»Ab heute ist die Malerei tot«
»In diesen kläglichen Tagen ist eine neue Industrie hervorgetreten […]. Die[se] Industrie, indem sie in die Domäne der Kunst einbricht, [wird] ihr Todfeind«
Diese Aussagen stammen keineswegs von den KI-Skeptikern unserer Tage, die Google, OpenAI und die großen Konzerne als Bedrohung der abendländischen Kunst und Kultur anprangern. Das erste Zitat wird dem französischen Maler Paul Delaroche zugeschrieben, das zweite stammt von Charles Baudelaire – und beide beziehen sich auf eine buchstäbliche Ungeheuerlichkeit und Blasphemie: die Erfindung der Fotografie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Unbehagen gegenüber dem neuen Phänomen spiegelt sich auch in einem Artikel des Leipziger Anzeigers wider, in dem die Fotografie als Gotteslästerung bezeichnet wird: »Der Mensch ist nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen und Gottes Bild kann durch keine menschliche Maschine festgehalten werden.«
Alle künstlerischen Fertigkeiten wurden durch diesen unmenschlichen Apparat infrage gestellt: Der Daguerreotypie, noch dazu als kommerzielles Werkzeug, wurde nachgesagt, die Künstler zu verdrängen. Dabei ging es vor allem um die etablierte Funktion des Künstlers im 19. Jahrhundert: Handwerker mit der Aufgabe, die in Auftrag gegebene Wirklichkeit abzubilden, seien es Porträts, Landschafts- oder Städtebilder.
Nun – man stelle sich diese Häresie vor! – das Auftragsporträt dauert viel kürzer. Und nicht nur das: War die Daguerrotypie noch sehr teuer und wurden die Bilder als Unikate auf versilberten Kupferplatten fixiert, so entstanden bald Glasplattennegative, von denen man unendlich viele Abzüge machen konnte. Die Gefahr einer visuellen Überflutung (aus heutiger Sicht geradezu amüsant) entsteht. So empörte sich Francis Frith 1859 im Londoner Art Journal: »Uns schaudert bei dem Gedanken, wie viele miserable Negative sich in diesem Augenblick in Kisten und Kästen häufen, um eines Tages eine Brut schlimmer Positive auszuhecken.«
Keine Fassbinder, Kerzenmacher oder Handweber mehr.
Es ist eine ewige Tendenz, in der Einführung neuer Technologien zwangsläufig die Vernichtung von Arbeitsplätzen zu sehen – die bittere Erfahrung aus der Zeit der ersten Industriellen Revolution ist spürbar. Es gibt kaum noch Fassbinder, Kerzenmacher oder Handweber – sie alle fielen der Automatisierung der Produktion zum Opfer. Nur die Ludditen, die Maschinenstürmer, haben überlebt. Es war kein Beruf, sondern eine Berufung – die Ursache allen Leids auf die Maschine zu projizieren. Wenn man ein neues KI-Verfahren ankündigt, kündigt man damit auch heute implizit eine ganze Berufsgruppe auf.
Sind die Künstler wirklich arbeitslos geworden? Man kann nur vermuten, welche Berufe durch die Erfindung der Fotografie transformiert – oder bedroht – wurden. Zu den ersten Betroffenen zählten die Porträtmaler, die bis dahin exklusiv Persönlichkeiten als Auftragsarbeit verewigten. Wohlhabende Adlige und Bürger nutzten diese Kunst, um ihren Status darzustellen, während gemalte Porträts für die breite Masse unerschwinglich blieben. Mit der Fotografie änderte sich dies radikal: Porträts wurden schneller und billiger, sodass auch Mittel- und Arbeiterklasse sich solche leisten konnten. Fast jede Familie besaß bald eine Daguerreotypie, was die Nachfrage nach traditionellen Malern merklich verringerte.
Schneller und günstiger
Die Fotografie verdrängte im Laufe der Zeit die Kupferstecher, Lithografen und teils auch Illustratoren, die zuvor unentbehrlich für Bildreproduktionen in Büchern und Zeitungen waren. Fotografische Reproduktionen waren schneller und günstiger, was traditionelle Techniken obsolet machte. Verlage setzten zunehmend auf Fotografie, wodurch Darstellungen realistischer und effizienter produziert wurde. Viele dieser Fachleute verloren ihre Arbeit oder mussten sich anpassen.
