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© picture alliance / Andreas Franke | Andreas Franke

Einführung der Impfpflicht – Nagelprobe für die Ampel Freiheit in Zeiten der Pandemie

Eigentlich ist es gar nicht so schwer zu verstehen. Eine Handlung, die dem einen als von seinen Freiheitsrechten gedeckt erscheint, kann für den anderen unter Umständen die Bedrohung oder Verletzung seiner Freiheit bedeuten. Und damit der eine in Ausübung seiner Freiheit möglichst nichts tut, was die Freiheitsrechte anderer Menschen verletzt, ihnen erheblichen Schaden zufügt, ihre psychische und leibliche Integrität beschädigt, muss in letzter Instanz der Staat als oberster Wahrer der Menschrechte aller Mitglieder der Gesellschaft mit Geboten und Verboten und notfalls mit Geldbußen und Zwangsmaßnahmen eingreifen. So etwas nennt man dann die Schutzverpflichtung des Rechtsstaats.

Meistens muss der Staat in solchen Konflikt- und Abwägungssituationen gar nicht eingreifen, weil in der Gesellschaft ein breiter Konsens darüber besteht, dass individuelle Freiheitsrechte mit den Freiheitsrechten der vielen anderen abgeglichen werden müssen. Das gehört gewissermaßen zu den Konstitutionsbedingungen jeder zivilisierten Gesellschaft.

Deshalb würde es wohl kaum jemand als ein ihm zustehendes Recht einfordern, mit 150 Stundenkilometern nachts durch eine Stadt zu rasen und damit das Leben anderer Verkehrsteilnehmer billigend in Kauf zu nehmen. Und wenn so etwas dennoch vorkommt, so wird dies als krimineller Akt mit zumeist hohen Haftstrafen geahndet. Dies führt allerdings so gut wie nie dazu, dass von unzulässigen Übergriffen des Staates die Rede ist.

Und warum ist das im Zusammenhang mit den Maßnahmen gegen die Coronapandemie anders? Warum gibt es heute in unserer Gesellschaft lautstarke Gruppen von Menschen, die sich strikt weigern, eine Maske zu tragen, mit der sie dazu beitragen könnten, dass das gefährliche Coronavirus sich weniger schnell verbreitet und sie selbst und ihre Mitbürger infizieren kann? Und wieso behaupten viele der Impfgegner, dass der Staat, der sie zum Maskentragen und anderen Vorsichtsmaßnahmen anhält, sich eben dadurch als eine Diktatur erweise, gegen die Widerstand selbst in Form von Gewalt nicht nur erlaubt, sondern womöglich Pflicht sei?

Aufmerksamkeitsüberschuss für »Querdenker«

Zugegeben: Meine Lust, mich in die Vorstellungswelt jener Menschen einzufühlen, die heute den früher durchaus positiv besetzten Titel des »Querdenkers« für sich reklamieren, hält sich in Grenzen. Als Querdenker galten früher einmal Menschen, die sich durch geistige Unabhängigkeit und Originalität des Denkens auszeichneten, die zuweilen geltende wissenschaftliche Konventionen mit guten Argumenten anzweifelten, aber das kollektive Bemühen um die wissenschaftliche Erfassung der Welt selbst nicht infrage stellten.

Davon kann bei denen, die sich heute Querdenker nennen, nicht die Rede sein. Vielleicht wäre der ganze Querdenker- und Impfverweigererspuk längst vorbei, wenn ihm nicht so viel Aufmerksamkeit in den Medien gewidmet würde. Und wäre es nicht vielleicht angemessener, diese aggressiven Zeitgenossen mit ihren abstrusen Verschwörungstheorien der Lächerlichkeitsprobe, jenem test of ridicule zu unterziehen, den schon der englische Aufklärer Lord Shaftesbury angesichts der religiösen und politischen Schwärmerei seiner Zeit als probates Mittel empfahl?

