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Europäisches Kurzarbeitergeld: Warum SURE ein guter Anfang ist

In Krisenzeiten, wenn viele Arbeitsplätze auf der Kippe stehen, ist Kurzarbeitergeld (KuG) ein effektives staatliches Instrument. Der Vorstoß der EU-Kommission das Kurzarbeiterprogramm »SURE« (Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency) einzuführen, ist daher ein richtiger Schritt für eine sozialere Gemeinschaft.

Die wirtschaftliche Krise in Folge der Corona-Pandemie ist die schwerste seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Viele EU-Staaten reagieren mit KuG und ähnlichen Mitteln. Während und nach der Finanzkrise 2008/2009 waren in Deutschland über drei Millionen Menschen im gesamten Jahr 2009 in Kurzarbeit – viele Jobs konnten gerettet werden. Stand Mai 2020 sind bereits über 7,5 Millionen Menschen auf KuG angewiesen – mehr als zweimal so viel wie vor zehn Jahren und das innerhalb von sechs Wochen. In der gesamten EU beziehen über 40 Millionen Menschen KuG. Zwar wenden die EU-Mitgliedstaaten KuG jeweils unterschiedlich an, aber die Ziele sind gleich: Arbeitsplätze sichern, Firmen unterstützen und ein schnellerer Aufschwung. In den USA, wo es kein KuG gibt, haben über 40 Millionen US-Amerikaner ihren Job wegen des Lockdowns verloren – und viele davon vielleicht dauerhaft. Der Vorteil von KuG ist vor allem, dass zum einen die Arbeitnehmer auch bei einem starken Konjunktureinbruch ein gesichertes Einkommen und einen Arbeitsplatz haben, zum anderen, dass die Unternehmen nach der Krise in der Stabilisierungs- und Aufschwungphase auf ihr eigenes eingearbeitetes und qualifiziertes Personal zurückgreifen können. Zwar werfen Kritiker ein, dass durch KuG die Arbeitslosigkeit aufgeschoben oder gar verschleiert werde. Jedoch ist die Chance deutlich größer, dass die Menschen wieder in ihre alten Jobs ohne Einbußen zurückkehren können.

In Deutschland beträgt das gesetzliche KuG 60 % (bzw. 67 % für Arbeitnehmer mit Kindern) des letzten Nettoentgeltes. In Mai 2020 hat der Bundestag nach heftigen Debatten und auf Druck der SPD-Fraktion entschieden, dass es eine Erhöhung des KuG geben soll: ab dem vierten Monat auf 70 bzw. 77 %. Ab dem siebten Bezugsmonat werden es künftig 80 bzw. 87 % sein. Dies gilt bislang aber nur bis zum 31. Dezember 2020. Je nachdem, ob es eine tarifliche oder betriebliche Vereinbarung gibt, kann das KuG auf bis zu 100 % aufgestockt werden. Im Niedriglohnsektor, beispielsweise in der aktuell besonders betroffenen Touristik- und Gastronomiebranche, ist die Tarifbindung oftmals so gering, dass die wenigsten Betroffenen über den gesetzlichen Betrag kommen. In der Folge müssen viele Arbeitnehmer weitere staatliche Hilfen beantragen. Ein Blick auf viele andere europäische Länder zeigt jedoch, dass ein höheres KuG durchaus machbar ist. Beispielsweise darf in Frankreich das KuG nicht geringer sein als der Mindestlohn und beträgt im Schnitt über 80 % des letzten Nettogehalts. Daher gab und gibt es auch in Deutschland einen politischen Diskurs über die Höhe des KuG und ob die Mittel dauerhaft auf 80 bzw. 87 % angehoben werden sollten. Eine längere Tradition von Kurzarbeit gibt es beispielsweise in Deutschland, Österreich oder Italien. Andere Länder, vor allem in Mittelosteuropa, führten solche Instrumente erst im Zuge der Finanzkrise 2008/2009 ein. Infolge der Corona-Krise sind noch mehr EU-Staaten dazu übergegangen KuG zu nutzen oder zu modifizieren. Auch wenn sich die KuG-Instrumente von Staat zu Staat unterscheiden mögen, gibt es ein gemeinsames Ziel: Beschäftigte und Betriebe zu sichern.

KuG und ähnliche Ansätze sind innerhalb der EU-Staaten ein bewährtes Mittel. Daher ist der Vorstoß der EU-Kommission ein Programm mit dem langen Namen Supportto mitigate Unemployment Risks in an Emergency (SURE) zur finanziellen Unterstützung der nationalen KuG-Instrumente einzuführen, ein richtiger und wichtiger Schritt. Insgesamt will die EU-Kommission Anleihen in Höhe von 100 Milliarden Euro stellen, die durch Garantien der Mitgliedstaaten abgesichert werden. Die Kommission schlägt vor, dass diese in Form von Krediten transferiert werden sollen – jedoch ohne einschränkende Konditionen, wie bei den anderen EU-Instrumenten, etwa beim Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) oder bei der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Diese Mittel können die EU-Staaten parallel zu SURE beantragen. SURE unterscheidet sich dabei in zwei Punkten von den anderen Krisenprogrammen: Erstens vergibt die EU-Kommission die Mittel ohne feste Vorgaben, wie das KuG im jeweiligem Mitgliedstaat ausgestaltet sein muss, zweitens gibt es keine nachfolgenden zwingenden Sparmaßnahmen oder sonstigen Sanktionsmechanismen. Damit ist sowohl das Subsidiaritätsprinzip eingehalten als auch das Risiko geringer, dass nach SURE-Mitteln eine Austeritätsphase folgt. SURE ist so geplant, dass es nur auf die Folgen der Corona-Krise und zeitlich begrenzt genutzt werden kann. Die EU bezieht sich hierbei auf den Krisenparagrafen in Art. 122 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union), wonach nur bei außergewöhnlichen Ereignissen, die sich der Kontrolle der betroffenen Staaten entziehen, Mittel ausgezahlt werden dürfen.

