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Der Spielball des FIFA World Cup 2022 Quatar © picture alliance / Wunderl 

Wie die Fußball-Weltmeisterschaft zum Prestigeobjekt von Autokraten avancierteFestival der Macht

Es ist ein Zeichen der Ablehnung. Beim Halbfinale der Asienmeisterschaft 2019 werfen Zuschauer des Gastgebers in Abu Dhabi Flaschen und Schuhe auf die Mannschaft aus Katar. Abu Dhabi ist die Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, einer reichen Öl-Monarchie am Persischen Golf. Die VAE sind ein wichtiger Partner Saudi-Arabiens. Beide Staaten sträuben sich gegen den wachsenden Einfluss aus Katar.

Drei Tage nach dem Halbfinale gewinnt Katar das Endspiel gegen Japan und ist erstmals Asienmeister. Politiker und Sportfunktionäre der VAE boykottieren die Siegerehrung. »Der Fußball ist ein Spiegel der Spannungen am Golf«, sagt Jassim Matar Kunji, früher Torhüter in der katarischen Profiliga und nun Journalist beim Fernsehsender Al Jazeera. »Es wurden Sponsorenverträge zwischen den Ländern gekündigt und Spielertransfers abgesagt.«

2017 spitzte sich ein alter Konflikt am Golf zu. Zu jener Zeit verhängte Saudi-Arabien eine wirtschaftliche Blockade über Katar. Die VAE, Bahrain und Ägypten schlossen sich an und setzten ihre diplomatischen Beziehungen mit Doha ebenfalls aus. Ihr Vorwurf: Katar würde Terrorgruppen unterstützen und pflege eine zu große Nähe zur Muslimbruderschaft und zum Iran. Saudi-Arabien stellte Lebensmittelimporte nach Katar ein. Die staatliche Fluglinie Qatar Airways durfte den saudischen Luftraum nicht mehr nutzen.

»Viele Katarer haben eine Invasion von Saudi-Arabien für möglich gehalten«, sagt Jassim Matar Kunji. Die Armee Saudi-Arabiens zählt rund 200.000 Soldaten, die von Katar 12.000. Um die militärische Unterlegenheit auszugleichen, verfolgt Katar eine aufwändige Strategie der Soft Power: mit milliardenschweren Investitionen in Kultur, Wissenschaft – und Fußball, mit Großveranstaltungen, Vereinsbeteiligungen oder Sponsoren-Partnerschaften bei Paris Saint-Germain oder beim FC Bayern München. Die Austragung der Fußball-WM Ende 2022 ist der wichtigste Teil dieser Strategie.

Noch vor gut 50 Jahren lagen die arabischen Machtzentren in Kairo, Bagdad und Damaskus. Die kleinen Scheichtümer auf der Arabischen Halbinsel wie Kuwait, Bahrain oder die VAE spielten noch keine Rolle. Katar, zuletzt unter britischer Kontrolle, hatte im Jahr seiner Unabhängigkeit 1971 gerade mal 100.000 Einwohner und stand unter dem militärischen Schutz Saudi-Arabiens. 1990 marschierte der übermächtige Irak in Kuwait ein, die USA mussten zur Befreiung anrücken. In den kleineren Staaten der Region setzte sich das Bewusstsein durch, dass sie bei einem vergleichbaren Angriff klar unterlegen wären.

Traditionell wurden in Katar die wichtigsten Entscheidungen von einer Handvoll Menschen getroffen, schreibt der Politikwissenschaftler Mehran Kamrava in seinem Buch Qatar: Small State, Big Politics. Seit Jahrzehnten an der Macht: die ursprünglich aus Saudi-Arabien stammende Dynastie Al Thani. 1995 setzte Hamad bin Chalifa Al Thani in einem unblutigen Putsch seinen eigenen Vater ab. In Saudi-Arabien und in den VAE fürchteten die Herrscher, dass ihnen die Macht ebenfalls entgleiten könnte.

Für eine Zukunft ohne Öl und Gas

Der neue Emir wollte Katar aus der Umklammerung Saudi-Arabiens lösen und leitete eine Modernisierung ein. Er ließ Mitte der 90er Jahre den Nachrichtensender Al Jazeera aufbauen und öffnete die Wirtschaft für ausländische Investoren. In Doha entstanden Zweigstellen renommierter Universitäten aus den USA, Großbritannien und Frankreich, drei der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates.

Mit diesen Maßnahmen sicherte sich Katar Kontakte nach Europa und Nordamerika, doch eine globale Öffentlichkeit erhielt die Soft Power noch nicht. »Die Staaten am Golf wollen neue Wirtschaftszweige entwickeln. Denn ihre traditionellen Einnahmequellen Öl und Gas sind endlich«, sagt der Sportwissenschaftler Mahfoud Amara von der Qatar Universität in Doha. »Der Sport dient als Strategie, um auch andere Sektoren wie Tourismus, Handel oder Transportwesen bekannter zu machen.«

Das katarische Herrscherhaus ließ eine der größten Sportakademien der Welt bauen, die Aspire Academy, eröffnet 2005. Dutzende internationale Wettbewerbe finden nun jährlich in Doha statt. Weltweit Schlagzeilen machte im Dezember 2010 die Vergabe der Fußball-WM 2022. Kurz danach erwarb Katar die Mehrheit von Paris Saint-Germain. Zudem wurde Qatar Airways der erste Trikotsponsor des FC Barcelona. Immer mehr Spitzenklubs verbringen inzwischen Trainingslager in Doha.

Katar investierte weit mehr als 1,5 Milliarden Euro in den europäischen Fußball. In Deutschland, England oder Frankreich steht die Finanzabwicklung in der Kritik, schließlich seien Besitzer und Sponsor kaum voneinander zu trennen. Aber in der arabischen Welt wächst der katarische Einfluss. Das ärgert den langjährigen Hegemon Saudi-Arabien, sagt der Experte für Sportökonomie Simon Chadwick: »Eine Agentur wollte nachweisen, wie ungeeignet Katar für die WM sei. Dann stellte sich heraus, dass die Kampagne von Saudi-Arabien finanziert wurde.«

Machtverschiebung nach Osten

In der Golfregion konkurriert Katar um Investoren, Touristen und Fachkräfte vor allem mit Abu Dhabi und Dubai, den einflussreichsten Kleinstaaten der VAE. Das größere Dubai setzt auf Einkaufszentren, Familienunterhaltung und Großereignisse wie die Expo. Der Flughafen in Dubai ist ein führendes Drehkreuz, auch dank Fußball. Die staatliche Fluglinie Emirates ist seit Beginn des Jahrtausends als Sponsor in großen europäischen Ligen aktiv.

Das kleinere Abu Dhabi legte 2008 nach und kaufte sich bei Manchester City ein. Als Trikotsponsor wirkt die staatliche Fluglinie Etihad, Konkurrenz von Emirates und Qatar Airways. Die zuständige »City Football Group« spannte ein globales Netzwerk und erwarb Vereinsanteile in New York, Melbourne oder Mumbai, auch in Chengdu im Südwesten Chinas. Etihad möchte Chengdu als ein Drehkreuz für Ostasien entwickeln. Und in Katar wiederum wurde das Stadion für das WM-Finale 2022 von chinesischen Firmen gebaut. »Wir sehen in der Fußballindustrie eine massive Machtverschiebung nach Osten«, sagt Simon Chadwick.

Der Fußball fungiert am Golf als Brennglas auf wirtschaftliche Machtkämpfe, Gebietsansprüche und religiöse Spannungen. Katar bezog Stellung während des Arabischen Frühlings und danach: für die Muslimbruderschaft in Ägypten, für islamische Kräfte in Tunesien, für die Rebellen in Libyen gegen Gaddafi und in Syrien gegen Assad. Zudem verweigerte Katar der saudischen Militärallianz im Krieg in Jemen die bedingungslose Unterstützung.

Saudi-Arabien und seine Verbündeten riefen 2014 zunächst ihre Botschafter aus Katar ab. Riad forderte unter anderem die Schließung von Al Jazeera und der Qatar Foundation, zwei der wichtigsten Institutionen für Doha. Katar wehrte sich. Im August 2017 wurde der Wechsel des brasilianischen Spielers Neymar vom FC Barcelona zu Paris Saint-Germain bekanntgegeben, für die Rekordsumme von 222 Millionen Euro. »Eine strategische Meisterleistung«, sagt der Politikwissenschaftler Danyel Reiche, Herausgeber des Buches Sport, Politics and Society in the Middle East: »Kurz nach Beginn der Blockade veränderte Katar das Narrativ in den Medien. Der Transfer war unfassbar teuer. Aber alle redeten nur noch über Fußball und nicht mehr über das isolierte Katar.«

Die Spirale der Feindseligkeiten hätte sich wohl weitergedreht, doch dann kam Corona. Der ohnehin niedrige Öl-Preis brach ein, ausländische Investitionen gingen zurück, der noch junge Tourismussektor verlor zehntausende Arbeitsplätze. Anfang Januar 2021 beendete Saudi-Arabien nach dreieinhalb Jahren die Blockade gegen Katar. »Es ist ein fragiler Frieden«, sagt der Nahost-Experte Kristian Ulrichsen, der ein Buch über die Golfkrise geschrieben hat. »Die Golfstaaten haben eingesehen, dass sie in dieser schwierigen Zeit auf eine Zusammenarbeit angewiesen sind.« Auch Riad und Dubai wollen von der WM 2022 profitieren. Wenn schon nicht mit Turnierspielen, dann mit Trainingscamps, Sponsorenevents oder der Beherbergung von Fans. Im Gespräch sind auch gemeinsame Technologieplattformen und eine Strategie gegen die hohen Diabetes-Raten in der Region, um langfristig das Gesundheitssystem zu entlasten.