Aber das sind die Berufsfelder – wurden auch die Künstler als Kulturschaffende durch die Fotografie bedroht? Nach Walter Benjamin verwandelte sie sich »in technische Hilfsmittel«. Die Piktoralisten manipulierten das Belichtungsverfahren, um neue Ästhetiken zu gewinnen. Gustave Caillebotte malte mit Weitwinkelkompositionen. Claude Monet besaß gleich stolze vier Fotokameras.
Ohne die Fotografie hätte es den Impressionismus nicht gegeben, Die Impressionisten nutzten die Fotografie zum Studium von Licht- und Schattenspielen und für Kompositionsexperimente. Die von der konservativen Académie des Beaux-Arts abgelehnte Kunstrichtung konnte zunächst nicht in den etablierten Galerien ausgestellt werden. So gründeten sie eigene Galerien wie den »Salon des Refusés« (1863) – aber in Fotoateliers waren sie gern gesehene Gäste, etwa in der berühmten New Yorker Fotogalerie »291« des Fotografen Alfred Stieglitz zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
»Ohne die Fotografie hätte esden Impressionismus nicht gegeben.«
Die Fotografie hat die Malerei keineswegs verdrängt, sondern die Kunstlandschaft um ein neues Medium erweitert. Dennoch wurden Fotografen lange nicht als Künstler wahrgenommen. Mit dem Stigma der neuen »Wirklichkeitsbilder« wurden sie zu neuen handwerklichen Litografen. Aber Künstler wären keine Künstler, wenn sie nicht ihre Stile, künstlerischen Verfahren und Profile entwickeln würden. So stehen Namen wie Henri Cartier-Bresson, Annie Leibovitz, Ara Güler, Araki für Autoren-Fotokunst, die sich auf die Darstellung ihrer Wirklichkeiten konzentriert.
Die etablierte Vorstellung, Fotografie bilde die Wirklichkeit ab und garantiere Authentizität führt in eine Sackgasse. Denn das Objektiv ist immer subjektiv. Es zeigt die Perspektive, den Ton, die Haltung und die Philosophie des Fotografen. So sind die »Schnappschüsse« des Fotokünstlers Jeff Wall bei genauerem Hinsehen minutiös inszenierte Situationen, für die eigens Kulissen aufgebaut wurden. Aber auch jedes Foto, eben weil es aus der Perspektive eines Objektivs aufgenommen und dann bearbeitet, belichtet, kadriert, beschnitten wurde – zeigt am Ende den Fotografen, nicht die Wirklichkeit.
Diese Frage stellte sich der Medienphilosoph Vilém Flusser, als er von »Technobildern« sprach. Er hinterfragte gar die Autorschaft eines Fotos. Seiner Meinung nach ist der Fotoapparat – insbesondere die Digitalkamera mit ihren voreingestellten Programmen – bereits der Autor des Bildes, er tut, »was der Fotograf von ihm will, obwohl der Fotograf nicht weiß, was im Inneren des Apparates vor sich geht«. Dieses Paradoxon, das damals nur von wenigen verstanden wurde, erscheint ab 2010 mit dem Aufkommen der generativen KI in einem neuen Licht.
Das Publikum war überrascht, als der Gewinner des berühmten Sony World Photography Award 2023 den Preis für seine Arbeit »The Electrician« ablehnte. Boris Eldagsen, ein etablierter Fotograf mit langjähriger Erfahrung, begründete seine Entscheidung wie folgt: »KI ist keine Fotografie. Deshalb nehme ich den Preis nicht an.« Das war eine historische Geste, die einen neuen Diskurs angestoßen hat. Denn 2023 war KI als Bildmedium schon da. Nun musste es im Kulturraum lokalisiert, zugeordnet werden, was ein schwieriges Unterfangen darstellt.
Die ersten Experimente mit Bild-KI waren Generative Adversarial Networks (GAN, 2014) sowie Google Deep Dream (2016). Damals war die Möglichkeit, Bilder mit Hilfe von Prompts (Texteingaben) erzeugen zu können, undenkbar. Bei Deep Dream analysierten neuronale Netze ein vorgegebenes Bild und veränderten es durch eigene Interpretation, was zu den Bosch- und Breughelesken Kreaturvisionen führte. StyleGAN, trainiert auf bestimmte thematische Datensätze, hatte bereits die Anfänge des Fotorealismus erreicht – besonders populär war damals die Website This Person does not exist mit einer unendlichen Reihe von generierten »Foto«-Porträts.
Technobilder par excellence
Erst mit Diffusionsmodellen wie DALL-E, Midjourney, Stable Diffusion kam eine neue Transformationswelle, die einen Paradigmenwechsel in allen medialen, künstlerischen und kulturellen Bereichen mit sich brachte. Das waren Technobilder par excellence – denn auch ein KI-Künstler weiß nicht, was in der Deep Learning Black Box passiert, wenn ein Bild generiert wird – mit einem Diffusionsmodell.
Mit Diffusion entwickelten Forscher ein Verfahren, mittels dessen ein Bild zunehmend in Rauschen verwandelt wird und diesen Prozess dann umkehrt, um aus dem Chaos fotorealistische Bilder zu erzeugen. Doch woher soll das System wissen, welche Bilder entstehen sollen? Mit Hilfe von Prompts. OpenAI perfektionierte dieses Prinzip in DALL-E. Wie funktioniert es?
Kurz erklärt: Ein Text (z. B. »Apfel«) wird in einen Repräsentationsraum projiziert, wo der Text sich mit visuellen Konzepten verknüpft (Prior) – vergleichbar mit der platonischen Ideenlehre: »der Apfel an sich«. Jeder hat eine andere Vorstellung davon, doch die Form bleibt dieselbe. Das Modell visualisiert diesen Prior durch den Umkehrprozess der Diffusion und erstellt Bilder basierend auf dem Trainingswissen. So entstehen immer wieder neue, einzigartige Bilder, selbst bei identischem Text. (Für detailliertere Beschreibung siehe meinen Essay »Am Anfang war der Prompt« in: Angewandte Data Science, 2023) Das sind die Grundlagen der Diffusionsmodelle, und sie entwickeln sich schnell weiter.
Mit der Einführung generativer KI-Verfahren erklingen erneut die Befürchtungen, wie einst bei der Fotografie: Künstler würden arbeitslos, die Kunst durch KI zerstört, und unser Vertrauen in die visuelle Authentizität erschüttert. Doch Kunst als Ausdruck persönlicher Auseinandersetzung bleibt unberührt – menschliche Kreativität entwickelt sich stets weiter. Anders ist es bei Kreativberufen: Zwar können KI-Programme heute viele Aufgaben übernehmen, doch die individuelle Kommunikation zwischen Kunde und Designer bleibt unverzichtbar. KI mag Vorschläge liefern, aber die finale kreative Gestaltung erfordert weiterhin den menschlichen Faktor, der gerade durch die KI-Lösungen noch an Bedeutung gewinnt.
Kreative müssen umdenken und neue Methoden erlernen oder aber auch bewährte beibehalten, denn ihre menschliche Zielgruppe bleibt bestehen. Eine Studie der Universität Amsterdam zeigt, dass Menschen maschinengenerierter Kunst skeptisch gegenüberstehen – Kreativität gilt als letzte menschliche Domäne. Doch wir sollten erkennen, dass wir nie die Krone der Schöpfung waren. Das postanthropozentrische Zeitalter beginnt, in dem Kreativität nicht nur dem Menschen vorbehalten ist. Wie Digitalkünstler Memo Akten betont, erweitert maschinelle Kreativität den Begriff über den Menschen hinaus. Künftige Kunst wird koexistieren – mit beziehungsweise ohne KI.
»Menschliche Kreativität entwickelt sich stets weiter.«
Ein weiterer Kritikpunkt an der generativen KI wurde bereits erwähnt: Können wir einem Bild glauben, wenn alle möglichen semantischen Konstellationen visualisiert werden können – und jede Botschaft sichtbar gemacht werden kann, auch die, deren faktische Grundlage fehlt? Die Antwort lautet: Nein, wir können keinem Bild glauben und sollten es auch nie. Unser Wahrnehmungsvermögen und unsere Aufmerksamkeitsspanne waren schon immer zu träge und so haben wir oft das, was wir gesehen haben, für bare Münze genommen, »augenscheinlich«.
Dank KI wird uns das schlagartig und schmerzhaft bewusst. Und dabei geht es nicht einmal um die Bildfälschungen, die in der prädigitalen Vergangenheit von verschiedenen Herrschaftssystemen populistisch ausgenutzt wurden. Es geht auch um das, was Flusser mit den Technobildern meinte: Es sind von der Wirklichkeit losgelöste singuläre Perspektiven, die das Wahre vorgaukeln, aber nur eine von mehreren Wahrscheinlichkeiten zeigen. Und dafür sind sie bestens geeignet, im Gegensatz zum traditionell gemalten Bild, dessen Genese eindeutig von der Wahrnehmung, der Subjektivität, dem Können des Künstlers abhängt. Es ist nicht so, dass die Bilder lügen. Wir irren uns, wenn wir die Wahrheit in ihnen suchen.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!