»Mann der Arbeit, aufgewacht! / Und erkenne deine Macht. / Alle Räder stehen still, / wenn dein starker Arm es will.« Dies ist die wohl berühmteste Strophe aus einem auch heute noch zündenden Gedicht, das zum Bundeslied des 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins avancierte. Der Dirigent Hans von Bülow hat es unter dem Pseudonym Wilhelm Solinger vertont, und Text und Melodie wurden bald so populär, dass Georg Herwegh, der die Verse auf Drängen seines Freundes Ferdinand Lassalle zur Gründung des Arbeitervereins geschrieben hatte, als ihr Autor kaum noch in Erinnerung war. Sie endeten mit dem flammenden Aufruf: »Brecht das Doppeljoch entzwei! / Brecht die Not der Sklaverei! / Brecht die Sklaverei der Not! / Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!«
Georg Herwegh (1817–1875), in Stuttgart als Sohn eines Gastwirts geboren, war zu Lebzeiten einer der bekanntesten Personen in Deutschland. Denn er war beides, ein Autor revolutionärer Verse und für eine kurze dramatische Episode seines Lebens auch selber Revolutionär. Dieser historischen Rolle wegen, aber auch aufgrund der bissigen Kritik, die Heinrich Heine an ihm übte, als er das »vage, unfruchtbare Pathos« seiner Tendenzgedichte tadelte, blieb Herweghs Bild in der deutschen Literatur- und Geschichtsschreibung lange eher negativ. Erst als in den 1970er Jahren der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann dazu aufforderte, die Deutschen möchten sich doch endlich ihrer demokratischen Traditionen erinnern, setzte auch gegenüber Herwegh eine Neubewertung ein. In der DDR hatte man sich schon früher und intensiver mit dem Dichter befasst, dessen Werk bald nach der Wende in einer sechsbändigen Ausgabe erschien, zusammengestellt und kommentiert von der im Osten Berlins lebenden Literaturwissenschaftlerin Ingrid Pepperle.
Seither sind einige Darstellungen von Leben und Werk Herweghs erschienen, die gewichtigste eine Biografie von Ulrich Enzensberger, 1999 in der »Anderen Bibliothek« publiziert. Sie hieß ihm Untertitel »Ein Heldenleben«, vermutlich um das dichterische Pathos, mit dem Herwegh auftrat, ironisch mit der realen Ärmlichkeit seines Lebens und den Fehlschlägen des Revolutionärs zu kontrastieren. Ulrich Enzensberger nannte Herwegh einen »zweitklassigen Dichter«, der die literarische Grabesstille, in der er heute ruht, »redlich verdient« habe. Seine Darstellung war von einer pauschalen Abwertung aber weit entfernt und ließ gegen Ende immer mehr Hochachtung und Respekt gegenüber einem Poeten erkennen, der seinen radikalen Idealen bis zum Schluss treu geblieben war.
Das gilt noch mehr für die Herwegh-Biografie, die der Publizist Stephan Reinhardt jetzt bei Wallstein vorgelegt hat. Sie versucht auf über 600 Seiten alle Facetten dieses bewegten und nicht selten stürmischen Lebens auszuleuchten. Herwegh war in der Zeit des Vormärz einer der großen Unruhestifter und maßgeblichen Wortführer des politischen Umsturzes, vergöttert von seinen Bewunderern, gefürchtet von seinen Gegnern, in manchen Kreisen verhasst. Schon als 20‑Jähriger musste er in die Schweiz flüchten, wo er einige Jahre später die Gedichte eines Lebendigen schrieb, die wegen ihres aufsässig-revolutionären Inhalts im deutschen Sprachraum ein Bestseller wurden. Eine Reise durch Deutschland im Jahr 1842, auf der er Württemberg, wo er als Deserteur steckbrieflich gesucht wurde, umgehen musste, geriet zu einem Triumphzug, der in einer Audienz beim preußischen König gipfelte. Friedrich Wilhelm IV. begrüßte ihn als »ehrlichen Feind«, ließ ihn gleichwohl bald darauf aus Preußen ausweisen.
Ein Wanderleben
Herweghs Verse waren weit verbreitet und außerordentlich populär. Etwa der Spott über Metternichs Zensur: »Kein Censor fällt der Wahrheit in die Zügel, / er hat nur Federn, doch die Wahrheit Flügel«. Oder seine Warnungen an die Adresse der »Tyrannen«: »Wir haben lang genug geliebt, und wollen endlich hassen.« Der Autor dieser aufrüttelnden Verse war nicht frei von der Gefahr, die deutsche Wirklichkeit aus dem Auge zu verlieren, was seinem in Paris lebenden Kollegen Heinrich Heine nicht entging: »Herwegh, du eiserne Lerche«, schrieb er aus seinem Pariser Exil: »Weil du so himmelhoch dich schwingst, / Hast du die Erde aus dem Gesichte / Verloren…« So wurde auch das Paulskirchenparlament im Sommer 1848 zur Zielscheibe von Herweghs Spott: »Im Parla – Parla – Parlament! / Das Reden nimmt kein End.« Ein Jahr später dichtete er in maßloser Enttäuschung über die missglückte Revolution und erschüttert über die Hinrichtung des revolutionären Dichters Robert Blum in Wien die Verse: »Die Völker kommen und läuten Sturm – / Erwache, mein Blum, erwache! / Vom Cölner Dome zum Stefansturm / Wird brausen die Rache, die Rache.«
Auf seiner Deutschlandreise lernte Herwegh in Berlin die Kaufmannstochter Emma Siegmund kennen, seine spätere Frau. Sie war, ungewöhnlich genug in ihrem Milieu, ebenfalls revolutionär gesinnt und ging mit ihm in ihren gemeinsamen, oft entbehrungsreichen Jahren durch dick und dünn, in Zürich und Paris, zuletzt in Baden-Baden. Die Ehe überstand zwei leidenschaftliche Affären Herweghs, die erste mit der Gräfin d’Agoult, vormals die Geliebte Franz Liszts, und mit der Frau des russischen Schriftstellers Alexander Herzen. Emma Herwegh hat ihren Mann um fast 30 Jahre überlebt.
Zunächst im Züricher Exil, dann vor allem in Paris, lernten Herweghs viele liberal, republikanisch, sozialistisch oder anarchistisch gesinnte Schriftsteller und Künstler kennen. Stephan Reinhardts Exkurse etwa zu Marx und Engels, zu Proudhon, Feuerbach, Stirner und Bakunin – Herwegh kannte sie alle und war mit ihnen befreundet –, sind ein lebendiger Anschauungsunterricht über die intellektuellen Zirkel, in denen die Herweghs verkehrten. Als heutiger Leser staunt man mitunter, wie viele geistreiche Köpfe, die in Deutschland verfolgt oder eingekerkert waren, nach geglückter Flucht in die Schweiz dort zu Ansehen und Würden gelangten.
Der Kritiker Preußens
Die bekannteste Episode in Herweghs Leben war sein tollkühner, aber auch dilettantischer Versuch, im Frühjahr 1848 nach Ausbruch der Revolution von Frankreich aus mit einer deutschen Legion den Aufständischen im benachbarten Baden zu Hilfe zu kommen. Das stümperhaft vorbereitete Unternehmen – immerhin waren 600 Mann zusammengekommen – brach bereits beim ersten Zusammenstoß mit württembergischem Militär am 24. April 1848 bei Dossenbach kläglich zusammen. Herwegh konnte im letzten Augenblick fliehen, in einer von seiner Frau gelenkten Kutsche, versteckt unter einer Plane aus Spritzleder. Das Spottwort Spritzleder haftete ihm bis an sein Lebensende an.
Danach versank der gescheiterte Revolutionär in jahrelange Apathie, aus der ihn auch seine Freundschaft mit Franz Liszt und Richard Wagner nicht befreite – die drei tranken im Juni 1853 bei einer Besteigung des Rütli Brüderschaft. Herwegh war es auch, der Wagner im September 1854 mit Schopenhauers Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung bekanntmachte und damit seinem Werk eine entscheidende Wende gab. Seine revolutionären Lebensgeister wurden erst wieder lebendig, als sich in Italien und Deutschland erneut die nationalen Einigungsbestrebungen regten. Aber nach Bismarcks Reichsgründung »von oben« und dem siegreichen Krieg gegen Frankreich 1870/1 schrieb er einen Epilog zum Krieg, der in die Verse mündete: »Schwarz, weiß und roth ! Um ein Panier / vereinigt stehen Süd und Norden; / Du bist im ruhmgekrönten Morden / das erste Land der Welt geworden: / Germania, mir graut vor dir!« Den schlimmsten Feind sah Herwegh im preußischen Militärstaat: »Gleich Kindern lasst ihr euch betrügen, / bis ihr zu spät erkennt, o weh! – / Die Wacht am Rhein wird nicht genügen, / der schlimmste Feind steht an der Spree.« Und auch die virulente soziale Frage – 1869 war die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands gegründet worden – ließ ihn nicht los, wie das bittere, an die Soldaten gerichtete Gedicht Die Arbeiter an ihre Brüder zeigt: »Ach, wenn sie euch nicht hätten, / wär alles wohlbestellt; / auf euern Bajonetten / ruht die verkehrte Welt.«
Am 7. April 1875 starb Georg Herwegh in Baden-Baden, 57 Jahre alt. Ein langer Trauerzug, darunter viele Liberale und sogar Honoratioren staatlicher Behörden, folgte dem Sarg. Seinem Wunsch gemäß wurde er im schweizerischen Liestal, in »freier republikanischer Erde« beigesetzt. Das Grabmal hatte ein Sohn Gottfried Sempers entworfen. Im Jahre 1904, als auch Emma Herwegh neben ihrem Mann beigesetzt wurde, ließen Arbeitervereine auf einem marmornen Denkmal die Inschrift anbringen: »Dem Freiheitssänger und Kämpfer in Dankbarkeit gewidmet von Männern der Arbeit, Freunden der Freiheit«.
Reinhardts Buch ist die gründlichste und in der Bewertung auch fairste Darstellung dieses umtriebigen, »von der Parteien Gunst und Hass« verfolgten Mannes. Hier ist ein radikaler Demokrat und großer Autor der Arbeiterbewegung wieder zu entdecken.
Stephan Reinhardt: Georg Herwegh. Eine Biographie. Seine Zeit – unsere Geschichte. Wallstein, Göttingen 2020, 636 S., 39,90 €. – Ulrich Enzensberger: Herwegh. Ein Heldenleben. Eichborn, Die Andere Bibliothek, Frankfurt/M. 1999, 400 S., vergriffen, antiquarisch erhältlich.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!