Als vor einigen Monaten die Meldung die Nachrichtensendungen prägte, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Fidesz-Partei die christdemokratische Fraktion im Europaparlament verlässt, war allerorten ein lautes Aufatmen zu vernehmen. Endlich, längst überfällig – so hieß es auch ganz überwiegend im politischen Berlin. Und wer wollte bestreiten, dass der mächtige Landesfürst, der sich seit einigen Jahren selbstbewusst zum Konzept einer illiberalen Demokratie bekennt, seine Differenzen mit den Brüsseler Instanzen und seiner christdemokratisch-konservativen Parteienfamilie bis an die Grenzen des Erträglichen ausgereizt hatte. Zudem ist den meisten in Deutschland noch in nicht gerade guter Erinnerung, welche Rolle Orbáns Ungarn in den Auseinandersetzungen um die Aufnahme von Flüchtlingen und deren Behandlung auf der Balkanroute gespielt hat. Umgekehrt betrachtet: Jeder, der einmal in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten durch Budapest spaziert ist oder in einer der anderen Städte und Regionen Ungarns Urlaub gemacht hat, wird sich kaum des Eindrucks erwehren können, dass er sich hier in einem Kernland Europas befindet, wird keinerlei Fremdheitsgefühle verspüren.
Hinzu kommt: Erinnern gerade wir Deutsche uns auch noch daran, wer die ersten Schritte zur Grenzöffnung im Jahre 1989 getan hatte, ohne die die bald darauf glücklich und friedlich verlaufende Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht stattgefunden hätte? Machen wir uns ernsthaft bewusst, welch dramatischer Verlust es wäre, wenn Orbáns erstem Schritt weitere folgen würden – bis hin zu einem Ausstieg aus der Europäischen Union analog dem quälenden Brexit-Prozess, den wir gerade hinter uns haben? Und was würde dies bedeuten für unser Verhältnis zu Polen und den Umgang mit der nicht weniger konflikthaft agierenden rechtsnationalistischen PiS-Regierung? Wären Ungarn und Polen verzichtbar für ein geeintes Europa?
Eine gängige Antwort auf diese Fragen ist der Verweis darauf, dass die Europäische Union eben eine Wertegemeinschaft sei. Und wer da ausschere, gehöre eben einfach nicht mehr dazu. Im Übrigen sollten die immer EU-kritischer werdenden osteuropäischen Staaten (genannt wird hier vielfach generell die Visegrád-Gruppe) doch etwas mehr Zurückhaltung und Dankbarkeit zeigen, denn sie hätten schließlich in den zurückliegenden Jahren am meisten von der finanziellen Unterstützung aus den EU-Fördertöpfen profitiert.
Das ist gewissermaßen die wenig erfreuliche Gefechtslage, in der wir uns befinden. Aber schon der Vergleich mit der 30 Jahre nach der Wiedervereinigung vielfältig ungeklärten Befindlichkeit zwischen den Ost- und den Westdeutschen, den sich nicht »auswachsenden« innerdeutschen Unzufriedenheiten und Blockaden, sollten uns zu größerer Vorsicht im Urteil gemahnen. So, wie es einem großen Teil der westdeutschen Bundesbürger weiterhin schwerfällt, die Befindlichkeit der Ostdeutschen nachzuvollziehen oder gar zu verstehen, so gibt es auch ein gravierendes innereuropäisches Verständnisdefizit. Eines allerdings liegt auf der Hand: Die Ostdeutschen hatten (was ja auch ihrem eigenen Bestreben 1989/90 entsprach) die westdeutschen Normen und Regelwerke zu akzeptieren und zu lernen, sich in ihnen zurechtzufinden. Mit dem Beitritt zur Europäischen Union und der Übernahme des acquis communautaire stellte sich den Bevölkerungen der osteuropäischen Länder eine mindestens vergleichbar schwierige Herausforderung mit Blick auf die Brüsseler Vorgaben.
Der Autor des hier vorgestellten Buches erinnert in seinem Titel an den bekannten Roman von Christa Wolf und stellt ihm ein Zitat daraus voran, das literarisch-philosophisch die Komplexität der innereuropäischen Verständnislosigkeit auf den Begriff bringt. Er selbst hat in den zurückliegenden drei Jahrzehnten wie kaum ein zweiter als Korrespondent deutscher Tages- und Wochenzeitungen die Länder des Balkans und alle weiteren osteuropäischen Länder bereist und in Reportagen Alltag und Politik, Kultur und Lebensweise der dortigen Bevölkerungen studiert und beschrieben. Wer sich also auf eine Lektüre seines Buches einlässt, geht mit ihm auf eine Reise durch diesen Teil der europäischen Kultur und macht zugleich eine Zeitreise, weil immer wieder überraschende historische Analogien zur Illustration herangezogen werden.
