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Florian Malzacher über neue Tendenzen im politischen Theater

Ja, ja, ja! Florian Malzacher kennt sich bestens aus! Als langjähriger Dramaturg und Kurator des transdisziplinären Avantgarde-Festivals Steirischer Herbst und dann künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festivals ist er sicher viel gereist und hat sehr viel gesehen. Und als Absolvent des Studienganges Angewandte Theaterwissenschaften der Universität Gießen hat er seine Ausbildung nicht zuletzt auch damit verbracht, die gesellschafts- und kulturtheoretischen Diskursmassive zu durchsteigen, von denen man nicht genau sagen kann, ob sie die Entwicklungen der zeitgenössischen Darstellenden Künste analytisch auf die Begriffe bringen – oder so manchen Künstler/innen auch als Orientierungsmarken oder gar Normbegriffe für die künstlerische Bewältigung der Gegenwart der postindustriellen Zivilisationen dienen. Ja: Malzacher liefert »einen sehr guten Überblick über das aktuelle postdramatische Geschehen«, wie Simon Strauß in der FAZ lobte. Er weiß, worum es sich handelt und er bezieht deutlich Position: »für einen starken Begriff des Politischen und für ein Theater, das Missstände nicht nur spiegelt, sondern mithilft, die Welt zu verändern«, wie der Klappentext seines aktuellen Buches ankündigt.

Eigentlich könnte man es dabei schon fast bewenden lassen: Malzacher bietet eine kenntnisreiche Zusammenschau der wichtigsten Ansätze theatraler Interventionen in gesellschaftliche Problem- und Konfliktfelder – die inzwischen auch in Stadt- und Staatstheatern und vor allem auf nationalen und internationalen Festivals zu festen Positionen der Programme, und sogar des Allerheiligsten des deutschen Stadt- und Staatstheaters, des Repertoires erhoben werden.

So ist das Buch Gesellschaftsspiele ein sehr praktisches Kompendium für Kulturpolitiker/innen und -interessent/innen, die sich über die neuesten Tendenzen von Theaterformen jenseits der klassischen Dramaturgien informieren möchten – gewissermaßen ein Muss für alle, die es angeht oder angehen sollte, als Grundlage für das informierte Foyergespräch oder die Kulturdebatte in Parlamenten und Ausschüssen! Die Erschließung durch ein Namensregister scheint auch darauf abzuzielen: Wer sich also knapp und korrekt über die diskursive Verortung von (beispielsweise) Reverend Billy, Mette Ingvartsen oder die Clandestine Insurgent Rebel Clown Army (C.I.R.C.A) (aber natürlich auch den »üblichen Verdächtigen« wie Rimini Protokoll, She She Pop oder Gob Squad) informieren möchte, findet hier sofort die »Stellen« mit den grundlegenden Auskünften.

Eingebettet in prägnant formulierte Skizzen der gesellschafts- und kommunikationstheoretischen Diskurse seit etwa Fukuyamas Ende der Geschichte präsentiert Malzacher in fünf gut definierten Kapiteln die wichtigsten Erscheinungsformen und Akteur/innen der theatralen Praxen auf der Schwelle zwischen jeweils aktuellem politisch-sozialem Aktivismus und kritischer Reflexion gesellschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklungen. Gleichsam als ikonische Urszene beschreibt er die Arbeit »Bitte liebt Österreich!« von Christoph Schlingensief aus dem Jahr 2000 in Wien, mit der der Aktionskünstler die strukturell rassistische Tiefenspaltung der österreichischen Mehrheitsgesellschaft ans Tageslicht und die entsprechenden Widersprüche zum Tanzen brachte.

