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© picture alliance/dpa | Sebastian Kahnert

Gedanken zum neuen Roman von Juli Zeh und Simon Urban Fremde Welten

Eigentlich sind wir hierzulande, nach repräsentativen Umfragen meinen das jedenfalls über zwei Drittel der Befragten, vergleichsweise ziemlich gut integriert, demokratie- und kompromissfähig, offen und tolerant. Ein kultureller Riss wie zwischen Republikanern und Demokraten in den USA geht nicht durch’s Land, erbitterte Klassenkämpfe um soziale Bürgerrechte wie in Frankreich, fundamentalistische Religionsschismen wie in Nordirland, Kämpfe zwischen ethnischen Minderheiten und territoriale Bürgerkriege wie in manchen ehemaligen Sowjetrepubliken und Ostblockländern – das alles kennen wir in Deutschland nicht. Woanders sind sich Welten fremder, sind Spaltungen tiefer und Konfrontationen erbitterter.

Andererseits gibt es zunehmend Hinweise, dass in unserer Zeit multipler Krisen, dramatischer Veränderungen, dystopischer Prognosen und kultureller Vielfalt der pluralistische Zusammenhalt gefährdet ist. Immerhin stimmten 28 Prozent der West- und 45 Prozent der Ostdeutschen der Aussage zu, in einer Scheindemokratie zu leben (Allensbach 2022). Die AfD ist in der Sonntagsfrage schon wieder bei 16 Prozent und die repräsentativen Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigten, dass die politische Mitte für rechtsradikale und demokratiegefährdende Einstellungen höchst anfällig sei.

Andernorts wurden an den Rändern bei Fragen von Globalisierung, Migration oder Klimapolitik bis zu jeweils zehn Prozent fundamentalistische Verhärtungen konstatiert. Immer aufgeregter bestimmen politische und kulturelle Klüfte die öffentlichen Debatten: Stadt-Land-Konflikt, Ost-West-Friktionen, Kosmopoliten gegen Kommunitaristen, Klimaaktivisten gegen Klimawandelleugner, Impffreunde gegen Covidioten, Bellizisten gegen Friedensschwurbler, soziale und Klassenfragen gegen gruppenbezogene Identitätspolitik, liberales Larifarie gegen Querdenker und so weiter.

Moralische Empörung allerorten, die feindliche Aufladung gegensätzlicher Positionen, gar ein Kulturkampfklima in mancher Institution und Redaktion scheint zu einem besonderen Signum unserer Zeit geworden zu sein. Zudem besonders verstärkt durch digitale Stammtische, durch kommunikative Blasen, durch Fake News, Hatespeech und Shitstorms, neuerdings auch angetrieben durch Bots, Algorithmen, Avatare und andere Künstliche Intelligenz.

Um sich diesem kulturellen Mischmasch zu nähern, bei denen sich Gräben auftun bis hin zur Rede von der gespaltenen Nation, kann literarisch-ästhetische Fantasie hilfreich sein. So erschien Anfang 2023 der Gesellschaftsroman Zwischen Welten von Juli Zeh und Simon Urban. Die Autoren bieten ein vielschichtiges Potpourri davon, wie Lebenssituationen und unterschiedliche Lebensentwürfe auseinanderdriften, wie kulturelle Gegensätze entzweien, wie schwierige Verhältnisse zu Demokratiedistanz führen, wie gnadenlose Identitätsgruppen Karrieren canceln und Menschen zerstören, wie populistische Abwendung entsteht, von der man nicht mehr so recht weiß, wieweit sie noch esoterisch oder schon in der rechten Ecke gelandet ist. Dabei machen die Autoren einfaches Schwarz-Weiß-Denken nicht mit und schlagen sich nicht gänzlich auf eine Seite. Sie legen, streckenweise durchaus mit satirischer Note, den vielschichtigen Austausch eher als Warnung an, dass »die Gesellschaft dabei ist, durchzudrehen« (Theresa).

Die einst engen WG-Freunde Stefan und Theresa, die sich aus literaturwissenschaftlichen Studienzeiten kennen, treffen sich nach Jahren im Internet wieder und beginnen über Textnachrichten und Messengerdienste miteinander zu kommunizieren. Theresa, die mittlerweile eine einstigeLPG als Biobetrieb fortführt, steht gewissermaßen für das hart arbeitende, kulturell abgehängte und prekär lebende bäuerliche Landvolk Ostdeutschlands. Stefan hingegen, mit akademischer Großstadtkarriere, muss sich mitten in einer Hamburger Chefredaktion mit der Zerstörung von Qualitätsjournalismus und Neutralität durch den Aktivierungsjournalismus aus der jüngeren Generation herumschlagen.

