Von einer Krise des europäischen Einigungsprozesses ist nicht erst die Rede, seit die Volksabstimmung in Großbritannien 2016 die Tragikomödie des Brexit eingeleitet hat. Bereits 2015 trieb die Migrations- und Fluchtwelle aus dem globalen Süden die Mitgliedstaaten auseinander, und Jahre davor war der Euro in eine schwierige Lage geraten, hauptsächlich als Resultat der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 und der unterschiedlichen Reaktionen der Mitgliedstaaten darauf. Im Folgenden sollen die Substanz des europäischen Projekts, seine Chancen und seine Gefährdung indessen von einer anderen Seite beleuchtet werden.
Identität, verstanden als das subjektive Gefühl sozialer Zugehörigkeit, innerer Stimmigkeit und biografischer Kontinuität, ist eine Grundkategorie der Humanwissenschaften, namentlich der Psychologie. Nicht unumstritten ist der Begriff der »kollektiven Identität« von Sozialgruppen, insbesondere solchen ethnischen bzw. nationalen Charakters, doch halten ihn die meisten Autoren für unverzichtbar und sehen durch ihn ein elementares Konstruktionsprinzip auch moderner Gesellschaften beschrieben. Das Bewusstsein bzw. die Empfindung wesentlicher Gemeinsamkeiten entsteht in einem Prozess der Vergemeinschaftung durch (alltägliche) Kommunikation, politisch-gesellschaftliche Erfahrung und Erinnerung. Letztere nicht nur notwendigerweise selektiv, sondern auch durchwoben von (günstigenfalls emanzipatorischen) Mythen.
Kollektive Identitäten sind nichts Statisches, vielmehr einem ständigen Wandel unterworfen, der dem sozialen Wandel folgt. Im Hinblick auf das entstehende vereinigte Europa liegt der höhere Abstraktionsgrad eines eventuellen Identitätsbewusstseins auf der Hand, da die enge historische und kulturelle Verbundenheit der Nation, in der Regel auch über eine gemeinsame Hochsprache und unter Umständen die Vorstellung gemeinsamer Abstammung, fehlt. Die kulturelle Vielfalt, die Differenz, kann geradezu als ein zentrales Wesensmerkmal Europas bezeichnet werden, das die Europäische Union ausdrücklich der Erhaltung und des Schutzes für wert erachtet, ja darin eine ihrer Bestimmungen sieht.
Ein anderer Zugang zum Problem der europäischen Identität eröffnet sich, wenn auf die inzwischen erreichte Dichte der wirtschaftlich-sozialen Verflechtung und entsprechender Kommunikationsbeziehungen jedenfalls West- und Westmitteleuropas (mit zunehmender Einbeziehung Ostmitteleuropas) abgehoben wird; diese machen es plausibel, von der Existenz einer europäischen Gesellschaft zu sprechen, die sich seit dem späten 19. und namentlich seit dem mittleren 20. Jahrhundert herausgebildet hat, während eine europäische Öffentlichkeit und ein europäischer Demos offenkundig erst ansatzweise existieren.
Um die Einstellungen der Bürger der EU-Staaten zu Europa, ihre emotionale Unterstützung des Einigungsprozesses zu untersuchen, sind im »Eurobarometer« seit Jahrzehnten breit gefächerte Befragungen durchgeführt worden. Als in der zweiten Hälfte der 70er Jahre alternativ nach dem vorrangigen Zugehörigkeitsempfinden zur Gemeinde oder Stadt, zur Region, zum Land, zu Europa und zur Welt gefragt wurde, wiesen die Muster der Antworten europaweit keine großen Unterschiede auf. 1990 lag – wie 10, 15 Jahre zuvor – die lokale Einheit durchweg an erster Stelle, an zweiter das Land (in Deutschland die Region). Europa gelangte nirgendwo in den prozentual zweistelligen Bereich; meist wurden keine 5 % erreicht, während das Vaterland zu durchschnittlich knapp 30 % präferiert wurde.
Daneben hatte man nach 1979 aber das Frageformat geändert, weil die europäische Identität in der Regel offenbar nur in Verbindung mit der jeweiligen nationalen Identität vorkam. Denn es hatte sich gezeigt, dass nicht Europa und die Nation in der Wertigkeit konkurrierten, sondern der beschränkte lokale Horizont mit dem weiteren, der schon im Nationalstaat und umso mehr im europäischen Verbund einen abstrakteren Zugang zu gesellschaftlichen Problemen verlangte.
