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Wie die Gegenwart von der Zukunft erzählt Flanieren zwischen Kollaps und Hoffnung

Darüber, wie Zukunft imaginiert, erforscht oder dargestellt werden kann, wird vermutlich seit den Anfängen menschlichen Lebens nachgedacht. Um die Zukunft von Zukunftsreflexionen und -diagnosen muss man sich keine Sorgen machen. Sie sind krisenresistent. Gerade in katastrophischen Zeiten ist nicht nur der Zukunftsdiskurs sehr lebendig, die künstlerischen Auseinandersetzungen mit ihm sind es auch. Dabei haben Literatur und Film, bildende und andere Künste weniger eine prognostische oder prophetische Funktion, als dass sie für die Bedingungen sensibilisieren, unter denen in der Gegenwart Zukunft konzeptualisiert wird. Wie dies in literarischer Form aussehen kann, lässt sich zum Beispiel an Anna Hetzers Kurztext Magnetischer Schaum zeigen:

»zeit wie schaum. schnappt nach morgen. blubbert und kollabiert. wohin sich festkleben. am alarmschaum überquellender displays. mit einem laserschwert zukunft erobern. snrrr snrrr. gegenwart klingt so scifi. so spekulation.«

Bereits in den ersten Zeilen dieses lediglich neunzeiligen, in der Zeitschrift Metamorphosen veröffentlichten Prosatextes werden die Idee eines Kollapses, das Narrativ der Eroberung, das Gefühl der digitalen Überforderung und vieles mehr beschrieben, ohne dass eine konkrete Zukunft entworfen würde.

Auf welche Weisen wird insgesamt in einer Gegenwart, die sich selbst, wie zu zeigen sein wird, als kollabierend oder mit Rückgriff auf die Textsorten Science-Fiction oder Dystopie als (post)apokalyptisch wahrnimmt, von der Zukunft erzählt? Wie lässt sich eine Zukunft literarisch darstellen, die bereits in eine alarmistische, zur Bubble-Bildung neigende Gegenwart hineinragt?

Climate Fiction

Zum einen hat sich im Kontext des Klimawandeldiskurses zumindest innerhalb der westlichen Gegenwartsliteratur eine Strömung entwickelt, die seit der entsprechenden Begriffsprägung durch den Journalisten Dan Bloom im Jahr 2007 als Cli-Fi oder Climate Fiction bezeichnet wird und, wie die Benennung bereits andeutet, aus den Genres Science-Fiction (Sci-Fi) und Thriller hervorgegangen ist. Es handelt sich um ein engagiertes Genre, das sich insbesondere durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem anthropogenen Klimawandel auszeichnet. Ein prominentes literarisches Beispiel dafür ist Kim Stanley Robinsons 2020 erschienener Roman The Ministry for the Future, der nicht nur naturwissenschaftliche Daten, Modelle und Szenarien, psychologische und soziologische Befunde und fiktive Figuren, Institutionen und Ereignisse verbindet, sondern episodenweise auch aus einer mehr-als-menschlichen Perspektive – u.a. derjenigen des Finanzmarktes oder eines Codes – erzählt.

Zum anderen lassen sich neben einer explizit engagierten Literatur wie der Climate Fiction weitere Varianten des jüngsten (deutschsprachigen) Zukunftserzählens beobachten, in der drei Richtungen besonders deutlich sichtbar werden: eine faktenorientierte Beschreibung der Gegenwart, eine obsessive Zuspitzung des dystopischen (Gegenwarts-)Moments und eine auf utopische Denkfiguren zurückgreifende Neujustierung der Gegenwart.