Die Studie »Ensuring fair Short-Time Work – a European overview« des ETUI (European Trade Union Institute) stellte fest, dass sich die KuG-Instrumente im europäischen Vergleich zum Teil stark unterscheiden: in der Höhe, der Dauer, der Kappungsgrenze, der Mindestbegrenzung und in rechtlichen Fragen, ob zum Beispiel Unternehmen bei Bezug von KuG Dividenden und Ähnliches ausschütten dürfen. Die Autoren der Studie, Thorsten Schulten und Torsten Müller, schlagen daher vor, dass die EU einheitliche europäische Regelungen zu KuG-Mindeststandards festlegt, beispielsweise ausreichenden Lohnersatz oder die Partizipation von Sozialpartnern bei der Ausarbeitung von nationalen KuG-Instrumenten.

Das ist nicht der einzige Kritikpunkt. Daniel Seikel beschreibt im Policy Brief WSI Nr. 39 der Hans-Böckler-Stiftung das Programm SURE bildlich als »Trostpflaster«, da SURE nicht das Grundproblem löse: die dauerhafte solidarische Verteilung der Schuldenlast. Denn mit anderen bewährten Programmen wie EFSF und EFSM haben die EU-Mitgliedstaaten bereits einen Zugang zum Kapitalmarkt geschaffen. SURE ist demnach mehr oder weniger ein Vorstoß für weitere Kreditvergabe auf Zeit. Einige Kritiker behaupten gar, dass auf diese Weise sogenannte Corona-Bonds durch die Hintertür eingeführt würden, da bei SURE die EU keine harten Maßnahmen einfordere. Bonds, oder anders gesagt die Vergemeinschaftung von Schulden und gemeinschaftliche Kreditaufnahmen, sind seit langem eine Forderung der europäischen Gewerkschaften. Der Präsident des europäischen Verbundes von Industriegewerkschaften (IndustriALL Europe) und hauptamtlicher Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE), Michael Vassiliadis, fordert in seinem Schreiben an die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mehr Solidarität innerhalb Europas während der Corona-Krise: »Europa braucht jetzt eine klare Orientierung, eine eindeutige Haltung und ein tatkräftiges Krisen- und Hilfsmanagement«. Die Einführung von »EU-Bonds« scheint jedoch in der derzeitigen politischen Konstellation nicht realistisch. Daher ist SURE, bei aller berechtigten Kritik, ein guter Anfang.

Und dieser Anfang ist bitter nötig. Denn die Wirtschaftskrise in Folge von Corona kann als Blaupause gesehen werden. Die wirklichen Herausforderungen kommen noch. Im Zuge des Klimawandels und der Endlichkeit von Ressourcen wie Erdöl, Gas oder seltene Erden in einer zunehmend unsicheren Welt hat die EU noch größere Krisen vor sich. Der EU-Investitionsplan für ein nachhaltiges Europa, der New Green Deal, zeigt, dass diese Themen ganz oben auf der Agenda stehen: im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU von 2021 bis 2027 sollen Mittel in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Wirtschaftstransformation bereitgestellt werden.

Im Rahmen dieses Vorhabens könnte die EU das Programm SURE, das bis jetzt als bloße Unterstützung für nationale KuG-Instrumente konzipiert ist, weiterentwickeln als eine Art »EU-KuG«. Solch ein europäisches zeitlich begrenztes Transfermittel könnte von Regionen zur Überbrückung abgerufen werden, die massiv von der kommenden Klima- und Energiewende betroffen sein werden. So könnten Arbeitnehmer, die aufgrund der Umstellung auf Green Economy ihren Job verlieren, durch »EU-KuG« umgeschult werden, länger Überbrückungsgeld bekommen und früher in Altersteilzeit gehen – ohne dass danach eine Austeritätswelle einsetzt wie bei anderen EU-Mitteln. Die EU könnte so gezielter den arbeitenden Menschen helfen – und die EU-Bürger würden unmittelbar die europäische Solidarität erfahren. Klar muss aber auch sein, dass es nur ein temporäres Transferinstrument sein darf: Kurzarbeiterregelungen und dergleichen können Beschäftigten und Betrieben nur begrenzt und kurzfristig helfen. Eine dauerhafte Finanzierung, auch längerfristig, ist weder hilfreich noch durchzusetzen und zielgerecht. Dies mussbei einem EU-Programm wie SURE oder einem möglichen »EU-KuG«-Instrument ebenso gelten, wie bei den jeweils national unterschiedlichen KuG-Umsetzungen.

Damit aber die Einführung eines »EU-KuG« oder ähnlichen Instruments möglich ist, müssen die EU-Mitgliedstaaten, vor allem Deutschland, mehr europäische Integration wagen. Die Große Koalition hat im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 vielleicht zum letzten Mal die Chance, die EU so zu prägen, damit aus der wirtschaftlichen Vereinigung auch eine sozialpolitische wird. In diesem Sinne ist das SURE-Programm, sofern es beschlossen und umgesetzt wird, mehr als ein politisches Trostpflaster. Es ist ein guter Anfang für eine solidarischere EU. Denn gerade in Krisenzeiten ist mehr Europa nötig, statt nationaler Alleingänge.

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