Auch in den folgenden Eurobarometern bestätigte sich, dass – mit erheblichen, die Kernaussage aber nicht berührenden Unterschieden von Land zu Land und bei kurzfristigen, eher konjunkturellen Schwankungen – sich nur etwa ein Zehntel der Befragten Europa allein oder hauptsächlich zugehörig fühlt. Rechnet man diejenigen hinzu, die die nationale Verbundenheit zwar an die erste Stelle setzen, sich aber zugleich als EU-Bürger verstehen, ist immerhin eine Größenordnung europafreundlicher Stimmen zwischen der Hälfte und zwei Dritteln zu vermelden. Eine ausschließliche Nationalidentifikation artikulieren immer noch zwei Fünftel. Trotz der somit nicht nur theoretisch denkbaren, sondern auch empirisch messbaren Vereinbarkeit von europäischer und nationaler Selbstidentifikation ist dieses Verhältnis bekanntlich politisch höchst brisant.
Geschichts- und gesellschaftswissenschaftliche Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten heben darauf ab, dass Nationen gedanklich konstruiert, wie es teilweise heißt: erfunden werden. Solche »Erfindungen« funktionieren selbstverständlich nicht völlig willkürlich, sondern sind an das Vorhandensein gewisser kultureller und sozialer Voraussetzungen gebunden. Hier reicht es festzustellen, dass die »Nation« jedenfalls keine natürliche, etwa seit vorgeschichtlicher Zeit und bis in alle Ewigkeit existierende Erscheinung ist. Sie ist vielmehr eine historisch – und das heißt konkret: insbesondere im Zusammenhang mit der Herausbildung der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert, namentlich mit der Verdichtung der damit verbundenen sozialen Kommunikation – entstandene soziale Erscheinung. Die üblicherweise angeführten ethnisch-muttersprachlichen und historisch-kulturellen Merkmale bilden dazu das typische Rohmaterial. Die Nationwerdung ist also ein dynamischer gesellschaftlicher Vorgang. Dabei sollte man nicht übersehen, dass auch die in der Regel ursprünglichere Ausformung des »Volkes« im ethnischen Sinn des Wortes, die sogenannte Ethnogenese, weniger biologisch als historisch-gesellschaftlich zu verstehen ist.
Ein tendenziell demokratisches, »westliches« Verständnis von Nation, das von Staatsbürgerschaft, Verfassung und Partizipation ausgeht, wird bis heute einem ethnischen, »deutschen« (wie auch osteuropäischen) Nationsverständnis, das durch Muttersprache, »Volksgeist« und Abstammung definiert sei, gegenübergestellt. Ohne die Plausibilität einer solchen polarisierenden Konzeption gänzlich zu bestreiten, sind doch beträchtliche Relativierungen anzubringen. So ging das ethno-nationale Denken der deutschen Nationalbewegung (und das der anderen Völker ohne eigenen oder einheitlichen Staat) im größeren Teil des 19. Jahrhunderts in der Regel mit den liberalen Verfassungsbestrebungen bzw. demokratischen Forderungen der Zeit Hand in Hand. Umgekehrt enthielt der meist als paradigmatisch bezeichnete französische Nationalpatriotismus untergründig ebenfalls Elemente eines sprachlich-kulturellen Nationsgedankens. Dieser verlieh der Dritten Republik (1870–1940) wohl erst die populäre Verankerung, um den wiederholten rechtsnationalistischen Herausforderungen, etwa in der Dreyfus-Affäre, erfolgreich Paroli zu bieten.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben wir es mit einem ganz neuartigen Ansatz zu tun, bei dem unabhängige Staaten in relativer Gleichberechtigung und gegenseitiger Übereinstimmung daran gehen, eine übergeordnete institutionelle Ordnung zu schaffen, der sie schrittweise größer werdende Teile ihrer wesentlichen Kompetenzbereiche überlassen bzw. bewusst abtreten. Obwohl hauptsächlich ein Projekt von Eliten, haben die Völker Europas die Einigung in der Grundtendenz mitgetragen. Gewiss geschahen die ersten Schritte unter dem Eindruck des gerade überstandenen Weltkriegs und beeinflusst von der amerikanischen Blockbildungsstrategie im Kalten Krieg, doch zwingend war der Weg von der Montanunion über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die EG bis zur EU heutigen Zuschnitts nicht. Es handelt sich um einen Vorgang ohne historisches Beispiel.