Es tun sich Gräben auf

Beide pflegen einen freundschaftlichen wie spannungsreichen Austausch, in dem von Medienkritik über die Klimakatastrophe bis zum russischen Angriffskrieg so ziemlich alle Gegenwartsprobleme auf den Tisch kommen – bis die Beziehung an der zu tiefen Kluft der auseinanderfallenden Erfahrungswelten scheitert. Unsere Akademiker-Bäuerin radikalisiert sich und taucht in einer klandestinen Protestgruppe ab und unser Journalist kann seine Karriere nur durch opportunistische Anpassung an den angeblich erleuchteten Zeitgeist fortsetzen: von der wiederum ausgrenzend wirkenden Critical Race Theory über die Stigmatisierung aller AfD-Anfälligen als rechtsextrem bis zur verordneten Gendersprache (die führende Wochenzeitschrift DER BOTE wird schließlich zur BOT*IN) wird auch da kein Problem ausgelassen.

In den Dialogen des digitalen Briefromans dürften sich viele (der wochenlange erste Platz auf der Spiegel-Bestsellerliste belegt es) wiederfinden: Wer hat nicht schon mal durch ein falsches Wort Probleme bekommen? Wen nervt nicht der »immer drastischere Moralkult« junger Menschen, »die keine Ahnung davon haben, wie kompliziert die Welt ist« (Stefan)? Wer ahnt nicht, wie das eigene Selbstwertgefühl schwinden würde, fügte man sich, entgegen seiner Ideale von Vernunft und Aufklärung, dem Druck und der moralischen Allmacht hochemotionalisierter Aktivistinnen? Denn »wenn man aus mittlerer Distanz beobachtet, wie alle das Richtige und Beste für die gemeinsame Zukunft wollen und sich dabei immer mehr hassen, ständig empört, verletzt und beleidigt sind – dann kann mit dem Wollen etwas nicht stimmen« (St.).

Wer versteht es nicht, dass das Gefühl, von den Regierenden und dem Staat alleingelassen zu werden, in Wut und Hass umschlagen kann? Und man wundert sich, wenn plötzlich das bessere Argument, der Respekt vor Personen und die Freiheit des Wissens nichts mehr zählen sollen – oder in den landwirtschaftlichen Worten Theresas: »Wer mit Kühen arbeitet, weiß, was es bedeutet, wenn die Herde durchgeht«.

Aus dem, was einst schlicht unterschiedliche Lebensentwürfe waren, sind in der zeitgenössischen Debatte, die Theresa und Stefan gewissermaßen für uns alle nachstellen, gegensätzliche Haltungen geworden: Klimapolitik, Gendersprache, Rassismus, Klassenfragen, digitale Abschottung, Waffen an die Ukraine. Das Ende des Romans ist trübe: In der großstädtischen Medienblase siegen junge woke Linke, die sich lieber dem Furor identitären Cancelns hingeben als sich mit den sozialen Problemen der Vielen zu beschäftigen. Nur noch durch Unterwerfung scheint für Ältere berufliches Überleben in meinungsführenden Institutionen möglich. Hingegen eskaliert im ländlich-agrarischen Raum der tägliche Existenzkampf. Der Leser wurde schon früh aufgeschreckt durch die Formulierung: »Christian ist der feinste Mensch, den ich kenne, AfD-Wähler, übrigens«. (Th.) Das Drama mündet in verzweifelter Absage an das System, dessen »Vernichtungspolitik« (Th.) einen im Stich lässt, irgendwo in der Grauzone von Populismus, Extremismus und Esoterik. Zusammen kommen die beiden Welten in dieser »Art schriftlicher Konfrontationstherapie« (Denis Scheck) am Ende jedenfalls nicht mehr.

Das Buch zeigt, wie dramatisch sich die ganzen »zeitgeistigen Konflikte, die überall brodeln« (St.), zugespitzt haben. Es ist im Grunde eine Art Lehrstück im Sinne von Bert Brecht. »Demokratische Politik ist eine Bühne, auf der wir den Kämpfen zuschauen können, statt sie selbst auszufechten. Jetzt sehen wir, was passiert, wenn das Vertrauen in die Politik schwindet und Nichtgewählte versuchen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen: Eine durchmoralisierte, hasserfüllte, zutiefst zerstrittene Gesellschaft entsteht. Statt konstruktiven Kompromissen blüht erbarmungsloser Vernichtungswillen«. (St.)