»Das Sachbuch, also nicht fiktionales Erzählen, scheint das Genre der Stunde bzw. der Zukunft zu sein.«

Vor dem Hintergrund, dass der US-amerikanische Autor Robinson Science-Fiction als Realismus unserer Zeit bezeichnet und damit nicht auf das Verklärungspostulat des Realismus des 19. Jahrhunderts, sondern auf ein wirklichkeitsnahes Erzählen in der Form eines – wie es der Literatur- und Kulturwissenschaftler Moritz Baßler formuliert – populären Realismus referiert hat, scheinen das Sachbuch (im Bereich Film wäre es der Dokumentarfilm) und damit verbunden faktuales, also nicht fiktionales Erzählen die Genres der Stunde bzw. Zukunft zu sein. Ein prototypischer Vertreter dieser ersten Richtung des Zukunftserzählens ist Frank Schätzing, der Verfasser des 2004 veröffentlichten Ökothrillers Der Schwarm. In seinem 2021 erschienenen Sachbuch Was, wenn wir einfach die Welt retten? Handeln in der Klimakrise verkündet der Erfolgsschriftsteller, dass er aufgrund der (klima)katastrophischen Gegenwart keine Fiktionen mehr entwerfen könne bzw. wolle, sondern auf (relativ) wenigen Seiten viel Wissen zusammentrage, um die Leser:innen zur Weltrettung – so der Aufruf im Vorwort der aktualisierten Auflage des Buches – zu bitten. Der vormalige Romanautor versteht sich nun ausschließlich als Teil der »Science-Faction«, so die Überschrift des letzten Kapitels seines Klimaratgebers. Letzterer wird vom Verlag nichtsdestotrotz als »Pageturner zur Klimakrise« vermarktet.

Eine Überformung bzw. Radikalisierung der dystopischen Züge der Gegenwart – die zweite Richtung des Zukunftserzählens – unternimmt etwa Rudi Nuss' 2022 veröffentlichter Debütroman Die Realität kommt. In Begleitung einer genderfluiden Hauptfigur können die Leser:innen den Schauplatz Enden durchstreifen, der das Ende im Namen trägt. Dort lebt die Figur mit einem befreundeten Paar in einem Wohnwagen auf einer Mülldeponie und verbringt viel Zeit in virtuellen Realitäten, die aufgrund ihrer fehlenden Wartung mindestens ebenso gefährlich sind wie die in mehrerlei Hinsicht toxische erste Lebenswelt. Bedroht werden die Figuren nicht nur durch Cyborgs oder Avatare anderer User:innen, sondern auch durch Glitches, die u.a. dafür verantwortlich sind, dass untergehende Sonnen am Horizont festhängen, Figuren spurlos verschwinden. Diese Systemfehler haben in der ersten Realität eine Entsprechung: in (grundlosen) Pools, die im Unterschied zu den virtuellen Realitäten eine finale Immersion versprechen.

Virtuelle Realitäten, so toxisch wie die erste Lebenswelt.

Aufgrund der immersiven Funktion von Medien im weiteren Sinn fühlt man sich bei der Lektüre an David Foster Wallace' 1996 veröffentlichten Kultroman Infinite Jest (deutsch: Unendlicher Spaß) erinnert. Dass ein Zerfall nicht zwingend das Ende, sondern auch das (infinite) Enden bedeuten kann, signalisiert nicht nur der Ortsname, sondern auch eine Anrede der Leser:innen zu Beginn von Nuss' Buch: »Die Landschaft endet nicht an deinen Displays; sie ragt in dich und du in sie. Was auch immer du da tust, stell dich der Fläche. Stell dich der Geschwindigkeit, mit der die Welt zerfällt.«

Wie dies vonstattengehen kann, führen die Romanfiguren vor. Gemeinsam und lustvoll morphen sie durch zerfallende digitale Landschaften. Trotz des omnipräsenten Zerfalls von Realitäten betreibt Nuss keine Kollapsologie mit literarischen Mitteln, sondern verfasst eine Art von »Collaps Porn«, in der Server von zärtlichen Rehen und brennenden Palmen träumen und nicht ein Weltuntergang, sondern diverse Weltuntergänge bildreich imaginiert werden.