Nein, sagen da entschieden viele Psychologen, die sich genauer mit der Querdenkerszene befasst haben. Verschwörungstheorien, so zum Beispiel Tobias Meilicke, der Leiter der Beratungsstelle Veritas, seien vor allem der Versuch verunsicherter Menschen, angesichts einer allgegenwärtigen unsichtbaren Gefahr wie der Pandemie, die ihr Gesicht mit jeder Virenvariante wandele, die Lage einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Das Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben, stelle sich für manche Menschen erst dadurch ein, dass sie eine mächtige Figur oder Organisation benennen können, die für das bedrohlich-unbegreifliche Geschehen verantwortlich ist.

Andere, wie die Sozialpsychologen Jan Häuser und Mario Gollwitzer, sprechen in diesem Zusammenhang von einer Selbsttäuschung, die als »Dritte-Person-Effekt« bekannt ist, und von der Erleichterung, die die Vorstellung bewirkt, einer kleinen Elite anzugehören, die das ganze komplizierte Geflecht bedrohlicher Zusammenhänge durchschaut. Wenn diese Psychologen Recht haben, geht es den Querdenkern also gar nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – um Erkenntnis, sondern um Trost und Besänftigung ihrer Ängste.

Heterogenität der Impfgegner

Andere Kenner der Szene kommen nun aber ziemlich übereinstimmend zu dem Schluss, dass wir es bei den Impfgegnern keineswegs durchgängig mit verängstigten und verwirrten Menschen zu tun haben, sondern eher mit einem explosiven Gemisch sehr unterschiedlicher Befindlichkeiten und politischer Vorstellungen. Da sind zunächst die Erfinder und Verbreiter von Verschwörungstheorien. Sie müssen selbst nicht unbedingt an ihre fantastischen Produkte glauben, tun es vermutlich auch nicht. Vermutlich sind unter ihnen viele durchaus zweckrational und strategisch denkende Menschen, denen es vor allem darum geht, das Vertrauen in die Demokratie und den demokratischen Staat zu unterminieren und alte und neue Freund-Feind-Paradigmen zu bedienen. Ein solches Interesse kann, wie wir heute auch auf anderen Gebieten sehen, alte und neue Nazis und Identitäre, die AfD und von Russland gesteuerte Trolle zu einer informellen Aktionsgemeinschaft zusammenführen.

Dann gibt es die Menschen, die alle paar Tage zu Hunderten, zuweilen zu Tausenden, unter Slogans wie »Weg mit dem Impfzwang« oder »Nieder mit der Impfdiktatur« durch die Straßen laufen. Wie viele von ihnen wirklich daran glauben, dass die Coronapandemie von satanischen Mächten im Hintergrund absichtlich herbeigeführt worden sei, um rechtschaffene Bürger zu versklaven, wie viele sich hier aus allgemeinem Frust angeschlossen haben und nur mitmarschieren, um einmal aus dem Dunkel der Anonymität ins helle Licht politischer und medialer Öffentlichkeit zu treten, oder sich von einer allgemeinen Wut auf »die da oben« leiten lassen, lässt sich nicht sagen. Die soziale Zusammensetzung der Umzüge, das zumindest scheint sicher, ähnelt der der früheren Pegida-Demonstrationen. Eine eindeutige soziale Zuordnung der Demonstranten zu einer bestimmten Klasse, Schicht oder einem bestimmten Milieu scheint jedenfalls nicht möglich zu sein.

Das ist auch das Ergebnis einer von der Agentur KOMM.PASSION durchgeführten Untersuchung zur sozialen Zusammensetzung der Bewegung der Impfgegner. Daraus geht hervor, dass diese sich in Deutschland praktisch über alle sozialen Milieus verteilen.

