Nicht nur die Grundwerte der Sozialen Demokratie, gleiche Freiheit in Solidarität (= Gerechtigkeit), sondern auch das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland verlangen eine Gesellschaft, in der gleiche Lebenschancen und gleiche Teilhabemöglichkeiten für alle gewährleistet sind – oder doch zumindest konsequent angestrebt werden. Freiheit und Gleichheit als die beiden Maßstäbe der Gerechtigkeit setzen neben der Geltung von bürgerlichen und politischen Grundrechten, den Bedingungen der politischen Demokratie, gleichermaßen die Geltung sozialer und wirtschaftlicher Grundrechte voraus, die ein selbstbestimmtes Leben der sozialen Teilhabe für die meisten Menschen in der Alltagsrealität überhaupt erst möglich machen. Diesen Anspruch als universell geltendes Recht zu verbriefen, war der entscheidende Zivilisationsfortschritt des 20. Jahrhunderts, vor allem das Ergebnis des langen Kampfes der demokratischen Arbeiterbewegung
Die Bundesrepublik war auf dem Weg der Verwirklichung dieses Anspruchs schon mal ein paar Schritte weiter als heute, nämlich am Ende der drei direkt und indirekt sozialdemokratisch geprägten Nachkriegsjahrzehnte. Danach haben Globalisierung, digitale Revolution und eine teilweise von falschen Erwartungen geprägte sozialdemokratische »Reformpolitik« je auf ihre Weise die Uhr wieder ein Stück weit zurückgedreht. Die Ungleichheit ist heute in fast allen wichtigen Bereichen, keineswegs allein bei Einkommen und Vermögen, wieder deutlich größer als vor diesen Prozessen. Das ist kein Schönheitsfehler im Sinne von: »Dem Land geht es doch gut, was wollt ihr denn?«. Es ist vielmehr ein gravierendes Defizit, das in Wirklichkeit das Land im Mark trifft, denn es dementiert sein Legitimationsversprechen, und es dezimiert die realen Lebenschancen von mehreren Millionen Bürger/innen, darunter eine (eher weiterhin zunehmende) Millionenzahl von Kindern. Es versperrt ihnen viele, für ihre Freiheit bedeutende soziale Zugänge. Darüber hinaus verbreitet es Sorgen und Unsicherheit auch bei der gleichfalls großen Zahl von Menschen, die einen Abstieg in die soziale Armutszone befürchten. Im Ganzen weit mehr als eine kleine Minderheit
Verschärft wird dieses Dilemma dadurch, dass die Erfahrungen der Unsicherheit und der Exklusion im eigenen Land bei den meisten davon Betroffenen die Bereitschaft zur solidarischen Hilfe für die von Wohlstand und Sicherheit Ausgeschlossenen in den ärmeren Ländern sinken lässt, einer Hilfe, die in Wahrheit auch ihnen selber zugute käme, weil sie unter anderem auch die Ursachen für die Flucht von Millionen Menschen reduzieren würde. Häufig eher indirekt, nicht selten aber auch sehr direkt trägt eine allgemeine Atmosphäre von Ungerechtigkeit und Legitimationsschwäche der Gesellschaft zudem zur Entfremdung von der Demokratie und den sie stützenden Parteien bei, und schwächt damit empfindlich die Immunkräfte gegen populistische Verführung und extremistische Bedrohung
»Gerechtigkeit« im Sinne der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte, die auch die Bundesrepublik zweimal rechtskräftig unterschrieben hat (beim Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der UN von 1966 und beim Vertrag von Lissabon der EU von 2009), ist kein Plastikwort, das sich jeder je nach eigener Interessenlage zurechtbiegen kann. Sie ist vielmehr ein durch die genannten Grundrechte sehr präzise geschärftes Instrument, das auf Gleichheit zielt, nämlich die Gleichheit der formalen und realen Freiheitschancen einer und eines jeden Einzelnen. Damit allein lassen sich heute soziale und politische Ordnungen haltbar rechtfertigen und erst dadurch auch stabil und sicher machen