Gibt es so etwas wie einen realen Kern für ein europäisches Identitätsbewusstsein? Auch wenn weitgehende Einigkeit besteht, dass »Europa« (außer in der physischen Geografie) keinen eindeutig definierbaren Raum beschreibt und deshalb sinnvoll nur als Kulturbegriff verstanden werden kann, existiert mit der EU heute eine politische Struktur und ein Territorium, die – anders als die frühe Sechsergemeinschaft – Europa annähernd ausmachen. Abgesehen von den ostslawischen Staaten Russland, Ukraine und Weißrussland sowie der Türkei, wo die Zugehörigkeit jeweils problematisch ist, und Großbritannien, das sich für einen eigenen Weg entschieden hat, sind die (noch) nicht der EU angehörenden Länder Europas auf die Union orientiert, entweder als Beitrittswillige oder als Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums.
Um den Charakter der »Europäischen Verfassung« im weiteren Sinn des Wortes zu beschreiben, werden verschiedene Ausdrücke verwendet, die alle das »sui generis«, das ganz Besondere zu beschreiben versuchen, handelt es sich bei der EU doch zweifellos um ein Gebilde, dessen Dichte in mancher Hinsicht schon weit über die eines klassischen Staatenbundes hinausreicht, ohne ein Bundesstaat ähnlich den USA zu sein und sein zu wollen – jedenfalls auf absehbare Zeit. Dazu kommt, dass die EU über verschiedene Formen engerer Kooperation ihre Abgrenzung nach außen flexibel, an den geografischen Rändern offen gestaltet.
Für einen Historiker liegt es nahe, nach den geschichtlichen Wurzeln des spezifisch Europäischen zu fragen. Dabei geht es nicht darum, eine Meistererzählung analog denen zu konstruieren, die im 19. Jahrhundert die Nationsbildungsprozesse begleiteten. Vielmehr sind die Diskontinuitäten und die mörderische Gewalt auch der europäischen Geschichte bewusst einzubeziehen, vor allem die Zivilisationsbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Exzessen des Imperialismus und Nationalismus, den totalitären Weltanschauungsdiktaturen und den beiden großen Kriegen mit dem Völkermord an den Juden als grauenvollen Höhepunkt.
Die Schoah wird heute mehr und mehr als ein – in zweiter Linie eben auch – gesamteuropäischer Vorgang analysiert und erinnert, ebenso das Phänomen des Heimatverlusts von 60–80 Millionen Menschen im »Jahrhundert der Vertreibungen«, beginnend mit den Armeniern im Osmanischen Reich und den anatolischen Griechen während des Ersten Weltkriegs bzw. in dessen Gefolge. Obwohl die Auseinandersetzung mit der dunklen Seite der Geschichte Europas nicht durchweg auf gemeinsamen, sondern auf großenteils grundverschiedenen Erinnerungen beruht, entfaltet sich in der Verschränkung von trennenden und verbindenden Elementen inzwischen eine Dynamik an historischer Aufarbeitung, die teilweise eher integrierend wirkt.
Hier soll indessen hauptsächlich argumentiert werden, dass neben der schwarzen Linie von Unterdrückung und Massakern eine geschichtliche Substanz existiert, die die Besonderheit Europas, teilweise auch nur eines sich geografisch verschiebenden Kerneuropas ausmacht. Es geht dabei nicht einfach um die Zusammenstellung dessen, was aus heutiger Sicht als wertvoll anzusehen ist, sondern um diejenigen Entwicklungen und Weichenstellungen, die die Voraussetzung dafür geschaffen haben, was die EU heute darstellt und was sie nach den eigenen Bekundungen darstellen soll.
Da die Ökonomie weiterhin in erheblichem Maß die Integration Europas antreibt, liegt es nahe, zunächst die spezifische Gestaltung desjenigen Modells in den Blick zu nehmen, welches als »Rheinischer Kapitalismus« bzw. als koordinierte Marktwirtschaft bezeichnet wird und einen eigenen Typus darstellt. Er weist im Vergleich mit anderen wirtschaftlichen Großräumen eine Reihe wichtiger Gemeinsamkeiten auf. In mehr als einem Jahrhundert hat sich auf Branchenebene eine technologie- und exportorientierte Kooperationsmentalität herausgebildet, der regionale, durch enge Lieferbeziehungen verflochtene Unternehmenscluster zugrunde liegen. Dazu passen neben dem Finanzierungssystem und der Berufsausbildung eingespielte Mechanismen und institutionalisierte Regelungen der Zusammenarbeit der Unternehmen und ihrer Verbände mit den staatlichen Instanzen und der Arbeitnehmerschaft, betrieblich wie überbetrieblich. Formelle Mitbestimmungsregelungen gelten z. B. in elf EU-Staaten. Durch dieses Set können die Europäer weiterhin auf dem Weltmarkt reüssieren.
Typisch europäisch ist, daran anknüpfend, der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat, der nicht allein von der sozialistischen Arbeiterbewegung erstritten, sondern von unterschiedlichen politisch-sozialen Kräften seit dem späten 19. Jahrhundert aufgebaut und gestaltet worden ist. Der radikale Rückbau des Sozialstaats in Europa ist schwer vorstellbar und erscheint kaum durchsetzbar.
Dass die Industrialisierung als welthistorischer Prozess in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien startete, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (neben den USA) Teile West- und Mitteleuropas und gegen Ende von dessen zweiter Hälfte auch die europäische Peripherie erfasste, ist allgemein bekannt. Damit die industriekapitalistische Produktionsweise zum Durchbruch kommen konnte, waren indessen weit zurückreichende Vorprägungen vonnöten, die im Hinblick auf die basale Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung den europäischen Kontinent auszeichneten und ihn – trotz zivilisatorischen Rückstands gegenüber zumindest China und dem Orient über Jahrhunderte – in einer eigentümlichen »Verkettung von Umständen« schon frühzeitig einen fruchtbaren »Sonderweg« (Christian Meyer) einschlagen ließ. Das begann schon im Frühmittelalter: Mit der Durchsetzung der Roggen und Hafer produzierenden Getreidewirtschaft, der Dreifelderwirtschaft und der Grundherrschaft sowie im Spätmittelalter dem avancierten Stand der Energiegewinnung und Metallurgie, mit der gattenzentrierten Familie, dem Lehns- und Ständewesen, der hoch organisierten Papstkirche, die im Hochmittelalter das Römische Recht wiederentdeckte und die umwälzende Innovation des Rechtswesens durch Verschriftlichung, Systematisierung und Rationalisierung einleitete, sowie den Frühformen der Massenkommunikation in Predigt und Buchdruck, entstanden bereits vor Beginn der Neuzeit Grundlagen des modernen Europa.
Der einmaligen wirtschaftlichen und sozialen Dynamik Europas, namentlich Nordwesteuropas, nicht erst in der Moderne, entsprach auf der Ebene der Einstellungen und des alltäglichen Verhaltens die Hochschätzung des gewöhnlichen tätigen Lebens, auch der einfachsten Arbeiten, und damit der Selbstverwirklichung in der und durch die Arbeit. Nur Europa kannte zudem den Grundsatz des fast uneingeschränkten Privateigentums. Typisch europäisch ist nicht zuletzt die Idee der Freiheit, nach den antiken Vorläufen zunächst als geistliche Freiheit der Christenmenschen. Die nach heutigem Verständnis untrennbar damit verbundene rechtlich-politische Gleichheit, wie sie in der Neuzeit schrittweise realisiert wurde, beruhte gedanklich auf der Gleichheit der Gläubigen vor Gott.
