Menü

Kwame Anthony Appiah über Identität Fiktionen der Zugehörigkeit

Der Begriff der Identität schillert in zahlreichen Farben. Das ist umso bemerkenswerter, als er im frühen 20. Jahrhundert in sozialwissenschaftlichen Theorien nahezu unbekannt war. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann er eine Rolle zu spielen, vor allem in der Sozialpsychologie, die mit dem Werk von Erik Erikson verbunden ist. Erikson, der in Frankfurt am Main geboren wurde, in Süddeutschland aufwuchs und nach 1933 über Kopenhagen in die USA emigrierte, schwankte zwischen einem individuellen und kollektiven Identitätsbegriff. Die heutigen Neurowissenschaften und die analytische Philosophie beschäftigen sich derzeit mit der Einsicht, dass in den Tiefen des menschlichen Gehirns ein »Ich« gar nicht existiert (beispielsweise in Thomas Metzingers Ego-Tunnel). In den Politischen Wissenschaften steht der Begriff der Identitätspolitik in hohem Kurs. Nach Francis Fukuyama und anderen Beobachtern fiel die Krise der Linken in den letzten Jahrzehnten mit ihrer Hinwendung zur Identitätspolitik zusammen. Anstatt die Interessen einer Arbeiterklasse zu vertreten, habe sie sich einzelnen Gruppen von Minderheiten zugewandt. Manche Autoren führen die Niederlage von Hillary Clinton gegen Donald Trump darauf zurück. Nicht zuletzt vereinnahmt die sogenannte »Identitäre Bewegung« den Begriff für ihre völkische, antiislamische und rassistische Ideologie.

Insofern herrscht Klärungsbedarf. Gut, wenn da einer mal nachschaut. Kwame Anthony Appiah ist Professor für Philosophie und Rechtswissenschaften an der New York University und schon aus biografischen Gründen für das Thema prädestiniert: Seine Mutter stammt aus der englischen Oberschicht. Ihr Stammbaum lässt sich zurückverfolgen bis zu einem Normannenkönig im 13. Jahrhundert. Sein Vater ist afrikanischer Herkunft und stammt aus Asante, einer Region in Ghana. Kwame Anthony Appiah ist Person of Color und homosexuell, spricht Queen's Englisch und verkörpert damit höchst unterschiedliche Identitäten. In seinem Buch Identitäten – Die Fiktionen der Zugehörigkeit erkundet er den Begriff in fünf Kapiteln über Religion, Land, Ethnie, Klasse und Kultur.

Unbestritten ist, dass das Selbstgefühl eines jeden Menschen von seiner Herkunft geprägt wird, angefangen bei der Herkunftsfamilie, der Nationalität, dem Geschlecht bis hin zu Kategorien wie Klasse, Sexualität und Religion. Identität geht stets mit Kategorisierungen einher, und wenn wir Identitäten verstehen wollen, müssen wir zunächst eine Vorstellung davon haben, wie solche Kategorien entstehen. Allerdings zeigt sich schnell: Je eingehender man sich mit ihnen beschäftigt, desto brüchiger und unzuverlässiger erweisen sie sich. Manchmal bestehen sie nur aus Illusionen.

Appiahs Buch setzt sich aus verschiedenen Vorträgen zusammen, die er in mehreren Ländern verschiedener Kontinente gehalten hat. Er argumentiert nicht streng, sondern erzählt eher im Plauderton, macht manchmal auch einen Witz. Für den Autor transportiert der Witz eine zentrale menschliche Eigenschaft. »Wir sind Gruppenwesen. Wir gehören nicht einfach zur Menschheit, sondern geben unseren eigenen Leuten den Vorzug und lassen uns leicht dazu überreden, uns gegen Außenstehende zu wenden. Identitäten können aus dem Ruder laufen und schädlich werden. So problematisch Identität sein mag, kommen wir doch nicht ohne sie aus. Soziale Identitäten mögen auf Irrtümern beruhen, doch sie geben uns Konturen, Gewohnheiten, Werte, eine Art von Sinn und Ziel.«

Eine Identität zu haben kann einem ein Gefühl davon vermitteln in die soziale Welt hineinzupassen. Das heißt, jede Identität bietet die Möglichkeit zu einem »Wir«. Wenn Identitäten sich verfestigt haben, neigen Menschen dazu, das Bild eines typischen Angehörigen dieser Gruppe zu zeichnen. So entwickeln sich Klischees. Sie mögen mehr oder weniger in der Realität begründet sein, doch in einigen Punkten sind sie fast immer falsch, eben weil es sich um Konstrukte handelt.

Ebenso unzuverlässig ist der Begriff der Nation. Grenzen sind ständig in Bewegung: Allein im letzten Jahrhundert wandelte sich der afrikanische Kontinent von Kolonialreichen in mehr oder weniger souveräne Nationalstaaten, der europäische Kontinent sah Nationalstaaten kommen und gehen, die neu geschaffene Grenze zwischen Indien und Pakistan setzte Völkerwanderungen von 15 Millionen Menschen in Gang. Nach dem Untergang der Sowjetunion entstanden im Baltikum, im Kaukasus und in Zentralasien weitere unabhängige Staaten.

Appiahs Fazit: »Man schaut auf das glänzende Gemälde der Nationalstaaten und sieht, dass die Farbe noch feucht ist«. Ganz allgemein gilt: Die Menschen leben nicht in Nationalstaaten mit einheitlicher Kultur, Religion und Sprache und haben dies nie getan. Das mag nicht neu sein, aber es scheint wichtig, immer wieder daran zu erinnern.

Mahatma Gandhi soll auf die Frage, was er von der westlichen Zivilisation halte, geantwortet haben: »Ich denke, das wäre eine sehr gute Idee.« Appiah zögert, sich dieser Meinung anzuschließen, denn er glaubt, dass auch der sogenannte Westen nicht mehr ist als ein Konstrukt, mal geografisch, mal politisch, mal ideologisch. Er weist darauf hin, dass das Erbe der Antike im Mittelalter Teil der muslimischen Kultur und Gelehrsamkeit war. Dass das Werk von Aristoteles nicht in Vergessenheit geriet, verdanken wir dem im 12. Jahrhundert im muslimischen Cordoba geborenen Ibn Ruschd, der sich lateinisch Averroes nannte. Am Hof Karls des Großen fand man keine Rabbiner oder muslimische Gelehrten, in al-Andalus dagegen gab es Bischöfe und Synagogen. Westlicher Kultur wohne ebenso wenig eine Art identitätsbildende Essenz inne wie Religion, Nation, Hautfarbe oder Klasse. Stets sind dabei fiktionale Anteile im Spiel. Wenn diese uns bewusst werden, könnten wir auch gelassener damit umgehen.

Kwame Anthony Appiah: Identitäten – Die Fiktionen der Zugehörigkeit. Hanser Berlin, Berlin 2019, 336 S., 24,00 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben