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© Gerngross Glowinski Fotografen

Europas Grenzen

Wie kann dem Rechtspopulismus in Europa wirksam begegnet werden? Muss Europa seine Grenzen schließen und, wenn ja, wie weit? Und kann man mit der Einbeziehung der kommunalen Ebene und der Zivilgesellschaft Fortschritte im Hinblick auf die Akzeptanz von Geflüchteten erzielen? Darüber sprachen die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission und Präsidentin der von ihr mitgegründeten Humboldt-Viadrina Governance Platform und Wolfgang Merkel, Direktor der Abteilung »Demokratie und Demokratisierung« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Die Fragen stellte Thomas Meyer.

 

NG|FH: Angesichts der vielen Debatten über die Entwicklung der Migrationspolitik und die Entstehung des Rechtspopulismus sowie der vergeblichen Einigungsversuche diesbezüglich in der letzten Zeit gibt es die verbreitete Meinung, Europa könne nicht überleben, ohne dass es zu einer Festung wird. Was ist an dieser Vorstellung dran?

 

Wolfgang Merkel: Den Begriff halte ich für verhängnisvoll, weil wir die europäischen Gesellschaften mit Recht als offen beschreiben. Der Rückzug in eine Festung stünde dazu im Widerspruch. Allerdings sind wir in der Realität auf dem Weg dorthin und nicht immer lautet die Erklärung Fremdenfeindlichkeit. Oft verbirgt sich dahinter ein ganz praktischer Blick auf die Politik. Viele Bürgerinnen und Bürger verlangen, dass die Europäische Union ihre Grenzen kontrolliert. Das gibt ihnen eine gewisse Sicherheit. Wie weit wir die Grenzen öffnen oder schließen, darüber muss es eine vorurteilsfreie Debatte geben. Von dem Begriff »Festung« würde ich Abstand nehmen, verstärkte Kontrollen können demokratisch wie ethisch legitim sein.

 

Gesine Schwan: Ich sehe das auch so. Die zentrale Frage ist aber, ob es uns überhaupt möglich ist, die Grenzen zu schließen und sie auf diese Weise zu kontrollieren. Denn Kontrolle, wenn sie gelingen soll, setzt eine freiwillige Respektierung von außen und innen voraus, diese zu beachten. Als es 2015 den Ansturm auf die Grenzen Europas gab, konnten wir sie nicht kontrollieren. Die Vorstellung, die Außengrenzen kontrollieren zu können, indem man sie absolut schließt und den Flüchtenden keine legalen Wege und Verfahren eröffnet, die es auch ihnen als richtig erscheinen lässt, über die Kontrollstellen zu gehen, ist unrealistisch. Die Flüchtenden werden einen Weg finden, das zu umgehen. Diese Zusammengehörigkeit von Freiwilligkeit und Kontrolle ist vielen nicht bewusst.

 

NG|FH: Zumindest ist aber doch denkbar, dass die Grenzen so rigide kontrolliert werden, dass nur noch wenige unter sehr hohem Risiko die Kontrollen werden umgehen können.

 

Schwan: Man kann die Zahl für eine gewisse Zeit, und indem man viele Todesopfer im Mittelmeer und in Nordafrika einkalkuliert, reduzieren. Die Menschen werden dann andere, teurere Wege finden, die dann noch mehr Selektion bedeuten, weil nur diejenigen die Grenzen überwinden, die das Geld haben.

Die Grenzen hermetisch zu schließen, ist aus meiner Sicht illusorisch. Dies würde vor allem auch einen Zynismus hinsichtlich unserer Werte bedeuten, der auf unsere eigene interne gesellschaftliche Struktur zurückschlagen würde. Man kann doch nicht Werte nach außen vertreten, die man selbst zugleich mit Füßen tritt. Wir müssen also in Übereinstimmung mit unseren Werten und mit dem Völkerrecht bleiben und einen Weg finden, dass auch die Flüchtenden selbst ein Interesse daran haben können, unsere Grenzen zu respektieren.