Keiner der Staaten am Persischen Golf wird demokratisch regiert, eine Gewaltenteilung existiert nicht. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen für das Jahr 2021 liegt Katar von 180 Staaten auf Rang 128. Homosexuelle müssen mit Verfolgung rechnen. In Katar sind Parteien verboten. Unabhängige Medien, die die Erbmonarchie hinterfragen, gibt es nicht. Wenzel Michalski von Human Rights Watch sieht es kritisch, dass Vereine aus demokratisch regierten Ländern wie der FC Bayern die katarische Außenpolitik mit ihren Partnerschaften aufwerten: »Wenn europäische Klubs auf den Profit schon nicht verzichten wollen, dann könnten sie zumindest den wenigen kritischen Aktivisten vor Ort mehr Interesse entgegenbringen. Der Fußball sollte sich regelmäßig von Menschenrechtsorganisationen beraten lassen.«

In Katar sind Proteste wie 2019 in Algerien oder im Libanon unwahrscheinlich. Der Emir hat im Staatswesen ein dichtes Netz aus Familienmitgliedern und Freunden geknüpft, viele von ihnen mit mehreren Ämtern, durchaus üblich am Golf. Die Herrscherfamilie lässt die Bevölkerung am Wohlstand teilhaben, zumindest etwas mehr als 250.000 Staatsbürger. In Bildung, Gesundheitsversorge und Jobvergabe genießen sie Privilegien, ihr Pro-Kopf-Einkommen ist eines der höchsten weltweit.

Zugeständnisse an konservative Kreise

In der Aufbauphase des katarischen Staates in den 70er Jahren hatte das Herrscherhaus noch mehr Widerstand zu fürchten. Gastarbeiter kamen damals überwiegend aus Ägypten, Palästina und Jemen. Sie sprachen die gleiche Sprache wie die Einheimischen, aber viele von ihnen hatten antimonarchistische Einstellungen. Nach dem Einmarsch des Irak in Kuwait 1990 bemühte sich die katarische Regierung um Arbeitsmigranten aus Südasien, die sie kulturell leichter abschotten konnte. Die Arbeiter aus Indien, Bangladesch oder Pakistan erhielten einen Kafala, einen Bürgen, der ihre Pässe einbehalten, ihre Ausreise erschweren, ihren Jobwechsel verhindern konnte. Diese Arbeiter ermöglichten die rasante Entwicklung von Doha. Viele von ihnen erkrankten bei den hohen Temperaturen oder kamen ums Leben.

Von den rund 2,8 Millionen Einwohnern haben nur zehn Prozent einen katarischen Pass. In keinem anderen Land ist der Anteil an Einwanderern so hoch. »Einige Geschäftsleute haben Bedenken, dass sich Katar durch die WM zu sehr öffnen könnte«, sagt der Politikwissenschaftler Mehran Kamrava von der Georgetown Universität in Doha. Sie fürchten, dass Fußballfans 2022 Alkohol in der Öffentlichkeit trinken und Schwule ihre Sexualität nicht verbergen. 2018 ließ der Emir die Alkoholpreise durch Steuern massiv erhöhen, an der Qatar Universität ersetzte er als Hauptsprache Englisch durch Arabisch. Zugeständnisse an konservative Kreise, denn nur mit innerpolitischer Stabilität lässt sich außenpolitisch Soft Power betreiben. Mehran Kamrava: »Durch die WM kann die Politik Reformen schneller voranbringen, die Teile der Wirtschaft nicht wirklich wollen.« Es sind Reformen, die Saudi-Arabien und die VAE mitunter als Provokation empfinden.

Seit der Vergabe der WM an Katar 2010 steht das Emirat vor allem in Westeuropa massiv in der Kritik. Dieses Narrativ hat sich erst 2021 etwas abgeschwächt, als Doha bei der Evakuierung von zehntausenden Menschen aus Afghanistan behilflich war, nach der dortigen Machtübernahme durch die Taliban. Und auch bei möglichen Gasengpässen in Europa könnte Katar einspringen. Auch deshalb begründete Wirtschaftsminister Habeck vor Ort eine das russisches Gas ersetzende Energiepartnerschaft. In jedem Fall wird die WM Doha endgültig auf die Weltkarte bringen.

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