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Über den verblassten Vorbildcharakter des Westens Ex occidente lux?

Wenn man sich heute in der Welt umschaut, wenn man sieht, wie Donald Trump, um seine Wiederwahl zu sichern, in den USA alles daran setzt, die letzten Reste eines zivilisierten Umgangs der Menschen miteinander zu zerstören, wie sein Bruder im Ungeist in Brasilien im Schulterschluss mit der mächtigen Agrarlobby und der Holzmafia das Habitat der indigenen Völker und damit zugleich ein unverzichtbares ökologisches Menschheitserbe zerstört, wie in China die Kommunistische Partei sich daran macht, die letzten Inseln freier Meinungsäußerung zu zerstören und Wladimir Putin sich durch eine Verfassungsänderung zum neuen Zaren aufschwingt, dann könnte man zu dem Schluss gelangen, dass die einst von Europa ausgehende Idee der Demokratie ihre geschichtsmächtige Bedeutung weitgehend eingebüßt hat.

Europa, der Westen, ein Vorbild für die Welt? In den USA, wo die Ur-Katastrophe der Sklaverei und des Rassismus nie ehrlich aufgearbeitet wurde und die einst ruhmreiche Republikanische Partei, die Partei Abraham Lincolns, sich zu einem Sammelbecken von Rassisten und Antidemokraten entwickelt hat, wirkt der einst stolz erhobene Anspruch amerikanischer Außenpolitik »to make the world safe for democracy« nur noch lächerlich. Aber auch in seinem Ursprungserdteil selbst – siehe Polen, siehe Ungarn, siehe Slowakei, siehe den zunehmenden Rechtsradikalismus in nahezu allen Ländern Europas – hat der Gedanke der Demokratie, der einst so unwiderstehlich attraktiv erschien, viel von seinem Sexappeal verloren. Wie ist es möglich, dass eine so einleuchtend positive Idee, wie die in der frühen Aufklärung konzipierte und trotz grauenhafter Rückschläge nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen der Welt triumphierende europäische Demokratie, heute von so vielen Menschen zur Disposition gestellt wird?

Thomas Hobbes hatte im 17. Jahrhundert, für viele seiner Zeitgenossen plausibel, dargelegt, dass der Mensch von Natur aus ausschließlich egoistischen Antrieben folge, weshalb ein zerstörerischer Krieg aller gegen alle nur durch eine mit absoluter Macht ausgestattete oberste Ordnungsgewalt verhindert werden könne. Ihm hatten die humanistisch geprägten Frühaufklärer und dann vor allem Jean-Jacques Rousseau ein optimistischeres Bild des Menschen und der Gesellschaft entgegengesetzt, in dem sich die freie Entfaltung des Individuums mit Gemeinsinn und Rücksichtnahme auf Schwächere paarte. Adam Smith, der in seiner Theorie der ethischen Gefühle durchaus in eine ähnliche Richtung tendierte, glaubte schließlich mit dem Konstrukt des freien Marktes einen Mechanismus ausgemacht zu haben, der gewissermaßen hinter dem Rücken der eigensüchtigen Individuen eine erstrebenswerte Friedensordnung herzustellen versprach, indem er nationalen Wohlstand fördere, der am Ende allen zugute kommen würde. Er selbst war allerdings nicht so naiv wie seine späteren Interpreten, die den freien Markt zu einem Wohlstandsautomaten verklärten, der keinerlei Regulierung bedürfe.

So zeigte sich denn auch bald, dass die auf freien Märkten organisierte Wohlstandsproduktion keineswegs quasi-automatisch allen, schon gar nicht allen zu gleichen Teilen zugutekam. Karl Marx und vor allem die späteren kommunistischen Parteien sahen es daher als einen Geburtsfehler der europäischen Demokratie an, dass sie sich mit der kapitalistischen Marktwirtschaft verbündet hatte, und versuchten es mit staatlicher Planung und vormundschaftlicher Unterdrückung des individuellen Glücksstrebens und des Eigensinns. Nicht so die Sozialdemokraten, die überall, wo sie politischen Einfluss gewannen, mit sozialstaatlicher Daseinsvorsorge die Ungerechtigkeiten der Marktverteilung zu korrigieren trachteten, ohne die Vorteile freier Märkte, der individuellen Freiheit und der Eigeninitiative zu beseitigen.