Über den Menschen hinaus

Eine dritte, utopisch grundierte Richtung gegenwärtigen Zukunftserzählens zeigt sich beispielsweise in Anja Kümmels 2022 veröffentlichter Kurzgeschichte Ordnung und Fortschritt. Wie The Ministry for the Future verfügt der Text über Episoden, die aus einer mehr-als-menschlichen Perspektive erzählt sind. Er berücksichtigt nicht nur die Menschheits-, sondern auch die Naturgeschichte, wie es beispielsweise Dipesh Chakrabarty in seinem 2021 veröffentlichten Sachbuch The Climate of History in a Planetary Age für ein umfassendes Verständnis des Klimawandels gefordert hat. Kümmels Road Novel beginnt mit einem Hinweis auf eine riesige rote Sonne, die wie die Sonnen in Nuss' Roman nicht mehr untergeht, und fokussiert dann eine Konstellation von Mutter und Tochter während der Flucht durch postapokalyptische Landschaften, wie man sie aus Hollywood-Blockbustern kennt.

Die unbelebten Landschaften werden allerdings von zeitlich und örtlich fernen Lebensräumen und deren Bewohner:innen flankiert, die in der Wir-Form von ihrem Dasein erzählen und zu denen die Tochter einer menschlichen Mutter und eines exterrestrischen Vaters eine spezielle Verbindung zu haben scheint. Gegen Ende des Textes wird angedeutet, dass die bisherige Ordnung des Fortschritts durch eine des Rückschritts abgelöst und eine Regression des Menschen zur Pflanze initiiert und gefeiert werden könnte. Damit geht die Idee einer – mit Jonathan Lear und seinem 2008 veröffentlichten Buch Radical Hope. Ethics in the Face of Cultural Devastation gesprochen – radikalen Hoffnung, einer neuen Form von Ethik einher, die organische und anorganische Entitäten gleichermaßen berücksichtigt. Auf der titelgebenden Skala der Anthologie Kollaps und Hope Porn. 13 Zukunftsaussichten (2022), in der Kümmels Text, aber auch ein anderer Text von Nuss erschienen ist, kann Ordnung und Fortschritt folglich in der Nähe des Pols Hope Porn verortet werden.

Eine Sonne, die nicht mehr untergeht und postapokalyptische Landschaften.

Während Schätzing mit seinem Sachbuch den Weltuntergang aufzuhalten versucht, Nuss' Roman das Game Over auf unterschiedlichen (V-)Realitätsebenen durchdekliniert und Kümmels Erzählung nach einem finalen Off aller Displays den gemeinsamen Rückschritt als nachhaltige Lösung apostrophiert, fokussiert der zu Beginn des Artikels zitierte Text Magnetischer Schaum die Zeit knapp vor dem Ende und damit auch den Zukunftsdiskurs selbst: »vermesse die position übergeschäumter visionen. blasen zerplatzen. die wand des aquariums. kurz vor game over. oder anders gesagt schaum und rausch.«

»schaum und rausch« und kein Ich

Hetzers Prosatext enthält konkrete Gegenwartsreferenzen (z.B. auf die »Klima­kleber« oder das Aquadom), fordert jedoch nicht zum Handeln auf. Die (wort)spielerische Formulierung »schaum und rausch« spielt (wiederum) auf eine ikonische Gartenszene in Goethes Faust an, in der Faust seine zur Redensart kondensierte Haltung zum Christentum in Worte fasst: ›Name ist Schall und Rauch‹. Hetzer hat in der Anthologie Kollaps und Hope Porn bereits einen Essay mit dem Titel »Schaum. Ein Cybertrip durch den Garten Erde« veröffentlicht, der das Flanieren durch den im Internet repräsentierten Garten Erde als Ausgangskonstellation für eine Erkundung der Zukunft beschreibt. Die auf eine Ich-Instanz verzichtende spätere Schaum-Prosa hingegen (re)poetisiert vor allem Informationen, Konzepte und Formulierungen und vereint so die behandelten Erzählregister Sachbuch, Dystopie und Utopie, um Facetten des Zukunftsdiskurses der Gegenwart offenzulegen. Dass Hetzers Kurztext in der letzten Ausgabe der Zeitschrift Metamorphosen erschienen ist, die sich aufgrund einer (bzw. ihrer) fehlenden Zukunft der Thematik Gegenwart widmet, macht dann gar nichts. Denn ihre (literaturförmige) Gegenwart hat den (Schreib-)Finger ohnehin am Puls der Zukunft.

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