Die drei landläufigen Ausreden gegen eine Politik der Gleichheit in diesem Sinne, die in den letzten drei Jahrzehnten die Realität recht erfolgreich vernebeln konnten, ziehen mittlerweile nicht mehr, weil sie von der Realität und der öffentlichen Debatte widerlegt worden sind: Das erreichte Maß an sozialer Ungleichheit ist nicht durch tatsächliche Leistungen seiner Nutznießer bedingt; es dient nicht der Innovation und dem wirtschaftlichen Fortschritt und es ist nicht wegen der Globalisierungszwänge unabänderlich. Es ist kein Zufall, dass heute diejenigen Politikerinnen und Politiker viel Zustimmung erfahren, die offensiv politische Gestaltungsmöglichkeiten einfordern und einfache Lösungen propagieren. Donald Trump, Marine Le Pen oder Nigel Farage geben ein gewisses Gefühl der Gestaltbarkeit zurück und erscheinen dadurch attraktiv – auch wenn ihre vermeintlichen Lösungen in die Irre führen. Das Gefühl des Verlustes von Kontrolle über die Bedingungen des eigenen Lebens und die eigene Umwelt schließt die berufliche Situation, das Einkommen, die Wohnverhältnisse, lebensweltliche Umstände und das Risiko des sozialen Abstiegs ein. Die »politische Klasse«, die »Politik« scheinen die Sorgen der Gesellschaft nicht mehr wahrzunehmen
Der seit dem Ende der goldenen Jahre der Sozialdemokratie (50er bis 70er Jahre) bestehende Widerspruch zwischen dem Projekt der Sozialen Demokratie, das auf die Umgestaltung der Gesellschaft in Richtung Chancengleichheit und Nachhaltigkeit zielt, und dem Verlust des Vertrauens in die Sozialdemokratie, dafür auch konsequent einzustehen, verliert nun endlich an Kraft. Es wird wieder sichtbar und öffentlich diskutiert, was konkret geschehen muss, um das sozialdemokratische Gleichheitsversprechen Realpolitik werden zu lassen und die Sozialdemokratie schärft ihre historische Identität als Partei der sozialen Gerechtigkeit. Das 21. Jahrhundert muss also nicht, wie viele prophezeit haben, zum Jahrhundert der Ungleichheit und der Unsicherheit werden. Entschiedene Politik kann das Blatt durch energisches Gegensteuern wenden. Die große Richtung und die nächsten Schritte einer solchen Politik lassen sich klar benennen
Der jüngste Anstieg der Ungleichheit in den Industrieländern geht im Kern auf die politische Entwertung und Entgrenzung der Arbeit zurück. Europaweit führten die Deregulierung der Arbeitsmärkte und der Umbau der sozialen Sicherungssysteme zu einem starken Zuwachs prekärer Jobs. Mehr als die Hälfte des Jobwachstums zwischen 1995 und 2007 beruhte auf Zeitarbeitsplätzen, Teilzeitjobs, geringfügigen und befristeten Beschäftigungsverhältnissen, Werkverträgen und Soloselbstständigkeit. Das Lohnniveau entgrenzter Arbeit, die auch in die Freizeit hineinragt, liegt deutlich unter der Entlohnung regulärer Beschäftigung. Die Erosion regulärer Arbeitsverhältnisse unterhöhlte das Tarifsystem und schwächte die Gewerkschaften
Eine an der Wurzel des Übels ansetzende Gleichheitspolitik, die auch die globale Solidarität (weitgehend durchaus auch im eigenen Interesse) nicht verdrängt, hat fünf miteinander verbundene Ansatzpunkte, in denen sich langfristige Perspektive und kurzfristiges Handeln verbinden können:
Strategie für mehr Gleichheit der primären Einkommensverteilung: Für eine durchgreifende Überwindung des erreichten Maßes an Ungleichheit kommt es zunächst auf die wirkungsvolle Veränderung der Primärverteilung der Einkommen an. Die Voraussetzung dafür ist eine Neuordnung des Arbeitsmarktes. Die Tarifsysteme müssen gestärkt, Mindestlöhne – dort, wo es sie gibt – erhöht, prekäre Jobs durch reguläre Beschäftigung ersetzt sowie der Erwerbsarbeitszwang abgeschwächt werden. Im Bereich der Crowd- und Clickworker müssen neue Strategien zur gewerkschaftlichen Organisation entwickelt werden, Plattformanbieter müssen als Arbeitgeber begriffen werden und sich entsprechend ihrer Verantwortung den Arbeitnehmern gegenüber verhalten
