Menü

Evangelikale erobern Lateinamerika

Es vergeht kein Monat, in dem man in den Medien nicht Überschriften wie diese lesen kann: »Die perfekte Ehe: evangelische Kirchen und konservative Kräfte in Lateinamerika« oder »Evangelische Gruppen – die neuen Waffen der USA bei der Durchführung von Staatsstreichen in Lateinamerika«. Entsprechen diese Zeilen der Realität? Und warum nimmt seit den 90er Jahren die Zahl der evangelischen Kirchen in einer über Jahrhunderte vom Katholizismus geprägten Kultur immer weiter zu? Die wissenschaftliche Literatur stimmt in zwei Punkten überein: Es gab verschiedene »evangelische Wellen« und es gibt drei Hauptströmungen: die lutherische (klassische, traditionelle) Kirche, die evangelikale Kirche sowie die Pfingstkirchen bzw. neuen Pfingstkirchen.

Die verbreitete Vorstellung einer direkten Verbindung zwischen dem evangelischen Umfeld und der Rechten lässt sich nicht aufrechterhalten. In der Vergangenheit war das »evangelische Universum« zumindest auf der Diskursebene hinsichtlich seines politischen Engagements nicht rechts einzuordnen.

Im Gegenteil: In den vom Katholizismus geprägten Gesellschaften, in denen die Amtsträger der katholischen Kirche enge Verbindungen mit rechten Kräften und konservativen Regimen unterhielten und dabei ihre fortschrittlicheren, der Befreiungstheologie nahestehenden Tendenzen übergingen oder aus dem Rampenlicht verdrängten, bezog das evangelische Universum Positionen, die sich hiervon klar unterschieden. Während eines guten Teils des 20. Jahrhunderts setzte sich ein bedeutender Teil der »historischen« evangelischen Kirchen (Methodisten, Lutheraner, Presbyterianer u. a.) und eine Minderheit der Baptistenkirchen (sowie einige Pfingstkirchen) klar für die Anliegen der fortschrittlichen politischen Kräfte und der lateinamerikanischen Linken ein.

So entstanden in den 60er und 70er Jahren Organisationen, die ihre evangelischen Grundzüge mit unverkennbar linken weltanschaulichen Orientierungen verknüpften. Gruppen wie Iglesia y Sociedad en América Latina (ISAL) in Uruguay und Argentinien nahmen sich vor, so etwas wie eine »evangelische Befreiungstheologie« ins Leben zu rufen, während Organisationen wie die Misión Iglesia Pentecostal in Chile die Diktatur Augusto Pinochets offen kritisierten. Auch in der Zeit der sandinistischen Revolution in Nicaragua kam es zu einem paradigmatischen Vorgang: In der Unión de las Asambleas de Dios, einer der weltweit größten pfingstkirchlichen Organisationen, die traditionell mit der evangelischen Rechten verbunden war, kam es zu einer Abspaltung von links, aus der die Gruppe Revolutionärer Pastoren (Grupo de Pastores Revolucionarios) hervorging.

Dieser Prozess der zunehmenden politischen Linkswende einiger Gruppen setzte sich in den 80er Jahren fort, wenn auch mit verminderter Intensität, als Gruppen wie die Lateinamerikanische Theologische Bruderschaft (Fraternidad Teológica Latinoamericana) von René Padilla und Samuel Escobar an Bedeutung gewannen. Evangelische Gruppierungen dieser Art schlugen eine Lösung der Probleme Lateinamerikas auf christlicher Grundlage vor und setzten sich auf diesem Weg für eine Vertiefung der Demokratie, mehr soziale Gerechtigkeit und eine Konzeption von Gemeinschaft ein, die mit vielen sozialistischen und von Basisbewegungen vertretenen Grundannahmen übereinstimmte.

Zwar repräsentierten diese Gruppen nicht die Gesamtheit der evangelischen Welt, nicht einmal deren Mehrheit – fast in jedem Fall findet sich ein rechter Gegenpol, oft mit direkten Verbindungen zur politischen Macht –, aber sie waren auch keine allzu kleine Minderheit. Doch die Situation änderte sich und das evangelische Christentum in seiner pfingst- und neupfingstkirchlichen Ausprägung gewann an Gewicht. Wie René Padilla beobachtete, »entschied sich die Befreiungstheologie (katholischer und evangelischer Orientierung) für die Armen, doch die Armen entschieden sich für die Pfingstkirchen«.