Heute nach einigen Jahrzehnten des neoliberalen Marktradikalismus, angesichts der rasant zunehmenden Naturzerstörung und einer ins Extreme wachsenden Ungleichheit haben wir allen Grund, noch einmal neu zu überprüfen, was an unserem Demokratiekonzept – auch an dem sozialstaatlich ergänzten – zukunftsfähig ist und was nicht. Stephan Lessenich ist einer von mehreren Autoren, die das europäische Demokratieprojekt, wenn nicht als gescheitert, so doch als in wesentlichen Teilen für dringend reparaturbedürftig ansehen. Und wieder ist es vor allem die typisch westliche, heute auch von den grünen Parteien weitgehend akzeptierte enge Verbindung des Demokratiekonzepts mit der kapitalistischen Marktwirtschaft, die im Zentrum der Kritik steht. Schon in seinem 2016 erschienenen Buch Neben uns die Sintflut hatte Lessenich gezeigt, wie die Wohlstandsproduktion in den reichen Ländern mit einer dramatischen Verschiebung von Kosten in die Armutsländer der Südhalbkugel einhergeht. 2019 veröffentlichte er dann das Buch Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem, in dem nun auch die sozialstaatliche Korrektur der Marktverteilung selbst als »Co-Produzentin der modernen Naturzerstörung« ausgemacht wird. Lessenichs Urteil: »Die Demokratie ist ökologisch nicht unschuldig.«

Vor allem für Sozialdemokraten ergibt sich an dieser Stelle ein Dilemma, denn all die gutgemeinten Anstrengungen von sozialdemokratischen Politikern und Gewerkschaftern, die benachteiligte Mehrheit stärker an der kapitalistisch organisierten Reichtumsproduktion zu beteiligen, haben unter den gegenwärtigen Bedingungen eines finanzmarktgesteuerten globalen Marktes zwangsläufig die ungebremste Fortsetzung des Wachstumskurses und damit der Naturzerstörung und der Verelendung großer Teile des globalen Südens zur Voraussetzung. Nur wenn die ökonomischen Spielregeln selbst verändert werden – das hat in letzter Zeit unter anderen Thomas Piketty deutlich gemacht –, kann es in Europa »gerechter« zugehen, ohne dass der arme Süden weiter abgehängt wird und die Zerstörung der Lebensbasis ungebremst fortschreitet. Die Tatsache, dass in der Corona-Krise eine Rückbesinnung auf den Staat als Akteur stattgefunden hat, mag die Einsicht befördern, dass eine globale Ökonomie ohne regulierende Staatlichkeit notwendig destruktiv wirken muss. Es bleibt freilich bei alldem gültig, was die Ökonomin Maja Göpel ihren Lesern in Unsere Welt neu denken einschärft: »Gerechtigkeit ist der Schlüssel für eine nachhaltige Wirtschaftsweise, wenn sie global funktionieren soll. Nur so kann man verhindern, dass die ökologische Frage gegen die soziale ausgespielt wird. Beide gehören zusammen und lassen sich nur miteinander lösen.«

Nun, da der Klimawandel die drohende Zerstörung der Biosphäre unübersehbar deutlich macht, beginnen auch nüchterne Realisten darüber nachzudenken, wie wir nicht nur unsere Produktions- und Konsumweise, sondern unseren Lebensstil insgesamt verändern sollten, damit unsere Kinder und Enkel die Chance haben, menschenwürdig zu leben. Auf Dauer, das zeigt sich jetzt, ist es mit Effizienzsteigerung und weniger Verschwendung, mit der Förderung alternativer Energien und Recycling, mit ökologischer Landwirtschaft und Digitalisierung der Produktion allein nicht getan. Wir müssen nicht nur die Güter dieser Welt gerechter verteilen, wir müssen auch den Umfang von Produktion und Konsum insgesamt reduzieren. Es geht nicht ohne Subsistenz.

