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Die künftige Rolle der Sozialdemokratie in der Regierungskoalition Fortschritt durch transformativen Realismus

Wie es scheint, haben einige Beteiligte ihre Lektion aus dem Scheitern der Jamaikaverhandlungen 2017 gelernt. Jetzt, bei den Gesprächen zwischen SPD, Grünen und FDP, läuft es deutlich reibungsloser. Erfolg oder Scheitern hängen ohnehin nicht nur von Formelkompromissen in den sachpolitischen Fragen ab. Die drei Partner wissen diesmal sehr genau: Sie werden sich erst dann einigermaßen beruhigt auf eine lagerübergreifende Zusammenarbeit einlassen können, wenn sie darauf vertrauen dürfen, in dieser Konstellation für ihre jeweiligen Wählerinnen und Wähler Erfolge liefern zu können.

Dafür braucht die Ampel eine gemeinsame Plattform, auf der sie ihre Anhänger versammeln kann. Mit der Erzählung der Fortschritts-, Aufbruchs- oder Zukunftskoalition ist die Mission der neuen Regierung bereits gut umrissen. Die beiden Milieuparteien profilieren sich als Modernisierungsmotoren, die Grünen als Treiber der sozial-ökologischen Transformation, die FDP als Digitalisierungsturbo. Die SPD belebt ihre historische Glanzrolle, die große Transformation sozial abzufedern und der Republik damit im Taumel des Wandels die notwendige politische Stabilität zu geben. Mit dieser Formel kann das Land den Stillstand der Merkeljahre überwinden, verlorenen Boden gegenüber internationalen Konkurrenten gutmachen, und das Gemeinwesen auf ein zukunftsfestes Fundament stellen.

Ob diese Koalition der Missionen, wie sie Mariana Mazzucato vorschlägt, aber wirklich zustandekommt, oder nur eine kurze, instabile und ungeliebte Episode bleibt, wird davon abhängen, wie sich die FDP einen Liberalismus für die 20er Jahre vorstellt. Beharrt Christian Lindner als möglicher Finanzminister nicht nur rhetorisch auf der Schuldenbremse, sind die nötigen Investitionen in den Umbau der sozial-ökologisch-digitalen Infrastruktur nicht zu stemmen. Ein weiterwurstelndes Deutschland droht dann aber den technologischen und wirtschaftlichen Anschluss zu verlieren. Deswegen gilt es nun, der FDP Brücken zu bauen, die Zukunftsinvestitionen unter Einhaltung der Schuldenbremse ermöglichen. Wie das mit Staatsfonds und Abschreibungsmöglichkeiten verfassungskonform gelingen kann, hat Jens Südekum im Handelsblatt beschrieben. Die Ökonomen Lars Feld und Marcel Fratzscher wollen einen Transformationsfonds schaffen, der durch die Auffüllung existierender Sondervermögen mit der Ausgabe von Anleihen oder Kreditermächtigungen verfassungskonform wäre. Wo ein politischer Wille ist, ist also auch ein Weg.

Doch eine reine Betrachtung der Sachfragen verkennt das politische Risiko für jede Partei, die ihren Markenkern verwässert. Wie groß im bürgerlichen Lager die Angst vor Schulden und Inflation ist, hat die Gründung der Alternative für Deutschland ja eindrücklich bewiesen. Andererseits dürften die Millionen junger Wähler, die sich von den Liberalen einen Aufbruch in die digitale Gesellschaft erhoffen, schnell weiterziehen, wenn ein FDP-Finanzminister dem großen Umbau den Geldhahn zudreht.

Die alten Rezepte wirken nicht mehr

Die Liberalen stehen also vor einer Richtungsentscheidung. Um sie zu rechtfertigen, hilft der Blick auf das große Ganze. Mit dem Ende der amerikanischen Weltordnung tritt die Welt in eine neue Epoche ein, in der die alten Rezepte nicht mehr wirken. Im Hegemoniekonflikt zwischen den USA und China wird mit harten Bandagen gekämpft. Vor allem im Kampf um die technologische Weltspitze werden sämtliche Bekenntnisse zum Freihandel über Bord geworfen. Immer öfter werden Marktzugänge, Lieferketten und Infrastrukturinvestitionen im Gegenzug für politische Folgsamkeit gewährt. Ob es tatsächlich zu einer Entkopplung der westlichen von der chinesischen Volkswirtschaft kommen wird, mag man bezweifeln.

Zweifelsohne verschlechtern sich jedoch die Erfolgsbedingungen für die deutsche Exportwirtschaft. Damit wird die Prosperität des europäischen Heimatmarktes überlebenswichtig. Nicht umsonst haben sich die Industrieverbände Deutschlands, Frankreichs und Italiens für das europäische Wiederaufbaupaket stark gemacht, obwohl man kurz zuvor noch befürchtete, die gemeinsame Aufnahme von Schulden werde den Untergang des Abendlandes beschleunigen. Und selbst das deutsche Verfassungsgericht zuckte davor zurück, die gigantischen Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank für unvereinbar mit dem europäischen Stabilitätspakt zu erklären.

Während sich Europa mühsam aus dem Würgegriff der Austerität befreit, hat der amerikanische Präsident Joe Biden mit dem billionenschweren Build-Back-Better-Programm den Neo-Keynesianismus zur neuen Richtlinie seiner Regierung erhoben. Weltweit werden nun die Staaten massiv in den Umbau ihrer Volkswirtschaften investieren, um im Rennen um die technologische Spitze noch mithalten zu können. Der Neoliberalismus, der auf die großen Herausforderungen der Zeit keine Antworten mehr hat, ist damit am Ende.

Mit dem Ende der neoliberalen Formation werden neue Bündnisse möglich. Es ist kein Zufall, dass SPD und FDP zum ersten Mal seit 41 Jahren über eine Koalition im Bund verhandeln. Denn das Gründungsjahr der Grünen 1980 markierte zugleich den Beginn der neoliberalen Revolution. Wie bezeichnend, dass am Ende dieses historischen Bogens diese drei Partner zusammenkommen, um gemeinsam eine Regierung des Aufbruchs zu bilden.

Aber wenn die Grünen und die Liberalen sich als Modernisierungsmotoren profilieren können, welche Rolle bleibt dann in der Fortschrittskoalition für die Sozialdemokratie?

Hier kommt der transformative Realismus ins Spiel. Wollen wir die Art, wie wir leben, arbeiten, produzieren und konsumieren, wohnen und uns fortbewegen verändern, dann ruft das starke Gegenkräfte auf den Plan, die sich den großen Umbauten widersetzen. Manche, weil sie von der politischen Ökonomie des Status quo zu profitieren glauben. Andere, weil sie ihre liebgewonnene Lebensweise nicht aufgeben wollen. Gegen den Widerstand der Beharrungskräfte können die zur Überwindung der Krise notwendigen Pfadwechsel aber von keiner einzelnen sozialen Gruppe – und sei sie noch so mächtig – durchgesetzt werden. Der Versuch mancher Aktivisten, der Gesellschaft eine avantgardistische Agenda überzustülpen, muss also an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen scheitern. Nur ein breites gesellschaftliches Bündnis kann die nötigen Machtmittel aufbringen, um die erforderlichen Politikwechsel durchzusetzen. Wer breite Allianzen bauen will, darf nicht spalten, sondern muss sich mit Verbündeten zusammentun.

Der transformative Realismus baut daher breite Plattformen, auf denen sich Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Identitäten, Weltsichten und Werten versammeln können, um gemeinsam für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Denn die große Transformation kann nur gelingen, wenn die breite Mitte der Gesellschaft mitgenommen wird. Der transformative Realismus beschleunigt den großen Umbau, indem er seine soziale Basis durch die Einbindung möglichst vieler Lebenswelten verbreitert.

Wer kann die transformativen Allianzen zwischen verschiedenen Lebenswelten der pluralen Gesellschaft bilden? Das Schmieden sozialer Kompromisse zwischen gesellschaftlichen Gruppen ist seit jeher die Stärke der Sozialdemokratie. Sie hat in der letzten großen Transformation den sozialen Frieden wiederherstellt, indem sie den sozialstaatlichen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit aushandelte. Und auch heute ist es wieder die Rolle der Sozialdemokratie, die soziale Balance zu halten, um möglichst viele Menschen in die nächste große Transformation mitzunehmen.

Indem sie potenzielle Verlierer entschädigt, bindet die Sozialdemokratie potenzielle Gegenkräfte ein. Durch ein soziales Sicherheitsnetz, eine gut ausgerüstete Polizei und eine erstklassige Daseinsvorsorge gibt sie all denjenigen die Sicherheit, die sie brauchen, um sich auf Neues einzulassen. Indem sie die Menschen einlädt, den Umbau mitzubestimmen und mitzugestalten, überwindet sie Ohnmachtserfahrungen und eröffnet Chancen zur Selbstwirksamkeit. Indem sie Respekt vor allen Lebensleistungen und Lebensentwürfen zur Tugend erklärt, erreicht sie Menschen aus den unterschiedlichsten Lebenswelten, die sich ausgegrenzt, herabgewürdigt oder im Stich gelassen fühlen.

Der transformative Realismus gibt der Sozialdemokratie also einen guten Kompass an die Hand, mit der sie die Fortschrittskoalition durch die bevorstehenden Stürme navigieren kann. Als Markenkern gibt er der SPD eine unverwechselbare politische Handschrift. Gelingt es in Deutschland, Brücken zu bauen zwischen Fortschritt und Stabilität, Aufbruch und sozialer Balance, Freiheit und Sicherheit, dann kann der transformative Realismus zu einer Renaissance der Sozialdemokratie in ganz Europa beitragen.

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