Allerdings – und das ist politisch brisant – sticht ein Milieu besonders heraus: das Milieu der Liberal-Intellektuellen, laut Alexander Güttler, der die Untersuchung leitete, »die Elite unserer Gesellschaft«. Hier erreicht der Anteil der Impfgegner satte 31 Prozent, während der Anteil sonst nur zwischen drei und acht Prozent liegt. Am geringsten ist der Anteil der Impfgegner – auch das mag hier und da überraschen – nach dieser Untersuchung im traditionellen Arbeitermilieu.

Wenn das, was Güttler da herausgefunden hat, im Großen und Ganzen richtig ist, müssen wir uns von der verbreiteten Vorstellung lösen, bei den Impfgegnern handele es sich vor allem oder gar ausschließlich um eine Ansammlung von Dumpfbacken. Und wenn dies richtig ist, genügt es nicht, sich auf »die Wissenschaft« zu berufen, nach dem Motto: »Fakten sind Fakten«. Denn gerade die gebildeten liberalen Intellektuellen wissen natürlich, dass wissenschaftliche Erkenntnisse, auch gerade solche im Feld der Medizin, so etwas wie Objektivität immer erst dadurch erlangen, dass sie im Diskurs der Wissenschaftler untereinander und mit informierten Laien Bestätigung erfahren.

Was sie allerdings oft nicht bedenken ist, dass das postmoderne Argument der sozialen Konstruktion von Fakten in der Praxis von Demokratien nicht durchzuhalten ist, weil eine demokratische Gesellschaft ohne eine Basis von möglichst allen geteilter Grundüberzeugungen nicht existieren kann. Erst recht wird die These von der sozialen Konstruktion von Fakten gefährlich, wenn sie von Extremisten benutzt wird, um gesellschaftlich breit anerkannte Erkenntnisse und Maßnahmen zu delegitimieren, die in der gegenwärtigen Bedrohungslage der Pandemie Leben retten können.

Wenn Appelle auf taube Ohren treffen

In der Auseinandersetzung mit den Impfgegnern geht es also nicht nur um »wahr« oder »falsch«, sondern vor allem auch darum, was unter den vorherrschenden Bedingungen verantwortbar ist und was nicht. Was nun den beachtlichen Anteil an liberalen Intellektuellen unter den Impfgegnern angeht, so stößt aber der Appell an die gesellschaftliche Verantwortung hier oft auf taube Ohren, weil nicht wenige Liberale immer noch einem hyperindividualistischen Freiheitsverständnis anhängen.

Zwar werden aus dem von Güttler sogenannten Milieu der Liberal-Intellektuellen wohl nur Wenige an der Verbreitung von Verschwörungstheorien und noch weniger an gewaltsamen Aktionen und medialen Hasskampagnen gegen Impfbefürworter und Repräsentanten des Staates beteiligt sein. Aber Leute wie Wolfgang Kubicki, der immerhin Vizepräsident des Bundestages ist, tragen mit ihren öffentlichen Äußerungen doch immer wieder dazu bei, dass sich die Menschen, die zusammen mit Rechtsradikalen und Verschwörungsgläubigen gegen die Coronamaßnahmen der Regierung auf die Straße gehen, sich im Recht wähnen, wenn sie sich gegen die von Wissenschaftlern und Politikern empfohlenen Sicherheitsmaßnahmen wenden.

Merkwürdiges Freiheitsverständnis der FDP

In der Auseinandersetzung um die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie zeigt sich, wie sehr die FDP noch immer einem hyperindividualistischen Freiheitsverständnis und der traditionellen Skepsis gegenüber dem modernen demokratischen Staat und seinen Institutionen verhaftet ist. Die offene Staatsfeindschaft des Neoliberalismus, die seit den Tagen von Margaret Thatcher und Ronald Reagan zu einer signifikanten Schwächung staatlicher, besonders wohlfahrtsstaatlicher Strukturen in aller Welt geführt hat, ist trotz der inzwischen eingeleiteten vorsichtigen Korrekturen in der FDP und in ihrem Umfeld offenbar nach wie vor stark. Das ist unter anderem daran ablesbar, dass ein beträchtlicher Teil der FDP-Abgeordneten im Bundestag sich generell gegen eine Impflicht ausspricht, weil sie angeblich mit den grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechten nicht vereinbar sei.