Das Denken trennte sich sehr allmählich vom Glauben; mit der abendländischen Rationalität, zunächst innerhalb der Theologie, trat frühzeitig auch eine spezifische Reflexivität in Erscheinung. Intensiver als in anderen Kulturen begaben sich seit der Antike konkurrierende Ideen in einen Wettstreit der Argumente. Die Kirche, die das Lateinische schon im 5. Jahrhundert als Liturgiesprache verankert hatte, trug das intellektuelle Erbe der griechischen wie römischen Antike durch das Mittelalter hindurch bis an die Schwelle der Neuzeit, als die Renaissance, der Humanismus, die Reformation und die katholische Kirchenreform (»Gegenreformation«) neue Horizonte der empirischen Aneignung der Wirklichkeit und der Individualisierung eröffneten. Die gesamtgesellschaftliche Reformbewegung der Aufklärung zielte im 18. Jahrhundert dann mit ihrem öffentlichen Diskurs auf ein (sozial faktisch eng begrenztes) europaweites Publikum.
Wenn immer wieder betont wird, das europäische Selbstverständnis beruhe wesentlich auf der Differenz, dann findet diese These ihre realgeschichtliche Fundierung in der naturgeografisch begünstigten Dezentralität und Pluralität von Herrschaft sowie in dem Nebeneinander von herrschaftlichen und genossenschaftlichen Elementen in den zusammengesetzten Gemeinwesen Alteuropas. Die abgestufte feudale Zersplitterung war das Eine, die starken Selbstverwaltungsbefugnisse von Städten und Dörfern waren das Andere. Auch die oberste monarchische Spitze hatte, meist gewohnheitsrechtliche, Begrenzungen ihrer Macht zu respektieren, wenn sie nicht verklagt oder mit bewaffnetem Aufruhr konfrontiert werden wollte. Die späteren Menschenrechtsdeklarationen gehen letztlich auf das zunächst adelige, von bestimmten Naturrechtslehren bestärkte Widerstandsrecht zurück.
Nachdem der frühneuzeitliche Staat in der Form der ständischen oder der absoluten Monarchie schon die feudale, vielfach anarchisch anmutende politische Gemengelage des Mittelalters abgelöst hatte, schuf erst der in seiner Form teils revolutionäre, teils reformerische Ordnungswandel, der das Ancien Régime in Europa zwischen 1789 und 1871 durch den nationalen Verfassungsstaat ersetzte, ein europäisches Staatensystem, das auf geschlossenen Nationalstaaten beruhte; sie sind eine der eigentümlichsten, prägenden Hervorbringungen Europas. Dieses hörte dadurch nicht auf ein großer Kommunikationsraum zu sein, der die primären nationalen Kommunikationsräume umspannte – vor allem wirtschaftlich –, doch waren die Zugehörigkeitsvorstellungen bis mindestens Mitte des 20. Jahrhunderts ganz vorrangig national orientiert.
Die im Vorangegangenen präsentierten Ergebnisse der Meinungsforschung und der historischen Analysen haben gewissermaßen das Rohmaterial einer europäischen politischen Identität anschaulich gemacht, jedoch noch nicht die Sache selbst bezeichnet. Diese entsteht einerseits aus Integration, ermöglicht andererseits erst die Integrationsleistung einer politischen Gemeinschaft. Die der Identität zugrunde liegende Kohärenzbildung ist laufend im Gange und keineswegs abgeschlossen. Die EU und die in ihr aufgegangenen wie die neben ihr weiterexistierenden Europäischen Gemeinschaften (so der Europarat und die OSZE) sind hervorgegangen aus völkerrechtlichen Verträgen, insofern Schöpfungen des Rechts und als zwischenstaatliche Organisationen zugleich Quellen des Rechts, sodass es nahe liegt, sie zuallererst Rechtsgemeinschaften zu nennen.
