Wirtschaftspolitik soll aus einer expansiven europäischen Fiskalpolitik und einem europäischen Investitionsprogramm bestehen. Die Fesseln der Schuldenregeln des Vertrags von Maastricht und des Wachstums- und Stabilitätspaktes sollen abgelegt werden. Stattdessen soll es künftig Zielindikatoren für ein hohes Beschäftigungsniveau, gute Arbeit, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht etc. geben. Eine europäische Wirtschaftsregierung soll künftig die Eckdaten der nationalen Staatshaushalte festlegen und so eine expansive Fiskalpolitik durchsetzen. Im Rahmen einer europäischen Sozialunion sollen künftig Fehlentwicklungen bei Löhnen und Einkommen verhindert werden. Zu diesem Zweck sollen die nationalen Tarifsysteme gestärkt und europäische Regeln für nationale Mindestlöhne entwickelt werden. Auf dieser Grundlage soll eine Koordinierung der nationalen Lohnpolitiken angestrebt werden.

Die Reformvorschläge dieser Streitschrift sind sehr weitgehend. Für eine kurz- bis mittelfristige Umsetzung gibt es aktuell aber keine politischen Mehrheiten. Die Autoren sind aber der Auffassung, dass Europa nur überleben kann, wenn es gelingt, einen Diskurs um die beste Vision für die Zukunft Europas zu führen. Die Streitschrift ist dafür ein guter Impuls.

Einige Autoren des Sammelbandes von Candeias und Demirović sind der Auffassung, dass die Eurozone nicht von innen reformierbar sei. Die vertraglich verankerte neoliberale Integrationsweise ließe sich aus ihrer Sicht nicht sozial und demokratisch reformieren. Auch könnten einzelne Eurostaaten – z. B. Griechenland – angeblich nicht mit dem Neoliberalismus brechen. Folglich sei ein Austritt aus der Währungsunion eine notwendige Bedingung für die Realisierung linker Politik. Diese Sichtweise unterschätzt die dramatischen ökonomischen und sozialen Anpassungsprobleme im Fall eines Austritts. Die Gläubigerländer hätten zunächst mit einer massiven Aufwertung zu kämpfen und müssten hohe Wachstums- und Beschäftigungsverluste hinnehmen. Die Schuldnerländer, deren Währungen abgewertet würden, hätten mit steigenden Zinsen und Schulden zu rechnen. Eine Zins- und Schuldenfalle wäre die unmittelbare Folge. Dies würde eine Sparpolitik der öffentlichen Haushalte erzwingen, mit den bekannten negativen wirtschaftlichen Konsequenzen. Was das politisch bedeutet liegt auf der Hand. Doch unabhängig von dieser Bewertung lohnt eine Lektüre des Sammelbandes.

Klaus Busch/Axel Troost/Gesine Schwan/Frank Bsirske/Joachim Bischoff/Harald Wolf: Europa geht auch solidarisch! Streitschrift für eine andere Europäische Union. VSA, Hamburg 2016, 88 S., 7,50 €. – Mario Candeias/Alex Demirović (Hg.): Europe – what’s left? Die europäische Union zwischen Zerfall, Autoritarismus und demokratischer Erneuerung. Westfälisches Dampfboot, Münster 2017, 343 S., 33 €. – Alexander Schellinger/Philipp Steinberg (Hg.): Die Zukunft der Eurozone. Wie wir den Euro retten und Europa zusammenhalten. transcript, Bielefeld 2016, 222 S., 19,99 €.

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