Die Ausbreitung des Christentums im Zeichen der Pfingstkirchen und der neuen Pfingstgemeinden in Lateinamerika ist eine Tatsache. Wenngleich diese Entwicklung von einigen als ein absichtlich herbeigeführtes Phänomen zur Bekämpfung fortschrittlicher theologischer Ansätze durch stark charismatisch ausgerichtete Pastorinnen und Pastoren bezeichnet wird und andere sie als logische Folge eines historischen Transformationsprozesses der evangelischen Welt begreifen, so lässt sich doch nicht bestreiten, dass die breiten Bevölkerungsschichten, an die sich die fortschrittlichen Theologien richteten, etwas suchten, was diese nicht anbieten konnten: Formen der Problemlösung im Hier und Jetzt und Vermittlung eines Gemeinschaftsgefühls in einer Welt, die sie ausgrenzt und an den Rand drängt.

Hybridisierung der evangelischen Welt

Aus den sogenannten historischen evangelischen Kirchen (zu denen die lutheranische, methodistische und presbyterianische Kirche gehören), den evangelikalen (Baptisten, Freie Bruderschaften u. a.) und den Pfingst- und neuen Pfingstkirchen sind vielfach hybride Tendenzen hervorgegangen. Dieses Phänomen der Hybridisierung und des Zusammenschlusses von Elementen erfolgte insbesondere zwischen den beiden letztgenannten Gruppen (den evangelikalen und Pfingst- bzw. neuen Pfingstgemeinden).

Aber stellt diese Entwicklung, die zunächst religiös bedingt ist, auch ein politisches Phänomen dar? Die diskursive Vormachtstellung bei bestimmten moralischen Themen hat das Verhältnis zwischen einem großen Teil des evangelischen Christentums und der Linken erschwert, zumal in Zeiten der Dekonstruktion von Paradigmen und des Aufstiegs des Feminismus. Gleichzeitig wurde der Diskurs der Theologie des Wohlstands als Bestandteil einer kulturellen und religiösen Wendung nach rechts verstanden, die ein »kapitalistisches Evangelium« bedient.

Tatsächlich durchläuft ein Teil der evangelischen Welt einen Prozess der Wendung nach rechts, die Kirchenmitglieder folgen jedoch nicht unmittelbar den Positionen der religiösen Führer. Die Teilnehmer an den evangelischen Gottesdiensten definieren ihre politischen Ansichten weder ausschließlich noch überwiegend in den Kirchen (hinsichtlich der moralischen Perspektiven könnte dies anders sein) und neigen dazu, ihre Stimme unter dem Eindruck von Sozialisationsformen abzugeben, die die Grenzen dieser Räume überschreiten. Dies ist einer der Gründe, weshalb bisher in den meisten Fällen die Versuche zur Aufstellung »evangelischer Kandidaturen« gescheitert sind, also Kandidaturen von Pastoren (oder die von ihnen unterstützt werden) die eindeutig rechts stehen und »moralisieren« (gegen das, was einige Gruppen als »Genderideologie« bezeichnen, um sich ablehnend zum Feminismus und den berechtigten Forderungen von Frauen nach Rechten wie dem Schwangerschaftsabbruch zu äußern).

Der politische Rechtsruck der evangelischen Kirchen ist keineswegs abgeschlossen. Die Behauptung, dass sie »Bolsonaros Machtbasis« gewesen seien, lässt nicht nur die Besonderheiten der Kirchen in Brasilien außer Acht, sondern auch, dass dieselben Sektoren vor einigen Jahren auf Lula setzten. Lula selbst bestritt diese Tatsache nicht, als er wenige Tage nach seiner Entlassung aus der Haft, zu der er zu Unrecht verurteilt worden war, erklärte: »Ich möchte mit der evangelischen Bewegung sprechen. Ich möchte klarstellen, welcher Präsident ihr den meisten Respekt entgegen gebracht hat«. Dem stimmt Daniel Elías zu, ein pfingstkirchlicher Pastor aus Rio de Janeiro: »Es gibt viele Mitglieder der evangelischen Bewegung, die mit Bolsonaro nicht einverstanden sind, aber nichts sagen«.