Verbindender Diskurs gesucht

Damit wäre ein verbindender Diskurs des gegenseitigen Lernens im habermasschen Sinne endgültig illusionär: »Wenn öffentliche Kommunikation der Treibstoff der Polarisierung ist, wird man die fortschreitende Polarisierung nicht mit öffentlicher Kommunikation stoppen können« (St.). So ist die Botschaft des Romans ziemlich kulturpessimistisch: »Du glaubst, dich durch Selbstverleugnung und Anbiederung beim Zeitgeist auf der moralisch richtigen Seite einkaufen zu können. Aber das ist ein Irrtum. Am Ende werden dich deine supermoralischen Freunde kannibalisieren.« (Th.)

Doch es muss nicht ganz so kommen, hier ist nach anregender Lektüre weiterzufragen. Wie können wir verhindern, dass die kulturelle und politische Polarisierung zunimmt, die Demokratie an Respekt verliert, wenn sich zu viele von ihr nicht mehr mitgenommen fühlen? Wie sind individuelle Freiheit und Gruppenidentität besser zu balancieren? Wie kann die Singularität des Einzelnen mit Verantwortung, Solidarität und Gemeinwohl verbunden werden, was doch heißen muss, sich selbst weniger absolut zu setzen?

Gerade in dieser Unübersichtlichkeit von Vielfalt und Ausdifferenzierung ist es eine, allerdings schwieriger gewordene, Aufgabe der Politik milieuübergreifende Brücken zu mehr Verständigung zu bauen. Besonders zwischen den zahlreicher Gewordenen, die sich kulturell unterlegen und nicht mehr repräsentiert fühlen (und tatsächlich meist wirtschaftlich unterlegen sind) auf der einen Seite. Die mit ihren traditionellen Berufen und Lebensmodellen vor allem Schutz und Sicherheit in Heimat und nationalem Staat suchen. Die, provinziell verwurzelt, in einer an Gewohnheiten orientierten sozialen Kultur leben, mit skeptischem Blick auf identitäre Selbstbezogenheit, auf Überforderungen durch Migration und sozial unausgewogenen Umweltschutz – und die am Monatsende kaum mehr über die Runden kommen.

Auf der anderen Seite jenen besser gebildeten sozialen Milieus der Metropolen, die beruflich und lebensweltlich von Globalisierung, Digitalisierung und ökologischer Transformation profitieren, die polyglott, mobil, modern und selbstbewusst sind und voller Toleranz für kulturelle Diversität und offene Grenzen eintreten. Und die nicht ohne manche Arroganz den öffentlichen und medialen Diskurs bestimmen.

Es gilt mittlerweile dieser doppelten Polarisierung entgegenzuwirken. Neben die klassische Arm-Reich-Spaltung des Kapitalismus traten eben neue soziokulturelle Konfliktlinien, die – allerdings durchaus mit der sozialen Frage verwoben – mitten durch potenzielle Wählermilieus der linken Mitte hindurchgehen. Gemeinschaft stellt sich nicht mehr von allein her, sondern muss in einer Gesellschaft der Vielfalt zum Ziel demokratischer Politik, kultureller Anstrengungen und kommunikativer Absichten werden.

Die Anerkennung des Anderen, das Zuhören und Ernstnehmen, sowie Diskussionsoffenheit müssen mehr denn je eingeübt werden. Wo das Gespräch abgebrochen wird, sind Demokraten gefragt gegenzuhalten. Das gilt aufseiten der Rechten bei demokratiefeindlichen und nationalautoritären Weltbildern. Doch auch wo emanzipatorische Motive, etwa durch die Interpretation postmoderner Theorien von Michel Foucault bis Judith Butler, in sprachpolitischer Verweigerung münden, ist Kritik und Selbstkritik nötig.

Vielleicht könnte gerade daraus ein neues großes Narrativ der Sozialdemokratie entstehen, das beides, soziale Gerechtigkeit und Emanzipation, wieder miteinander verbindet. Denn die SPD stand immer für Weltoffenheit, internationale Solidarität, kulturellen Fortschritt und gegenseitigen Respekt. Könnte sie so nicht aufgrund ihrer Geschichte, ihrer Zielgruppen und ihres Selbstverständnisses glaubhaft die Verständigungsbereiten beider Seiten ins Gespräch bringen – und das von Willy Brandt einst beschriebene Bündnis zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse auf der Höhe der Zeit reformulieren?

Notwendig wäre dies, denn wie Juli Zeh und Simon Urban in ihrem Roman, macht sich eine große Mehrheit im Land wachsende Sorgen, dass wichtige gesellschaftliche Gruppen immer weiter auseinanderdriften, bis der Faden womöglich reißt.

Juli Zeh/Simon Urban: Zwischen Welten. Luchterhand, München 2023, 444 S., 24 €.

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