Es geht Malzacher um ein Theater der expliziten Kritik der gesellschaftlichen Repräsentationsweisen, unter anderem am Beispiel von Anta Helena Reckes »Schwarzkopie« (2017) der Inszenierung Mittelreich von Anna-Sophie Mahler (2015) an den Münchener Kammerspielen: Die Aneignung der »weißen« Inszenierung einer deutschen Familiengeschichte (nach dem Roman von Josef Bierbichler) durch die schwarze Regisseurin, die alle Figuren mit schwarzen Akteur/innen besetzt hat, die samt und sonders als Gäste engagiert werden mussten – in Ermangelung von schwarzen Ensemblemitgliedern. Und es geht um den Modus der Repräsentation überhaupt am Theater, die Ablehnung gegenüber anderen, »deren Probleme, Schuld und Leid« zu verhandeln; stattdessen wenden »Autorenregisseure wie John Jesurun oder René Pollesch und Kollektive wie Gob Squad oder She She Pop« ihre Blicke »auf sich selbst, ihre popkulturelle Umwelt und auf das Theater als Medium«.

Über die Diskurse der Identitätspolitik(en) als Gegenstand des politischen Theaters enthalten Malzachers Darlegungen verhältnismäßig wenige Beispiele aus theatraler Praxis. Sie sind wohl auch eher als Memento zu verstehen, sich der Forderungen, Reaktionen und Stolpersteine zu vergewissern, mit denen Betroffene sich gegen sprachliche oder bildliche Diskriminierung wehren – bis hin zu den Praktiken der sogenannten Cancel Culture, die Malzacher eher dilatorisch und auch mit einem gewissen Verständnis behandelt: »Was sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte aufgestaut hat, entlädt sich nicht immer präzise oder wohldosiert.«

Weitere Kapitel behandeln die Themen gesellschaftlicher Partizipationsmodelle in der theatralen Praxis – öfters in Gestalt von »Mitmachtheater«, das Malzacher auch kritisch beleuchtet, bis hin zu den Formaten der »Immersion« (wie das gescheiterte Projekt »DAU« des russischen Filmemachers Ilja Chrschanowski), die von den Zuschauer/innen verlangen würden, »dass man sich einer künstlerischen Vision ganz ergibt und (…) in eine Partizipation ohne Reflexion und ohne politisches Bewusstsein [zwingt]«.

Das Kapitel »Kunst und Aktivismus« behandelt die Formen performativer Aktionen im öffentlichen Raum, die sich eindeutig politischen oder sozialen Themen widmen und sich der eindeutigen Zuordnung zur Sphäre der Kunst bzw. der Politik entziehen. Hier geht es um Pussy Riot, die russische Gruppe Woina, Reverend Billys Church of Stop Shopping und – natürlich! – das Zentrum für politische Schönheit, deren Ansatz Malzacher grundsätzlich positiv bewertet: »Die Aufführungen des ZPS (…) führen Momente der Fiktion und widersprüchliche Bilder in die Realität ein und erzeugen so Verschiebungen in der Wahrnehmung, die Möglichkeiten des Handelns aufzeigen – darin liegt ihr radikales Potenzial.«

Und natürlich gehören in diesen Zusammenhang die Aktionsformen von Occupy Wallstreet und Milo Raus performative Versammlungen General Assembly in Berlin, Moskauer/Zürcher Prozesse und Kongo Tribunal, die Formen justizförmiger Verhandlungen zu tatsächlichen Vorgängen nachbilden, in denen lediglich Rahmen und Verfahrensweisen gescripted sind. Theater sei »zum Schauplatz zahlreicher gesellschaftlicher Versammlungen auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Wirklichkeit geworden; zu einer demokratischen Arena von Fantasie und Vorstellungskraft. Indem es seinen unique selling point als ein Medium nutzt, das temporäre Gemeinschaften erzeugen kann, die durch Raum, Zeit und wechselnde Regeln definiert werden, spiegelt dieses Theater Gesellschaft nicht nur wider, sondern ermöglicht es, soziale und politische Verfahrensweisen auszuprobieren, zu analysieren, zu performen, darzustellen, zu testen, zu strapazieren oder gar neu zu erfinden.«