Nun besteht das Paradoxe der inhaltlich wie prozedural bestimmten Europäizität (des »Europäischseins«) darin, dass es sich um universelle, allgemeine Prinzipien und Verfahrensweisen handelt, deren weltweite Gültigkeit erstrebt wird, selbst wenn ihr Ursprung in Europa zu verorten ist. Auch nichteuropäische Staaten, namentlich solche, die sich einer »westlichen Wertegemeinschaft« zugehörig fühlen, berufen sich darauf. Deshalb kann das Identitätskriterium der Abgrenzung, im Sinne der (unaggressiven) Betonung der Besonderheit des Eigenen, nicht ganz außer Acht gelassen werden, auch wenn auf Dauer nichts davon unveränderlich sein mag. Selbstverständlich ist die EU kein exklusiver »christlicher Club«, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan einmal polemisch formuliert hat. Aber ganz Europa ist kulturell in einer Weise vom Christentum geprägt worden (in zweiter Linie auch vom Judentum und in dritter Linie vom Islam), die die christliche Überlieferung zum kulturellen Erbe aller Europäer, auch der Nichtchristen und Nichtgläubigen, gemacht hat. Unmittelbar daran anschließend darf man feststellen, dass die Dialektik von Religion und Aufklärung das Geistesleben im größten Teil des europäischen Kontinents in den letzten Jahrhunderten unvergleichlich charakterisiert hat. Auf der politischen Ebene hat sich zweifellos ein spezifisch europäisches Demokratie- und Grundrechtsverständnis entwickelt, das Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte als unverzichtbar einbezieht und sich dadurch vom Demokratie- und Grundrechtsverständnis etwa der USA unterscheidet. Schließlich beinhalten die stufenweise Konstituierung der Europäischen Union als einer solchen, deren unverwechselbare Struktur und Funktionsweise wie ihr praktisches Wirken viel Identitätsprägendes.
Die marktliberale Schlagseite der EU resultiert in gewisser Weise schon aus der Zielsetzung der Römischen Verträge. Es ist eben nicht zuletzt die Aufgabe der Brüsseler Kommission, über Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung den freien Wettbewerb zu fördern. Wünschenswerte Strategien zur Förderung der wirtschaftlichen Konjunktur und zur Harmonisierung oder wenigstens fixierten Stufung der nationalen Steuersysteme können im allenfalls zuständigen Rat mit 27, auf Einstimmigkeit verpflichteten Mitgliedern nicht ausgearbeitet und durchgesetzt werden. Die Mehrheit der Europäer vermisst offenbar, dass die EU dort die Schutzfunktion gegenüber den globalen Akteuren der internationalen Kapitalgruppen übernimmt, wo die Nationalstaaten dazu nicht oder nicht mehr imstande sind. Unverzichtbare Staatsfunktionen dürfen nicht einfach verschwinden, sondern müssen, soll unsere politische Ordnung nicht ad absurdum geführt werden, nötigenfalls auf der europäischen Ebene neu angesiedelt werden.
Das Verhältnis zwischen Nationalstaaten und Europäischer Union wird auch dann heikel bleiben, wenn es gelingen sollte, die »Gemeinschaft der Staaten« durch eine weitergehende Mitwirkung der Völker bzw. Bürger Europas zu ergänzen. Der konstitutionelle Nationalstaat in Europa, sei er mehr unitarisch oder mehr föderativ strukturiert, konnte deswegen im 19. und 20. Jahrhundert bestimmend werden, weil er sich über positive Integration und über institutionalisierte Teilnahme des Volkes, des Demos, eine historisch neuartige und grundlegende Legitimität verschaffen konnte. Inwieweit kann die vielsprachige und komplexe Europäische Union diesbezüglich an die Stelle der Nationalstaaten treten oder diese ergänzen? Es geht dabei ja nicht nur um Parlamentswahlen und eventuell um Plebiszite. Die für die moderne Demokratie unverzichtbaren partizipativen Einrichtungen im staatlich-politischen, sozialen und kulturellen Feld, namentlich die der politischen Öffentlichkeit, von Parteien und Gewerkschaften (wie auch anderen Interessenorganisationen), verharren bisher ganz überwiegend auf der nationalen Ebene. Aller Voraussicht nach wird eine Angleichung – oder besser Harmonisierung – der einzelstaatlichen Besonderheiten hier noch mehr Zeit beanspruchen als bei der Regelung des Gefüges der Spitzeninstitutionen.
Die Alternative einer Koexistenz souveräner Nationalstaaten (»Europa der Vaterländer«) versus ihrer Auflösung in einem europäischen Staat (»Vaterland Europa«) ist irreführend. Der souveräne Nationalstaat alten Typs gehört unwiderruflich der Vergangenheit an. Die reale Entwicklung ist über ihn hinweggegangen, und ständig verliert er weiter an Substanz, indem die Mitgliedstaaten der EU Rechte abgeben. Und dennoch wäre es nicht nur abwegig zu erwarten, dass die Nationen Europas als soziale und mentale Entitäten sich auflösen »wie der Zucker im Kaffee« (Erhard Eppler). Auch die Nationalstaaten werden lange Zeit überdauern, zumindest als Bausteine des großen europäischen Hauses. Sie haben weiterhin Aufgaben zu erfüllen, für die bislang – soweit absehbar – keine anderen Einheiten zur Verfügung stehen.