Dass eine allgemeine Impfpflicht eine Zahl schwer zu lösender Umsetzungsprobleme mit sich bringt, dass, abgesehen von der Frage der Sanktionierung von Impfverweigerung, ohne ein zentrales Impfregister und eine zuverlässige Infrastruktur für die Nachverfolgung von Infektionen eine Impfpflicht kaum durchführbar erscheint, ist nachvollziehbar. Aber das heißt nicht, dass es sich hier um eine unzumutbare Einschränkung der individuellen Freiheit handelt. Vielmehr stellt das merkwürdige Freiheitsverständnis, das hier oft ins Feld geführt wird, ein ernsthaftes politisches Problem nicht nur bei der Pandemiebekämpfung, sondern auch in vielen anderen Politikbereichen dar.

Die hier und da in den Medien und auch in der SPD aufkeimende Hoffnung, die FDP könne sich auf ihre »Freiburger Thesen« aus dem Jahr 1971 und damit auf einen »sozialen Liberalismus« im Sinn Karl-Hermann Flachs zurückbesinnen, scheint jedenfalls verfrüht zu sein. Und das könnte nicht nur bei der Pandemiebekämpfung, sondern auch bei den sozialpolitischen Vorhaben der Koalition, besonders bei der sozialen Abfederung des beabsichtigten ökologischen Umbaus, bei Fragen der Rüstungsausgaben und der Rüstungsexporte und bei der sich abzeichnenden Kontroverse um eine stärker »wertebasierte« Außen- und Flüchtlingspolitik große Probleme bereiten.

Man muss nicht unbedingt, wie es Hermann-Josef Große Kracht in seinem Buch Solidarität zuerst. Zur Neuentdeckung einer politischen Idee tut, auf die in Deutschland bisher kaum rezipierte Theorie des französischen Solidarisme von Alfred Fouillée und Léon Bourgeois zurückgreifen, um zu erkennen, dass es das selbstbestimmte und weitgehend autarke Individuum, um dessen Freiheit sich deutsche Liberale wie Wolfgang Kubicki nach wie vor so große Sorgen machen, gar nicht gibt. Die unter Liberalen immer noch beliebte Stilisierung des modernen Erfolgsmenschen zum Selfmademan gehört endgültig in die Mottenkiste.

Wir sind längst in nahezu allen Aspekten unseres Lebens von den materiellen und geistigen Beiträgen zahlloser Anderer, darunter Menschen aus fernen und fernsten Weltgegenden, abhängig, sodass Solidarität nicht mehr nur eine ethische Forderung, sondern eine schicksalhafte Verpflichtung ist, eine Verpflichtung, die weit über die Grenzen der Nationalstaaten und der Kontinente hinausgreift.

Am Umgang mit der Coronakrise erweist sich schon heute, ob der Vorrat an Gemeinsamkeiten in der Ampelkoalition ausreicht, um die von gefährlichen Spaltungen bedrohte Gesellschaft wieder zusammenzuführen. Die Bewältigung der Pandemie ist aber nur eine der großen Bewährungsproben, die die neue Koalition zu bestehen hat. Andere werden folgen, wenn die drei Parteien – hoffentlich mit vereinter Kraft – an die Verwirklichung der ambitionierten Ziele der Koalitionsvereinbarung gehen. Dabei wird der Erfolg der Regierung zweifellos weitgehend davon abhängen, ob es allen drei Parteien gelingt, der Versuchung zu widerstehen, sich auf Kosten der jeweils anderen durch Avancen an einen lautstarken Teil ihrer eigenen Klientel zu profilieren.

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