 

Merkel: Es ist eine schöne Utopie, dass die Flüchtenden die Grenzen respektieren. Zu glauben, dass wir in absehbarer Zeit eine Situation in den Herkunftsländern haben werden, die es ihnen nicht mehr nahelegt zu kommen, ist eine Illusion. Aber ich glaube, dass wir in diesen Ländern viel mehr tun müssen als bisher.  Das fängt etwa bei der Öffnung der europäischen Märkte für Agrarprodukte an. Wenn wir zudem ganz massiv unsere Anstrengungen in jenen Ländern verstärken, aus denen die Flüchtlinge kommen, haben wir auch eine größere Legitimität, unsere Grenzen besser zu kontrollieren und nehmen damit den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln.

 

» Zu glauben, dass wir in absehbarer Zeit eine Situation in den

Herkunftsländern haben werden, die es den Fluchtbereiten nicht

mehr nahelegt zu kommen, ist eine Illusion. Ich glaube, dass wir in

diesen Ländern viel mehr tun müssen als bisher. «

 

Das eine ist ein verantwortungsethisches Argument, also zu schauen, welche Konsequenzen das in unseren offenen Gesellschaften hat. Das andere ist ein Legitimationsargument, nach dem die wirkungsvolle Hilfe in den Herkunftsländern stattfinden muss und nicht partikulär in den Zielländern der Fluchtbewegung.

 

Schwan: Ich argumentiere umgekehrt. In dem Maße, wie wir es auf vielerlei Wegen schaffen, die Privilegierung europäischer Agrarprodukte und die Schließung von Grenzen in Afrika zu unterbinden – wir wollen ja offene Handlungsräume als Möglichkeit zur dortigen Entwicklung – in dem Maße, wie wir echte Entwicklung durch politische Maßnahmen, durch finanzielle Mittel und durch den Austausch von Know-how voranbringen, wird der Druck auf unsere Grenzen nachlassen und dann können wir sie auch kontrollieren.

Den Rechtsradikalismus zurückzudrängen ist ein wichtiges Motiv. Dennoch werden wir auch künftig noch viele Geflüchtete aufnehmen. Daher ist es aus meiner Sicht wichtig, dass wir bei der dezentralen Aufnahme in Europa bleiben und zudem Wege finden, die Bürgerinnen und Bürger an den Entscheidungen darüber zu beteiligen. Die Delegitimation der Rechten auf diese Weise wäre für mich der richtige Weg.

 

NG|FH: Es kann ja kaum bestritten werden, dass es zwischen der bisherigen Art, wie Flüchtlingspolitik in Europa betrieben wird und dem zunehmenden Rechtspopulismus einen engen Zusammenhang gibt. Nach den Wahlen im nächsten Jahr werden voraussichtlich weit mehr Rechtspopulisten im Europäischen Parlament sitzen als bisher. Ist das Thema Migration überhaupt noch für die EU politisch und institutionell beherrschbar?

Und ergänzend: Sind die verbreiteten Tendenzen in Europa zu neoautoritären Systemen und zur Identitätspolitik hauptsächlich innenpolitisch durch die Migrationssituation und die Flüchtlingssituation legitimiert?

 

Merkel: Die drei großen Motive, entlang derer Rechtspopulisten heute mobilisieren, lauten: erstens Migration, zweitens eine antiislamische Einstellung, drittens die EU. Meist wird das in Verbindung gebracht, etwa, dass die EU Migration nicht verhindert und diese zudem auch noch hauptsächlich aus muslimischen Ländern kommt. Dem folge ich natürlich nicht, glaube aber, dass nicht zuletzt die deutsche Regierungspolitik sehr wohl Fehler gemacht hat. Etwa der berühmte Satz »Asyl kennt keine Obergrenze«, der 2015/2016 in nahezu allen Debatten bei uns auftauchte. Bereits 2016 war klar, dass nur rund 3 % derer, die kamen, tatsächlich unter den Asylparagrafen fielen. Da gab es schon einmal eine falsche Diskussion. Vor allem Deutschland, das ohne Abstimmung gehandelt hatte, hätte sagen müssen: »Wir kontrollieren die Grenzen und natürlich gibt es Obergrenzen«. Das würden auch positivistische Völkerrechtler nicht bestreiten. Dennoch wollen wir großzügig Flüchtende aufnehmen, aber nicht die, die über Migrationsrouten zu uns gekommen sind, sondern aus den Lagern im Libanon, in Jordanien und der Türkei – nach sozialverträglichen Kriterien. Das sage ich bewusst, denn wir haben mittlerweile – auch in der SPD – eine Debatte über ein maßgeblich utilitaristisches Einwanderungsgesetz nach Arbeitsmarktprofilen.

Wir haben völlig die Diskussionen der 70er Jahren vergessen, indem wir nun einen solchen brain drain aus den Entwicklungsländern organisieren, den wir eigentlich verhindern wollen, da er die dortige Entwicklung bremst. Wir brauchen andere Kriterien. Also: Großzügige Aufnahme ja, aber wir kontrollieren wer hereinkommt. Dann haben wir auch eine moralische Legitimation, diese Kontrolle durchzuführen und eine größere Chance, dass die Migration gesellschaftsverträglich bei uns bearbeitet werden kann.

 

NG|FH: Frau Schwan, haben Sie den Eindruck, dass eine gemeinsame europäische Migrationspolitik möglich ist, die von allen akzeptiert und gewollt wird und die sowohl quantitativ wie auch qualitativ funktioniert? Zeichnet sich so etwas ab oder wird dieses Dauerproblem immer mehr Länder auseinandertreiben?

 

Schwan: Ich halte das perspektivisch für möglich, wenn die EU, konkret der Europäische Rat, also die Regierungen der Nationalstaaten, klug und weitblickend genug sind, so etwas zu machen. Vorschläge dafür gibt es. Dass Migrations- oder Flüchtlingspolitik ein ganz entscheidendes Mobilisierungsinstrument für rechte Politik ist, bestreite ich nicht. Ich glaube allerdings, dass das vor allem in Westeuropa eine Art Sündenbockthematik für Probleme ist, die an anderen Stellen Verunsicherung hervorgerufen haben. Dazu gehören meines Erachtens die großen gesellschaftlichen Ungleichheiten auch etwa durch die Unterminierung der sozialen Sicherungssysteme. Das wird dann natürlich leicht instrumentalisiert.

In Mittelosteuropa sind nicht alle Regierungen über das Migrationsthema an die Macht gekommen. Bei der polnischen Partei PiS beispielsweise spielten Themen wie Unsicherheit und Ungerechtigkeit eine große Rolle, später kam das Thema Migration natürlich dazu. Auch in Tschechien liegt die Sache anders. Und in Ostdeutschland waren eher die gebrochenen Versprechen aus dem Vereinigungsvertrag entscheidend, vor allem was etwa Renten anbetrifft oder die Absicherung geschiedener Frauen. Da gibt es eine Gemengelage der Verunsicherung und der Wut, die sich zunächst aus anderen Quellen speiste als aus der Flüchtlingsthematik.

Die Frage ist nun, wie man zu einer Konvergenz kommen kann? Das geht meiner Meinung nach nur freiwillig. Und der politische Vorlauf ist wichtig. Die Bundesregierung hat Italien, Spanien und Griechenland über Jahre hinweg mit den Flüchtenden alleingelassen.

 

» Dass Migrations- oder Flüchtlingspolitik ein ganz entscheidendes

Mobilisierungsinstrument für rechte Politik ist, bestreite ich nicht. Ich

glaube allerdings, dass das vor allem in Westeuropa eine Art

Sündenbockthematik für Probleme ist, die an anderen Stellen Verunsicherung

hervorgerufen haben. «

 

Unser vormaliger Bundesinnenminister hat das Problem als italienische Angelegenheit bezeichnet. Wenn nun also wie in Italien Rechte an die Macht kommen und der Innenminister Matteo Salvini die Häfen schließt, dann ist das sicherlich nicht akzeptabel, aber dass die Italiener wütend darüber sind, dass die Deutschen bzw. die Europäer die Ankommenden nicht abgenommen haben, ist nachvollziehbar. In der deutschen Öffentlichkeit ist das inzwischen verstanden worden. Die Wut staut sich durch fehlende Kommunikation an.

Ich glaube, dass es klappen könnte, wenn sich eine Art »Koalition der Willigen« zusammenfände, z. B. mit Spanien, Portugal, Griechenland, Deutschland, Schweden, Frankreich, wahrscheinlich auch mit Belgien und den Niederlanden. Diese müsste einige europäische Asylkontrollzentren betreiben, in denen es schnell nach der niederländischen Methode ginge – wo die, die anerkannt werden, in Europa freiwillig über eine Kontaktbörse dezentral angesiedelt werden können, wo die Staaten ein Kontingent garantieren, ihren Kommunen aber erlauben, sich zu bewerben und anzugeben, wie viele sie aufnehmen wollen und was sie dafür zusätzlich an Entwicklungsgeldern als Anreize bekommen.

Da wird dann auch nicht immer alles zusammenpassen, aber die nationalen Regierungen könnten in einer solchen verstärkten Zusammenarbeit von dem Druck entlastet werden, Geflüchtete irgendwohin zu schicken, weil da gerade eine leere Kaserne ist, und damit die Menschen vor Ort zu verärgern.

 

NG|FH: Würden die Regierungen in Ländern wie Polen oder Ungarn es zulassen, dass sich Kommunen bewerben und Geflüchtete in nennenswerter Zahl aufnehmen?

 

Schwan: Sie würden es vielleicht zunächst nur erlauben, wenn die Flüchtenden aus Südosteuropa kommen, aus dem Kaukasusgebiet oder aus Tschetschenien. Regional würden sie es wahrscheinlich erlauben und daraus würde eine Bewegung entstehen, dass die Bürgermeister – ich kann das konkret für Danzig und Warschau bestätigen – sagen: Wir möchten dieses oder jenes entwickeln und wir brauchen dafür unbedingt bestimmte Arbeitskräfte. Das wird nicht von heute auf morgen geschehen, aber es wird einen Stimmungsumschwung geben. Von unten wird sich die Einstellung dazu ändern und es wird neue Synergien geben, in Polen gerade auch mit Teilen der katholischen Kirche.

 

Merkel: Müsste das nicht aus einem zentralen Fonds der EU finanziert werden?

 

Schwan: Dafür bin ich.

 

Merkel: Und müsste das dann nicht gleichzeitig auch eine Angleichung der Lebensbedingungen der Geflüchteten zur Folge haben, unabhängig davon, ob sie Zuflucht in Schweden, Österreich oder Deutschland erhalten oder in Griechenland, Bulgarien oder Rumänien?

 

Schwan: Ja, aber jeweils auf freiwilliger Basis.

 

Merkel: Es gibt in diesem Zusammenhang das hässliche Wort »Asyltourismus«. Die Menschen gehen danach in die Länder, wo sie am besten aufgenommen werden, auch ökonomisch. Warum sollten sie auch letztendlich in Griechenland oder auch in Italien bleiben, wenn Schweden, Deutschland oder Österreich bessere Verhältnisse anbieten? Könnte die EU das dann nicht zu einer Gemeinschaftsaufgabe erklären, für die sie natürlich dann neue Steuerressourcen aus den Mitgliedstaaten bräuchte? Es gibt also die Möglichkeit einer Angleichung, um die Weiterwanderung in die besten Aufnahmeländer zu verhindern.

 

NG|FH: Setzt das nicht aber voraus, dass innerhalb Europas zunächst einmal eine viel größere soziale und wirtschaftliche Angleichung stattfinden müsste?

 

Schwan: Nein. Natürlich sind die Lebensverhältnisse unterschiedlich. Aber das heißt dann ja auch, wenn sich jemand z. B. für Portugal entscheidet, werden die Kommunen genauso melden, welche Kosten sie haben, als wären sie in Deutschland. Dann wird es entsprechend unterschiedlich umfangreiche Geldleistungen geben. Die Frage ist jetzt, bleiben die Geflüchteten in den Kommunen? Ich glaube, es ist ein großer Unterschied, ob sie sich freiwillig für einen Ort entschieden haben oder verteilt worden sind.

Die Kommunen müssten auf ihrer Website angeben, wen sie brauchen und was sie bieten können. Die Flüchtenden, die in solchen Zentren ankommen, hätten die Möglichkeit zu entscheiden, dorthin zu gehen, wo bereits Verwandte wohnen, wo das kulturelle Umfeld stimmt, wo es eine Wohnung, gute Bildung und einen Arbeitsplatz gibt. Es sind aber eben oft nicht nur materielle Anreize, die eine Rolle spielen.

 

NG|FH: Und sie müssten sich dann verpflichten, eine bestimmte Zeit dort zu bleiben?

 

Schwan: Das ist die nächste Frage: Was macht man mit Verpflichtungen und wo baut man auf Freiwilligkeit? Ich glaube, verpflichtend muss der Aufenthalt an einem Ort für eine gewisse Zeit sein. Hier sind aber natürlich auch die Kommunen gefragt. In der Sozialwissenschaft läuft das unter dem Stichwort »Bleibefaktoren«. Dass man also den Geflüchteten etwa ermöglicht, vor Ort Eigentum zu erwerben. Wenn also der Einstieg freiwillig ist und sie sich von vorneherein anschauen können, was ihnen dort geboten wird, und wenn sie eine ganzheitliche Integrationsbegleitung haben, über Sport, über Kultur, über gemeinsames Kochen usw., ist die Chance, dass sie an dem Ort, den sie gewählt haben, auch die nächsten Jahre bleiben werden, deutlich größer.

 

NG|FH: Herr Merkel, wenn die Europäische Union es eine Zeitlang akzeptiert, dass Mitgliedsländer ihren Wertekern nicht akzeptieren, hat das natürlich Folgen für die Glaubwürdigkeit insgesamt und einen gewissen Zerrüttungseffekt. Hätte eine Lösung des Migrationsproblems in einem europäischen Verständnis, so ähnlich wie Frau Schwan das jetzt hier skizziert hat, Auswirkungen in diesen Ländern? Würde das diesen rechtspopulistisch autoritären Regimen den Boden entziehen?

 

Merkel: Ich glaube nicht. Es ist zwar etwas spekulativ, aber ich gehe nicht davon aus, dass etwa in Ungarn und in den anderen Visegrád-Staaten in einem deutlich größeren Umfang Menschen aufgenommen werden. Ich glaube nicht, dass sich durch die Verschiebung der Entscheidung von der Zentralregierung auf lokale Regierungen plus die Bürgerinnen und Bürger in diesem Punkt etwas wesentlich ändern würde. Ich vermute, dass die fortschrittlichen liberalen Gesellschaften im Westen sehr viel mehr aufnehmen werden – mit einer Ausnahme: Frankreich. Hier bin ich anderer Meinung als Sie. Das Problem des Rechtsautoritarismus in einigen Ländern werden Sie damit nicht lösen. Da ist keineswegs nur das Thema Migration entscheidend. Da spielt etwa auch die neu gewonnene nationale Souveränität eine Rolle, die ebenso verständlich wie verbissen auch gegenüber Brüssel verteidigt wird. Die Idee, diese Länder mit Sanktionen wieder zu liberaldemokratischen Systemen zu machen, ist meiner Meinung nach verfehlt. Das wird eher Wasser auf die Mühlen der Rechten sein.

 

NG|FH: Wie wird diese Entwicklung weitergehen?

 

Merkel: Es gibt einen Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Demokratietypen in Europa. Da ist einerseits die offene kosmopolitisch geprägte liberale Demokratie mit ausgeprägten Individual- und Gruppenrechten. Dafür stehen die skandinavischen Staaten, auch Frankreich und Deutschland. Auf der anderen Seite gibt es Demokratieformen, die diese liberale, individualrechtliche und gruppenrechtliche Ausdifferenzierung als etwas Elitäres begreifen und die die Volkssouveränität, das ist die andere Dimension der Demokratie, gegen diese liberalen Eliten stark machen wollen.