Strategie für gesellschaftliche Sockelgleichheit: Die Leistungen eines auf den sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten beruhenden Sozialstaats mit seinen Versicherungsleistungen und allgemein zugänglichen öffentlichen Gütern schaffen bei einer Inklusion sichernden Ausstattung ein relativ hohes Maß an Gleichheit der gesellschaftlichen Chancen zu einem selbstbestimmten Leben für jeden Einzelnen. Dazu gehören insbesondere der freie Schul- und Vorschulbesuch und die chancengleiche Organisation der Schulen, Mindestlöhne und angemessenes Einkommen, eine soziale Einkommensgarantie, wenn bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit kein angemessenes Erwerbseinkommen erzielt werden kann; auskömmliche, armutsfeste Renten; garantierte chancengleiche Gesundheitsversorgung; wenn nötig Hilfen bei der Finanzierung eines angemessenen Wohnraums
Ein hohes Maß an gesellschaftlicher Sockelgleichheit für alle durch einen universellen und Inklusion sichernden Sozialstaat, der möglichst weitgehend durch Steuern finanziert wird, ist ein besonders wirksamer Teil umverteilender Gleichheitspolitik, weil er Armut verhindert und die Lebenschancen erhöht
Strategie für gerechtere Steuerpolitik: Neben der gerechteren Primärverteilung ist eine auf die deutliche Verringerung der bestehenden Ungleichheit der Einkommen und Vermögen gerichtete Steuerpolitik eines der wirksamsten Instrumente. Dazu gehören in erster Linie die höhere Besteuerung der hohen und Spitzeneinkommen sowie die Besteuerung der großen Vermögen. Sie muss vor allem auch die wirksame Besteuerung größerer Erbschaften umfassen, bei denen es sich ja um eine gänzlich unverdiente Art des individuellen Einkommens handelt, die große Ungleichheiten von Generation zu Generation verfestigt und vermehrt. Solange das Bildungssystem die Chancengleichheit nicht durchgreifend gewährleistet und der gesellschaftliche Aufstieg weitgehend blockiert bleibt, verdoppelt und verfestigt sie die bestehenden Ungleichheiten auf unerträgliche Weise, denn sie ermöglicht den Sprösslingen der reichen Familien zunächst einen privilegierten Start im Bildungssystem und wirft ihnen später auch noch einen ganz unverdienten Reichtum in den Schoß
Strategie zur Begrenzung der Managereinkommen: Rasch zu regeln ist die Begrenzung der Spitzeneinkommen der Topmanager in den großen Aktiengesellschaften, vor allem im Industrie- und Bankenbereich. Dazu gehören eine Grenze für steuerlich absetzungsfähiges Maximaleinkommen sowie die Festlegung einer zulässigen Maximalrelation zwischen dem Durchschnittseinkommen der Belegschaft eines Unternehmens und den Spitzeneinkommen; gleiches gilt für die Altersversorgung
Strategie für globale Gerechtigkeit: Die wirksamste Politik für einen Abbau der globalen Ungleichheit, die vor allem auch den Armen und Ärmsten in den Ländern des Südens zugutekommt, ergibt sich aus der Verbindung einer globalen Strategie zur Durchsetzung der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte in allen Ländern der Welt unter aktiver und großzügiger Mithilfe der reichen Länder, mit einer fairen Welthandelspolitik. Sie kann eine dem Entwicklungsniveau der einzelnen Länder dynamisch angepasste Sockelgleichheit schaffen, die gleichermaßen echte Garantien für ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben aller schafft und die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung jedes Landes erheblich verbessert
Die Soziale Demokratie des 21. Jahrhunderts bedarf einer langfristig und global angelegten Politik zum wirksamen Abbau der bestehenden Ungleichheiten. Die ersten (und vielleicht auch bereits die zweiten) Schritte in diese Richtung sollten schon im nächsten Regierungsprogramm stehen
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