Aber kann man von Menschen überhaupt erwarten, dass sie sich anders verhalten als der radikale Egoist des Thomas Hobbes oder der homo oeconomicus der neoliberalen Wirtschaftstheorie? Der Historiker Rutger Bregman hat in seinem Buch Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit den Nachweis zu führen versucht, dass das negative Menschenbild wie ein »Nocebo« wirkt, wie ein Medikament, das, wenn man daran glaubt und immer mehr gesellschaftliche Subsysteme daran ausrichtet, die soziale Realität tatsächlich zum Negativen hin verändern kann. »Ein System, das Egoismus belohnt, erzieht zum Egoismus«, schreibt auch Maja Göpel. Dennoch, so beide Autoren, erweisen sich die meisten Menschen aller negativen Sozialisierung zum Trotz, viel öfter als von den angeblich so realistischen Ökonomen angenommen, als empathisch und hilfsbereit.

Natürlich kann auch ein Egoist allein aus vernünftiger Abwägung der eigenen Chancen zu einer positiven Verhaltensänderung gelangen. Allein die nicht zu bestreitende Tatsache, dass uns, wenn alle Menschen auf der Erde so lebten wie wir zurzeit in Deutschland, zwei Erden zur Verfügung stehen müssten, kann die Einsicht befördern, dass wir im eigenen Interesse nicht mehr lange so weitermachen können wie seit 250 Jahren. Aber sind die praktischen Schlussfolgerungen, die aus dieser Einsicht zu ziehen sind, Menschen zumutbar, die ihr Lebensglück bisher vor allem im Konsum suchten, die in der amerikanischen Verfassung sogar den »pursuit of happiness«, womit vor allem der ökonomische Erfolg gemeint war, als Grundrecht verankerten? Heißt dies womöglich, dass wir um des Überlebens willen, alle Hoffnung auf ein glückliches Leben aufgeben müssen?

Wenn die zur Erhaltung der Lebensgrundlagen notwendige Verhaltensänderung der Menschen vor allem bedeutete, ihnen Verzicht zuzumuten, wäre das Projekt Rettung der Biosphäre wohl ziemlich aussichtslos. Allerdings sind in den Normalhaushalten der Europäer die Kleiderschränke und die Keller voll mit Dingen, die einmal angeschafft und so gut wie nie genutzt wurden. Wäre es wirklich ein schmerzhafter Verzicht gewesen, wenn wir sie gar nicht erst gekauft hätten? Weniger Konsum bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Menschen ihre Glücksansprüche auf ein Minimum zu reduzieren hätten, genauso wenig, wie immer mehr Konsum uns immer glücklicher macht. Wäre nicht ein weitaus größerer Anteil an frei verfügbarer Lebenszeit für viele Menschen attraktiver als immer mehr Konsum? Könnte nicht das Reparieren und Selbermachen, zusammen mit anderen oder allein, befriedigender sein als Kaufen, Konsumieren und Wegwerfen? Sind nicht die sogenannten öffentlichen Güter wie frische Luft, trinkbares Wasser, gute Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Theater, Museen und öffentliche Erholungsräume nicht wichtiger als privater Konsum? Gilt nicht auch heute, dass die wirklich bedeutenden Glücksmomente in der liebenden Zuwendung zu anderen Menschen, im anregenden Gespräch, im Spiel, in Musik, Literatur, Kunst und im Erlebnis der Natur zu suchen sind?

Ich bin immer noch der Meinung, dass die europäische Demokratie, wenn sie sich aus der schicksalhaften Verkettung mit einem todgeweihten ökonomischen System befreit, der beste Rahmen für das Zusammenleben der Menschen ist. Und ich bin auch der Meinung, dass es die Aufgabe der Sozialdemokratie wäre, entschlossen an diesem Befreiungsakt mitzuwirken. Ich hoffe, dass dieser uns noch rechtzeitig gelingt, bevor gewaltige Naturkatastrophen, Ressourcenkriege und nie dagewesene Flüchtlingsströme die Welt ins Chaos stürzen. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht. In diesem Punkt gilt, was Marcel Reich-Ranicki, Brecht zitierend, am Ende jeder Sitzung des Literarischen Quartetts zu sagen pflegte: »Den Vorhang zu und alle Fragen offen«.

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