Zugleich führt die Wahrnehmung, die evangelischen Bewegungen seien immer rechts einzuordnen, zu Vereinfachungen. Schnell wird übersehen, dass trotz der eher rechts zu verortenden Positionen eines Teils der evangelischen Welt etwa in Argentinien, wo dieser zu Demonstrationen gegen Schwangerschaftsabbruch aufrief und sich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe aussprach, ein großer Teil der Mitglieder eben dieser Kirchen sich letztlich doch für die Kandidatur des Peronisten Alberto Fernández (der bereits ein Ministerium für Genderfragen und Diversität geschaffen hat) entschied.

Ähnliche Prozesse lassen sich in anderen Ländern der Region beobachten. Während in Bolivien »die evangelischen Bewegungen« für den Staatsstreich gegen Morales verantwortlich gemacht werden, wird verschwiegen, dass ein großer Teil der Kongressabgeordneten der bolivianischen Movimiento al Socialismo evangelischen Glaubens ist. Silvia Lazarte, die erste indigene Präsidentin der Verfassungsgebenden Versammlung, war das Bindeglied zu diesen Bewegungen. Evo Morales erklärte unter Berufung auf das Gesetz über die Religionsfreiheit, dass »evangelische und katholische Gläubige dieselben Rechte haben«. So sicherte er sich die Unterstützung von Pastorinnen und Pastoren. Etwas Ähnliches geschah in Venezuela, als 2006, bevor der chavistische Umgestaltungsprozess in eine offene Diktatur abglitt, rund eine Million evangelischer Pfingstkirchenangehöriger sich zu »Chavisten und Antiimperialisten« erklärten.

Selbst in Ländern wie dem heutigen Chile, wo rechtsstehende evangelische Sektoren politischen Einfluss zu gewinnen versuchen, gibt es Gegenbeispiele: Pablo Vidal, Abgeordneter der Frente Amplio und Sohn eines Pastors, hat den politischen und moralischen Rechtsruck vieler politischer Repräsentanten, die »sich des evangelischen Glaubens bedienen wollen«, scharf kritisiert und ist dabei so weit gegangen zu erklären, dass »die evangelische Kirche viel fortschrittlicher ist als allgemein angenommen«.

Tatsächlich befinden sich die evangelischen Sektoren, die sich selbst als fortschrittlich verstehen, in der Minderheit, aber sie existieren. Und es ist keineswegs selbstverständlich, dass es in weltanschaulich konservativ ausgerichteten Kirchen keine Gläubigen mit eher links einzuordnenden politischen Positionen gibt.

Wenn sich die evangelische Welt aber in großen Teilen nach rechts wendet, ist es die Aufgabe der Linken, dem zu begegnen. Dabei sollte sie jedoch klarstellen, dass die Linke den evangelischen Glauben keineswegs ablehnt. Dabei hat sie die Wahl: Sie kann sich verschließen und sich auf die Suche nach den wenigen evangelischen Kräften machen, die sich selbst als fortschrittlich, feministisch und der Vielfalt gegenüber aufgeschlossen bezeichnen (diese Kräfte gibt es, und die Linke ist bereits mit ihnen im Dialog), oder sie kann sich auf den langen Weg machen. Auf diesem Weg muss sie mit den Sektoren sprechen, die a priori ihre Ideen zu einem großen Teil ablehnen werden und mit denen sie in Fragen der Moral in Konflikt kommen wird. Die Linke kann es sich aber nicht leisten, diesen Kampf aufzugeben und den Dialog mit Sektoren zu verweigern, die unter Umständen ihre Vorstellungen teilweise ablehnen. Solange sie ohne Zögern behauptet: »Die evangelischen Kräfte stehen rechts, sind antifeministisch und antisozialistisch, stellen sich gegen die Mehrheit der Bevölkerung, verteidigen den Kapitalismus und sind für die USA«, wird sie sie immer gleich verorten. Und eines Tages wird sie vor dem offensichtlichen Ergebnis stehen: Die evangelischen Kräfte (die in religiöser Hinsicht einen großen Teil der Bevölkerungsschichten repräsentieren, die die Linke politisch vertreten möchte) wenden sich tatsächlich nach rechts. Und das wäre ein gewaltiges Problem, welches die Linke vermeiden sollte, selbst wenn sie Gefahr läuft zu scheitern.

(Aus dem Spanischen von Dieter Schonebohm.)

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben