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© picture alliance/dpa | Jonas Walzberg

Freiheit in Zeiten der Pandemie

Zu Beginn drängt sich bei diesem Thema Pathos auf, danach ist Klage geboten: Die Freiheit ist das höchste Gut des Menschen, denn sie macht seine Würde aus. Ob als Einspruch gegen Übergriffe der Staatsmacht, ob als Antriebskraft für die Arbeiter- (»Brüder zur Sonne, zur Freiheit«) oder für die Frauenbewegung – das Freiheitsstreben, das die gesamte Menschheitsgeschichte prägt, erhält in der Moderne ein überragendes Gewicht. Dieses Prinzip, das als Grund- und Menschenrecht in die Verfassungen der deshalb »freiheitlichen« Demokratien einging, darf auch in schwierigen Zeiten nicht aufgegeben, mithin nicht auf dem Altar der Pandemie geopfert werden.

Als das wichtigste Instrument, um in der weltweiten COVID-19-Seuche noch Freiheit zu retten und ein Optimum von ihr zu gewährleisten, erweist sich der von Wissenschaftlern überraschend schnell entwickelte Impfstoff. Dessen von der Politik verantwortete Anwendung hingegen ist, man kann es nicht beschönigen, beklagenswert. Obwohl auch die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, diese Republik auf »die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte« verpflichtet, ist die in deren Namen, mithin in dem der Freiheit gebotenen Impfpolitik ein Desaster. Selbst regierungsfreundliche Bürger können das facettenreiche Fiasko nicht leugnen. Zumal ein beliebtes Entlastungsargument, erst im Nachhinein sei man schlauer, hier in vieler Hinsicht nicht greift:

Ein erstes, vermutlich sogar größtes Fiasko liegt in der für viele Monate viel zu geringen Menge an verfügbarem Impfstoff. In Israel waren Anfang März pro 100 Einwohner 105 Impfdosen verabreicht worden, in Großbritannien waren es 35, selbst in Chile 30 und in Serbien 26, hierzulande hingegen beschämende 10. Während in Deutschland im Namen einer, freilich auch nur staatlich zu erledigenden Freiheitsaufgabe, nämlich dem Gesundheitsschutz, enorme Freiheitseinschränkungen verfügt wurden, pflegte die Europäische Union, von der Bundeskanzlerin unterstützt, etwas, das andernorts als kalte Marktwirtschaft angeprangert wird: Man verhandelte über möglichst niedrige Preise. Wenn man schon so agiert, dann sollte man freilich über die Weitsicht eines guten Unternehmers verfügen. Tatsächlich sind die eingesparten Kosten um ein Vielfaches geringer als allein die finanziellen Folgekosten des folglich viel zu langsamen Impfens. Hinzukommen unermessliche gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle, emotionale, überdies enorme Bildungskosten. Nicht zuletzt wird mangels Impfstoffs die Gesundheit der Bürger erheblich länger gefährdet und die Freiheit erheblich länger eingeschränkt.

Hier einige Beispiele für die geballten Folgekosten. Die Liste, obwohl nur eine Auswahl, ist zu lang, um sie als kleinlich beiseiteschieben zu können:

In einer Gesellschaft, in der die Sozialkontakte lebenswichtig sind, brechen diese weg; das früher so vielfältige Vereinsleben verblüht; und die Innenstädte veröden. Dass kleine und große Geschäfte, dass Cafés und Restaurants mehr oder weniger offen Pleite gehen, hat nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht desaströse Folgen. Auch die damit einhergehenden Chancen der Selbstverwirklichung verkümmern, und eine bislang reiche Lebens- und Sozialkultur stirbt dahin. Entsprechendes gilt für Kinos, Theater, Konzert- und Opernhäuser sowie Galerien: Auch hier verschwindet nicht bloß das entsprechende Kultur-, sondern auch das Sozialleben. Und freie Kulturschaffende verlieren ihre Existenzgrundlage. Weiterhin nimmt die herrschende Corona-Politik den Kindern und Jugendlichen Lern-, Kontakt- und Bewegungsmöglichkeiten. Der Wunsch nach Nähe bleibt unerfüllt; der im Miteinander übliche Austausch sozialer, geistiger und seelischer Energien entfällt. Ferner werden Eltern, zumal mit mehreren Kindern und in beengten Wohnverhältnissen mit der Betreuung des (vielerorts schlechten) Homeschoolings und der eigenen Arbeit zu Hause bis an den Rand der Erschöpfung gefordert. Nicht zuletzt gibt es in all diesen Bereichen enorme emotionale Belastungen, gesteigert durch eine von den meisten Medien faktisch unterstützte Regierungspolitik. Wo man sich auf die Zahl der Infizierten und auf die »an oder mit Corona« Verstorbenen konzentriert, wo man nicht zum Vergleich daran erinnert, dass in Deutschland nach bisheriger Erfahrung etwa 250 Menschen pro Tag an Sepsis, Blutvergiftung sterben, über 90.000 im Jahr, wird, statt auch ein wenig Zuversicht zu verbreiten, die Angst geschürt, was sich auf eine emotionale Freiheitseinschränkung beläuft. Allerdings werden die Bürger folgsamer – und psychischen Probleme werden größer. In poetischen Worten: Die Seele verhungert und verdurstet.

Als das einzige Desaster erweist sich der Impfstoffmangel leider nicht. Zunächst fehlte es an Schutzmasken, dann waren es die falschen; die mancherorts verpflichtenden Tests gab es nicht oder konnten nicht durchgeführt werden. Die Gesundheitsämter arbeiteten zu langsam und mit erheblichen Pannen. Wer sich zum Testen anmeldete, wegen zu langer Warteschlangen aber umkehrte, konnte zwei Tage später die Nachricht erhalten, nicht infiziert zu sein. Eine andere Skurrilität: Bis 20 Uhr konnte man in Ulm (Baden-Württemberg) ausgehen, nach Überquerung der Donau, weil man dann in Neu-Ulm und somit in Bayern war, eine Stunde länger mit Freunden verbringen. Ging man tagsüber einkaufen, führte man hoffentlich nicht bloß die in Baden-Württemberg erlaubte sogenannte medizinische Maske, sondern auch die in Bayern gebotene FFP2-Maske mit sich. Wer am Ende in den Kreis der Impfberechtigten aufstieg, musste oft stundenlang am Telefon versuchen, sich für einen Impftermin zu registrieren – um dann zu erfahren, dass bis zum nächsten Montag, am Montag dann, dass bis zum nächsten Freitag weder Termine vergeben werden noch man sich registrieren lassen kann.

Geschäftsleute sollen bekanntlich Entschädigungen erhalten. Die entsprechenden Vorschriften sind aber so kompliziert, dass selbst versierte Steuerberater sie nicht durchschauen.

Ein weiteres Problem liegt bei der Gewaltenteilung, die zum Schutz von Recht und Freiheit in der Demokratie herrscht. Dabei gebührt der Legislative der Vorrang, in repräsentativen Demokratien dem Parlament. Hier ist aber eine weitere Freiheitsbedrohung aufgetreten. Die Parlamente werden zwar noch gefragt, aber in einem ihrer Verantwortung unangemessenen Minimum. Stattdessen ist die Übermacht zur Exekutive gewandert. Oder hat sie diese an sich gerissen? Augenfällig wird die Übermacht für jeden, der sich Nachrichten anhört, anschaut oder liest. Berichtet wird fast ausschließlich über die Kanzler- und Ministerpräsidentenrunden oder die Auftritte einzelner Ministerpräsidenten. Über die Parlamentsdebatten gibt es auch weder quantitativ noch qualitativ viel zu berichten, denn sie finden selten statt, fallen dann ziemlich kurz, nicht zuletzt zahnlos zahm aus.

Ein weiteres ernsthaftes Problem schafft der Umstand, dass sich das Prinzip Freiheit in eine Vielzahl von Freiheiten spezifiziert und konkretisiert, von denen keine einzelne eine absolute Vorherrschaft beanspruchen darf. Ohne Zweifel ist die Gesundheit ein hohes Gut. Dessen Schutz, soweit er in die öffentliche, nicht persönliche Verantwortung fällt, bildet eine wichtige Staatsaufgabe. Zu ihrem Zweck sind die bekannten AHA-Regeln, also Abstand halten, auf Hygiene achten und wo notwendig Alltagsmasken tragen, gut begründet, wegen relativ harmloser Freiheitseingriffe verhältnismäßig, mit einem Wort: vernünftig. Sich mit dem Schlagwort einer »Corona-Diktatur« dagegen zu versperren, ist schlicht unsinnig. Trotzdem erlaubt eine freiheitliche Demokratie, dagegen zu protestieren. Sie hat aber nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, einschlägige Demonstrationen, die vorhersehbar aus dem Ruder zu laufen drohen, zu verhindern, mindestens gegen deren Regelverletzungen einzuschreiten. Dass Gerichte bei ihren Entscheidungen diesem Aspekt zu wenig Gewicht einräumen oder dass die Ordnungskräfte mit dem Hinweis auf Unverhältnismäßigkeit nicht effizient einschreiten, lässt sich weder demokratietheoretisch noch freiheitstheoretisch hinreichend rechtfertigen. Warum soll ein Recht, das nicht einmal ausdrücklich im Grundgesetz auftaucht, sich allerdings aus der Versammlungsfreiheit ergibt, das Demonstrationsrecht, den sonst in der Corona-Politik für heilig gehaltenen Gesundheitsschutz aushebeln dürfen?

Auf der anderen Seite ist der Gesundheitsschutz zwar ein hohes Gut. Er hat aber nicht, was die derzeitige Corona-Politik unterstellt, den Rang eines Trumpfes, der alle anderen Freiheiten – das Demonstrationsrecht ausgenommen? – aussticht. Infolgedessen ist eine Güterabwägung erforderlich, bei der das Gewicht der anderen Grundfreiheiten nicht gegen Null tendieren darf.

Ohne Zweifel gibt es weitere Facetten des deutschen Corona-Desasters. Beispielsweise die enorme Neuverschuldung, die sich im März auf insgesamt 240 Milliarden Euro erhöht hat und dem Bund zusätzliche 80 Milliarden an Krediten beschert, was zweifellos die finanzielle Freiheit unserer Kinder und Enkelkinder beeinträchtigt und der schon länger beschworenen Generationengerechtigkeit widerspricht. Die genannten Versäumnisse, Hindernisse und weitere Fehlentwicklungen sollten aber genügen, dass die Verantwortlichen zugeben, ihre Politik habe die Möglichkeiten, der Gesundheit und der Freiheit der Bürger zu dienen, nicht annähernd hinreichend ausgeschöpft. Dafür sollte sie sich vor den Bürgern entschuldigen, statt sich zu Meistern wortmächtiger Rechtfertigungen zu entwickeln.

Die Corona-Pandemie erweist sich als Stresstest, der Stärken und Schwächen offenbart. Als hierzulande stark hat sich die pharmazeutische Forschung erwiesen, denn die von Biontech hat erstaunlich schnell einen Impfstoff entwickelt und die von Curevac lässt bald einen zweiten erwarten. Die Politik hingegen glänzt durch Schwächen: durch Fehlentscheidungen, durch einen auf Inzidenzen verkürzten Blick, durch wenig differenzierte und flexible Freiheitseinschränkungen, durch unzureichend organisierte Gesundheitsämter, durch allzu lang fehlende, überdies fehleranfällige Hard- und Software für einen Online-Unterricht und durch Unfähigkeit, starre bürokratische Vorschriften zu lockern.

Die fraglos vorläufige Bilanz muss zum Pathos des Anfangs zurückkehren: Weil die Würde des Menschen in der Freiheit und die Legitimität der Staatsgewalten im Gewähren und Gewährleisten der Freiheit liegt, darf die Politik nicht länger dem Grundsatz folgen »in dubio pro securitate«, im Zweifel für die Sicherheit. Pauschale Gründe wie etwa die Kontakthäufigkeit verringern, sind hier nicht zulässig. Für jede Freiheitseinschränkung, die die Politik vornimmt, trägt sie die Beweislast. Werden, um ein einziges Beispiel anzuführen, in den Theatern, Konzertsälen und Opernhäusern strenge Abstands-, Hygiene- und Masken-, überdies Schnelltestpflichten exakt eingehalten, so dass dort keine signifikanten Infizierungen stattfinden, dann sind hier Schließungen schwerlich zu rechtfertigen. Auch die Justiz darf es sich mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht zu leicht machen.

Wo sich Unterschiede in der Ansteckungsgefahr nachweisen lassen, sind unterschiedliche Öffnungen zu erlauben. Jedenfalls gelte das Prinzip »in dubio pro libertate«. Dort, wo die Politik nicht schlüssig zeigen kann, dass gewisse Freiheitseinschränkungen für ein Optimum an Gesamtfreiheit unerlässlich sind, verdient die Freiheit den Vorrang.

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