 

NG|FH: Der Europäischen Union liegt aber natürlich ein modernes Demokratieverständnis zugrunde, nämlich die Einheit aus Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität. Wenn nun auf längere Sicht dieser andere »Demokratietyp«, etwa in den Visegrád-Ländern, bestehen bleibt, kann die EU damit umgehen oder wird es sie auseinanderreißen?

 

Merkel: Hier zeigen sich jedenfalls die Grenzen der Vertiefung. Die EU wird vermutlich damit umgehen müssen. Es gibt bestimmte Grenzen und rote Linien. Ob diese in Polen oder Ungarn bereits übertreten sind, kann man an den Verträgen ablesen. Dass dort eine Iliberalisierung voranschreitet, die vehement zu kritisieren ist, ist überhaupt keine Frage. Aber inwieweit darf die EU, darf eine Gruppe von Mitgliedstaaten den Gesellschaften in den Visegrád-Staaten diktieren, welche Regierungsform sie haben müssen. Es handelt sich ja um demokratisch gewählte Regierungen. Die EU hat dafür ein Vertrags- aber kein demokratisches Mandat.

 

Schwan: Ich sehe es ein bisschen anders. In Polen haben ungefähr 38 % die jetzige Regierungspartei PiS gewählt, das heißt aber überhaupt nicht, dass die Gesellschaften insgesamt, selbst die 38 % nicht, einen Systemwechsel wollten. Damit hatte die PiS nämlich keinen Wahlkampf gemacht, sondern mit einem hohen Familiengeld und sozialen Sicherungen. Also wenn die jetzige polnische Regierung von der EU kritisiert wird, kann man nicht sagen, dass der polnischen Gesellschaft ein Politikmodell aufgezwungen wird. Viele kämpfen in Polen doch gegen die Regierung und etwa dagegen, dass der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt wird. Denen wird der Rücken gestärkt, weil die EU – deutlich durch Gutachten belegt – zeigt, dass die Bedingungen, die Polen erfüllen musste, um in die EU zu kommen, weiter gelten. Es handelt sich ja nicht um einen Überraschungscoup von der Kommission. Missstände gibt es auch in Rechtsstaaten. Hier aber werden Prinzipien unterminiert, und keineswegs ist die gesamte polnische Gesellschaft dafür.

 

NG|FH: Bewegt sich in dieser Hinsicht etwas in der polnischen Gesellschaft?

 

Schwan: Durchaus und zwar in verschiedene Richtungen. Es gibt Opposition aber auch Resignation. Zum Beispiel distanziert sich die katholische Kirche in Polen von diesem sehr primitiven Umgang mit Flüchtenden und Migranten insgesamt und artikuliert das auch ausdrücklich. So hat ein sehr anerkannter polnischer Priester in der wichtigen polnischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny geschrieben, dass die jetzige polnische Regierung das Land im Grunde entchristianisiert, weil sie alle christlichen Werte mit Füßen tritt.

Da ist also viel mehr an Opposition als wir uns das hier klarmachen. Wir müssen auf die Zivilgesellschaften setzen. Da ist ein bekennender Homosexueller mit einer neuen Partei plötzlich Bürgermeister der kleinen polnischen Stadt Słupsk, es bewegt sich viel im Umweltbereich, es gibt einen großen Widerstand gegen die wirklich irrationale Kohlepolitik in Schlesien, die von den Konzernen zusammen mit der jetzigen Regierung vorangetrieben wird und langfristig verheerend ist. Es gibt in Polen, wie in anderen Ländern auch, viel Dynamik. Das soll die EU dokumentieren. Damit bekommen auch diejenigen in den Gesellschaften Auftrieb und Hilfe, die von innen dagegen kämpfen. Die Union wird es aber nicht erreichen, dass Polen sein Stimmrecht verliert. Dafür muss die Entscheidung einstimmig sein, und Ungarn wird da nicht mitgehen.

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