Das bedeutet: Wenn Europa in einem demokratischen Sinn voll handlungsfähig werden soll, müssen auch die Nationalstaaten handlungsfähig bleiben bzw. im europäischen Rahmen wieder werden. Das betrifft natürlich die institutionelle Seite, hat aber auch eine psychologische Dimension. Wenn es stimmt, dass Europa und seine Nationalstaaten in gewisser Weise aufeinander angewiesen sind, dann benötigen wir nicht nur eine Verständigung darüber, einen Minimalkonsens dessen, was wir als Substanz des europäischen Projekts betrachten wollen – wozu m. E. auch das Problem seiner geografischen Grenzen gehört; wir benötigen zugleich einigermaßen sichere nationale Identitäten im Sinne spezifischen nationalen Selbstverständnisses und kritisch-selbstkritischen nationalen Selbstbewusstseins. Im deutschen Fall waren es bekanntlich vor allem zwei Gründe, die dem in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit entgegenstanden: erstens die Teilung des Landes bei gleichzeitiger, auch alltagskultureller Westorientierung der Bundesrepublik, zweitens die Erinnerung an die Geschichtskatastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Ich vermag nicht zu sehen, wie die vorpolitischen Elemente der nationalen Identitäten, die dem Gemeinwesen erst die notwendige emotionale Grundierung liefern, von einer europäischen Identität komplett übernommen werden könnten.
Es kann sich bei der Einigung Europas nicht darum handeln, die tradierten Nationen als Kultur- und Kommunikations-, Bewusstseins- und Gefühlsgemeinschaften in einem Schmelztiegel aufzulösen; sie werden auf absehbare Zeit weiter bestehen und sich günstigenfalls kulturell gegenseitig befruchten, wenn es gelingt, das Verhältnis zwischen den Völkern und Staaten Europas solidarisch zu reorganisieren. Überwunden werden sollen nicht die Nationen, sondern der absolute Souveränitätsanspruch der alten Nationalstaaten. Die »Globalisierung« stellt nicht nur die überkommene Nationalstaatlichkeit infrage, sondern, weil die Demokratie bislang nur nationalstaatlich abgesichert ist, mit ihr auch die demokratische Staatsordnung. »Globalisierung« und »Standortwettbewerb« tangieren aber ebenso die politische Substanz des europäischen Einigungsprozesses einschließlich manches bisher schon Erreichten, da sie einer in großem Stil ausgleichenden Budget- und Strukturpolitik entgegenstehen. Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen, so die Massenzuwanderung aus anderen Kulturkreisen, stellen sich dem europäischen Verbund nicht wesentlich anders als seinen nationalstaatlichen Mitgliedern. Die Konsequenz des Zusammenbruchs der EU oder ihrer Rückentwicklung zu einer reinen Freihandelszone wäre wohl nicht ein kooperierendes »Europa der Vaterländer«, gegründet auf nationale Unabhängigkeit und Gleichberechtigung aller, sondern die Herausbildung neuer konkurrierender Gebilde, die durch die Vorherrschaft jeweils eines der größeren Staaten bestimmt wären.
Nur als Bausteine eines vereinten Europa, dessen Verfassung staatenbündische und bundesstaatliche Elemente historisch neuartig kombinieren wird, haben die alten Nationalstaaten eine konstruktive Zukunft. Nur vereint hat Europa eine Chance gegen die destruktiven Tendenzen eines global vagabundierenden Finanzkapitals, eines uneingeschränkten Marktliberalismus, die eigenen zivilgesellschaftlichen, kulturellen demokratischen und sozialstaatlichen Errungenschaften zu verteidigen und – unter Einbeziehung der ökologischen Dimension – weiterzuentwickeln. Dieses wäre zudem die Voraussetzung dafür, auch auf globaler Ebene in effektiver Weise menschheitlich solidarisch zu handeln.
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