Schaut man genau hin, geht es Malzacher also um die Indienststellung von Theater als Medium für »das Politische«: »Das Politische ist das sich immer verändernde, unsichere, kontingente Fundament der Politik. Es ist das, was die Politik immer hinterfragt und nur so eine lebendige Demokratie ermöglicht.« Unter diesem Rubrum der »Kunst für das Politische« reklamiert Malzacher einfach und ohne dies weiter zu begründen den Begriff »Theater« für diese Praxen, denen vor nicht allzu langer Zeit noch nicht einmal die Eigenschaft »überhaupt Kunst« zu sein zugebilligt worden wäre. Insofern ist es schon einigermaßen erstaunlich, dass Simon Strauß, selbsternannter Gralshüter der klassisch dramatischen Varianten der Bühnenkunst, in seiner Besprechung des Bändchens diese Begrifflichkeit so gut wie unkommentiert akzeptiert – eine Art Adelstitel aus berufener Feder.

Umgekehrt subsumiert Malzacher die Akteure des von ihm analysierten politischen Theaters allzu leichthändig unter dem Motiv, sie würden Kunst nicht als »Spiegel, den man der Wirklichkeit vorhält« betreiben, sondern als ein »Hammer, mit dem man sie (die Wirklichkeit) gestaltet«. Dabei ist es eine hübsche Koketterie, dass er die Herkunft dieses dem Buch vorangestellten Mottos nur ungefähr mit »Marx, Brecht oder Majakowski« anzugeben vermag. Dass er das weit kräftigere und politisch eindeutigere Diktum von der »Kunst als Waffe im Klassenkampf« (Johannes R. Becher, Friedrich Wolff oder Walter Ulbricht?) nicht heranzieht, könnte als Ausdruck für seine etwas altväterlich liberale Haltung eines entschiedenen Sowohl-als-auch gelten, die den ganzen Text durchzieht: »Es geht um eine Kunst, die selbstreflexiv ist, aber nicht in die Falle reiner Selbstreferentialität tappt. Eine Kunst, die politische Themen nicht als lautstarke Klischees aufgreift, dennoch klare Positionen wagt und dabei sowohl innere als auch äußere Widersprüche aushält. (…) Eine Kunst, die Missstände auf diesem Planeten nicht nur vorführt und kritisiert, sondern aktiv daran mitarbeitet, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, so kitschig das klingen mag.«

Doch die allzu umstandslose Eingemeindung all dieser Formen als »politisches Theater heute« – das heißt unter das Label jener traditionellen Kunstform – lässt doch einiges an notwendiger kulturpolitischer und theaterhistorischer Reflexion vermissen. Zum Beispiel den Umgang mit der immer häufiger anzutreffenden Tendenz, dass aus den gesellschaftspolitischen Diskursen Distinktionsnormen abgeleitet werden, die ohne qualitativ künstlerische Kriterien zu Entscheidungen über »gute« oder »schlechte« – im Zweifel sogar über zu akzeptierende und zu verhindernde – Kunstereignisse führen.

So bedeutsam die gesellschafts- und kulturkritischen Diskurse an und für sich und als Gerüst eines zeitgenössischen politischen Theaters auch sind (gar kein Zweifel daran!), so ist Theater doch weit mehr als das: Wahrnehmungs- und Zuschaukunst wie Brecht formuliert und gefordert hat, und Kunst, die weit über den Horizont des Politischen, wie Malzacher es bestimmt, hinausreicht. Seine verdienstvolle Präsentation ist deshalb auch ein wenig wie das Einrennen offener Türen, geprägt von einem gewissen Tunnelblick des Kurators, der seine Programme inhaltlich auf den Anschluss an Aktualität zu trimmen sucht – ein Blick, der keine Kulturpolitik, die in diesem politischen Theater die Ankündigung des Untergangs der Kultur des Abendlandes erahnt und zu verhindern trachtet, davon wird abbringen können.

Florian Malzacher: Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute. Alexander, Berlin 2020, 164 S., 15 €.

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