Seinen Einstieg wählt der Autor mit den Alltagserfahrungen der Frauen im ungarischen Szombathély. Beim Vergleich ihrer Einkäufe im benachbarten Österreich mit Produkten gleichen Namens in den eigenen Supermärkten glaubten sie Qualitätsunterschiede festzustellen. Spätere Untersuchungen gaben ihnen Recht: Die dort verkauften Butterkekse eines bekannten Hannoveraner Unternehmens enthielten statt Butter Palmöl. So produzierte man nicht nur bei den Butterkeksen eine europäische B-Klasse. Mappes-Niediek ergänzt dazu die Beobachtung: »Der ewige Platz zwei, die Benachteiligung, ist in den Selbstbildern und historischen Mythen der osteuropäischen Nationen angelegt.«
Was sich hier als diskriminierende, herabsetzende Alltagserfahrung präsentiert, findet seine Entsprechung in der großen Politik. Der Autor zeigt, dass die auch von ihm kritisierte russische Annexion der Krim als genau imitierte Antwort auf die vom Westen geduldete Abspaltung des Kosovo von Serbien orchestriert war. Mit der Folge: Der eine führe sein Recht auf übergeordnete Grundsätze zurück, der andere bestehe auf Parität. Die Schwierigkeiten, die daraus erwachsen, werden in Frageform präsentiert: »Das Gleichgewicht zwischen universellem Anspruch und eigenem Interesse ist immer labil. Darf ich einschreiten, wenn anderswo Unrecht geschieht? Wann muss ich es? Was ist schlimmer, der Bruch des Völkerrechts oder der Krieg und die Unterdrückung im Kosovo? Wer bevollmächtigt eigentlich eine Nation mit ihrer Armee, anderswo auf der Welt das durchzusetzen, was sie selbst für moralisch geboten hält? Wenn ich mit meiner Macht auf der Welt so segensreich walte: Wie weit geht dann mein Recht, für den Erhalt dieser meiner Macht zu sorgen? Rechtfertigt es meine Mission, wenn ich meiner Nation gewaltsam die Ölquellen im Nahen und Mittleren Osten sichere? Wenn ich Folterregime stütze?«
Es liegt auf der Hand, dass es hierauf keine einfachen Antworten gibt. Das ist auch nicht die Intention des Buches. Aber eine Antwort gibt es schon: »Je arroganter und selbstgewisser der Westen auftritt, je weniger ernst er seine eigenen Ideen nimmt, desto energischer wird die östliche Opposition.« Das Buch zeigt auch anhand des europäischen Einigungsprozesses, wie kompliziert auf Dauer Verhältnisse werden, wenn von vornherein Lehrer-Schüler-Verhältnisse bzw. Meister-Lehrling-Verhältnisse konstituiert werden. Zunächst wird hier gründlich mit dem Mythos von den profitierenden, undankbaren Osteuropäern aufgeräumt. Denn – aus östlicher Perspektive sind die Rollen des Gebers und des Empfängers exakt vertauscht: Es seien doch die westlichen Konzerne, die enorm davon profitierten, dass sie den dortigen Arbeitnehmern niedrigere Löhne als im Westen zahlten.
Und wieder in Frageform: »Haben sie uns über den Umweg über ihre Regierungen und die EU-Kommission nicht selbst die Regeln aufgedrückt, nach denen sie dann hier wirtschaften? Verkaufen sie uns am Ende nicht die Waren, die wir selbst für geringen Lohn hergestellt haben zu überhöhten Preisen? Und müssen wir uns gefallen lassen, dass westliche Länder ihre Probleme mit Zuwanderung zu uns exportieren? Uns, die wir doch täglich Experten, Ärzte, Fachleute, Wissenschaftler an euch verlieren?« Vergleiche man – wie der Ökonom Thomas Piketty – die Zahlungen aus dem Brüsseler Haushalt mit den westlichen Unternehmensgewinnen, komme für Länder wie Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei ein klares Minus heraus.
Mappes-Niediek zeigt, dass der »erzieherische Ton«, der im Zusammenhang mit Schritten der Erweiterung der Europäischen Union erst im Rahmen der Osterweiterung einsetzte, noch keineswegs galt, als 1995 Österreich, Schweden und Finnland beitraten. Auch der Blick auf die ersten Schritte hin zu einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den 50er Jahren sollte gerade aus deutscher Sicht ein wenig demütiger machen: »Abseits der wirtschaftlichen Zusammenarbeit nahm man einander, wie man eben war. Niemand in der neuen Gemeinschaft verfasste über den je anderen ›Fortschrittsberichte‹, mit denen man geprüft hätte, wie ernst es etwa die gerade erst vom Nationalsozialismus bekehrten Deutschen mit der Demokratie meinten. Es untersuchte ja auch kein Brüsseler ›Kooperations- und Verifizierungsmechanismus‹ die Verbindungen der italienischen Politik zur Mafia.«
Das Buch liefert uns überreichlich Beispiele dafür, dass die Selbstwahrnehmung des Westens von einer eigenen Überlegenheit in Sachen Toleranzkultur eben auch nur die halbe Wahrheit ist. Mit dem früheren polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki plädiert der Autor: »Verstehen sollt ihr uns, und anerkennen!« Aber um den anderen anzuerkennen, muss man ihn erst einmal kennen. Wer mit diesem Kennenlernen vorankommen möchte, der sollte unbedingt dieses Buch lesen.
Norbert Mappes-Niediek: Europas geteilter Himmel. Warum der Westen den Osten nicht versteht. Chr. Links, Berlin 2021, 304 S., 22 €.
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